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|ak 692 | Wirtschaft & Soziales

Mehr Konflikt wagen

Der Trend zu einer neuen Arbeitskampf­kultur ist unverkennbar – ein unvollständiger Überblick über die Streiks der letzten Monate

Von Jörn Boewe

Menschenmenge mit verdi-Fahnen auf dem Hamburger Rathausmarkt
In der Tarifrunde öffentlicher Dienst mobilisierte ver.di mit innovativen Methoden viele Kolleg*innen, wie hier auf dem Hamburger Rathausmarkt am 23. März. Foto: ak

Allein bis Ostern 50.000 neue Mitglieder für ver.di: Die Zahl steht als Marker dafür, dass die Tarifauseinandersetzungen der letzten Monate tatsächlich ein neues Momentum in die deutsche Gewerkschaftsbewegung gebracht haben. Ob man gleich von einer »Zeitenwende« sprechen muss, wie der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, ist Geschmackssache. Womit Fratzscher recht hat: Die Kräfteverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt haben sich ungefähr seit der Corona-Krise zugunsten der Beschäftigten verschoben. Und denen ist ihre gewachsene Marktmacht sehr bewusst, sie machen davon Gebrauch – nicht nur, aber auch indem sie sich gewerkschaftlich organisieren und streiken. Angesichts der im vergangenen Jahr rasant gestiegenen Lebenshaltungskosten liegt das ja auch nahe.

Vor diesem Hintergrund trafen in den ersten Monaten dieses Jahres mehrere große und ein paar kleinere Tarifbewegungen zusammen. Einige Tarifrunden sind abgeschlossen, andere dauern an. Die größte und bedeutendste ist die seit Jahreswechsel rollende Auseinandersetzung im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen. 10,5 Prozent mehr Lohn, mindestens aber 500 Euro mehr im Monat; 200 Euro mehr und eine unbefristete Übernahmegarantie für Azubis bei einer Laufzeit von zwölf Monaten – das hatte die ver.di-Bundestarifkommission im Oktober beschlossen. Es geht um 2,5 Millionen Tarifbeschäftigte beim Bund, in Städten und Gemeinden.

Dass die Forderung so ambitioniert ausfiel, lag vor allem daran, dass ver.di eine breit angelegte Mitgliederbefragung zur Forderungshöhe organisiert hatte. Und die lief über den Sommer und Herbst, unter dem Schock einer galoppierenden Inflation, wie man sie in Deutschland lange nicht erlebt hatte. Die Befragung diente aber nicht nur der Forderungsfindung, sondern auch der Mobilisierung und Organisierung. An die 335.000 Beschäftigte erklärten laut ver.di in lokalen und betrieblichen »Stärketests«, dass sie die Forderungen unterstützen und auch bereit seien, dafür in den Streik zu treten.

Arbeitgeber*innen-Angebot: zu wenig

Tatsächlich kam es dann ab Januar zu massiven Warnstreiks, im Vorfeld und parallel zu den drei Verhandlungsrunden in den ersten drei Monaten des Jahres. Mehr als eine halbe Million Kolleg*innen beteiligten sich bundesweit nach Angaben der Gewerkschaft.

Ein Kompromiss kam nicht zustande. Die Arbeitgeber*innen legten zwei Angebote vor: Das letzte, verbesserte Angebot von Ende März sah einen Mindestbetrag von monatlich 300 Euro und eine Laufzeit von 24 Monaten vor. Dazu sollte eine Inflationsausgleichsprämie von 3.000 Euro, zahlbar in zwei Teilbeträgen sowie eine nicht bezifferte prozentuale Erhöhung kommen. Aus ver.di-Sicht hätte das Angebot insbesondere für die unteren und mittleren Entgeltgruppen die Kaufkraft nicht gesichert. Folgerichtig erklärte die Gewerkschaft die Verhandlungen für gescheitert, und die Arbeitgeber*innen riefen die Schlichtung an. Die ist nach einer 2011 geschlossenen Schlichtungsvereinbarung verpflichtend, wenn eine Tarifpartei sie verlangt. Während der Schlichtung gilt Friedenspflicht.

Ein spektakuläres Novum war der gemeinsame »Mega-Streik« von ver.di und EVG.

Bis Mitte April wollte die Kommission unter Vorsitz der beiden Schlichter Georg Milbradt und Hans-Henning Lühr einen Vorschlag erarbeiten. Nach der für den 18. April angesetzten Verhandlungsrunde will ver.di eine Mitgliederbefragung zum Verhandlungsergebnis einleiten. Bei einem Scheitern der Schlichtung käme es zur Urabstimmung über unbefristete Streiks.

Ein Knackpunkt dürfte die für ver.di sehr wichtige Forderung nach einem Sockelbetrag für die unteren Einkommensgruppen werden. Die von ver.di geforderten 500 Euro würden viele Kommunen finanziell in die Knie zwingen, hieß es von Arbeitgeberseite. Die von Bund und Kommunen angebotenen 300 Euro kann wiederum ver.di nicht akzeptieren, ohne eine massive Austrittswelle zu riskieren.

Neue Strategien

Neben der aktivierenden Befragung im Vorfeld zeichnete sich die Tarifrunde durch weitere innovative Elemente aus, wie etwa das Instrument der »Arbeitsstreiks«, bei denen nur ein zahlenmäßig kleiner, aber betrieblich aktiver Kreis von Mitgliedern zur Arbeitsniederlegung aufgerufen wird, während ansonsten der Betrieb normal weiterläuft. Die streikenden Aktiven nutzen die Zeit, um Informationen im Betrieb zu verbreiten, Gespräche mit Kolleg*innen zu führen und die nächsten Warnstreiks vorzubereiten. Ein spektakuläres Novum war auch der gemeinsame »Mega-Streik« von ver.di und Eisenbahnverkehrsgewerkschaft (EVG) zur dritten Verhandlungsrunde Ende März.

Die EVG hatte in den vergangenen Jahren eher selten durch Streiks von sich reden gemacht – anders als die kleine Konkurrenz des bei der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) organisierten Fahrpersonals. Ob sich das in der aktuellen Bahntarifrunde ändert, wird man sehen. Insgesamt geht es um rund 230.000 Beschäftigte bei der DB AG und 50 weiteren Eisenbahnunternehmen.

Die ersten Verhandlungen fanden Ende Februar statt, Ende April ist die zweite Runde geplant. Forderungen und Angebot liegen noch weit auseinander. Die Gewerkschaft will 12,0 Prozent, mindestens aber 650 Euro monatlich bei einer Laufzeit von zwölf Monaten. Ein erstes Angebot der Bahn von Mitte März sieht einen »rechnerischen Bahnmindestlohn« von 13 Euro pro Stunde ab August 2024 vor, eine Steigerung der Löhne um insgesamt 5,0 Prozent sowie Einmalzahlungen von insgesamt 2.500 Euro bei einer Laufzeit von 27 Monaten. Außerdem will der Bahnvorstand die Beschäftigten länger arbeiten lassen und die bisherige Möglichkeit abschaffen, zwischen mehr Geld, Urlaub oder einer Arbeitszeitverkürzung zu wählen. Die EVG lehnt das ab. Bis zum 24. April hat die Bahn nun Zeit, ein neues Angebot vorzulegen.

Abgeschlossen ist inzwischen die mit Spannung verfolgte Tarifrunde für die rund 160.000 Tarifbeschäftigten bei der Deutschen Post. Hier hatte die Tarifkommission im November eine Lohnerhöhung von 15 Prozent gefordert, dazu eine Erhöhung der Ausbildungsvergütungen und der Entgelte der Studierenden um 200 Euro monatlich, alles bei einer Laufzeit von zwölf Monaten. Nachdem zwei Verhandlungsrunden im Januar keine Annäherung brachten, rief ver.di zu Warnstreiks auf. Bis zur dritten Verhandlungsrunde im Februar beteiligten sich etwa 100.000 Beschäftigte an den Aktionen. Darauf legte die Post ein erstes Angebot vor: eine steuerfreie Inflationsausgleichs-Sonderzahlung von 150 Euro für das laufende und 100 Euro für das nächste Jahr, eine Monatslohnerhöhung um 150 Euro zum 1. Januar 2024 sowie eine weitere um 190 Euro zum 1. Dezember 2024, bei einer Laufzeit von 24 Monaten. ver.di lehnte das Angebot ab und erklärte die Verhandlungen für gescheitert. Bei der anschließend eingeleiteten Urabstimmung über einen unbefristeten Erzwingungsstreik stimmten 85,9 Prozent der Mitglieder für Arbeitskampfmaßnahmen.

Kurz darauf einigten sich ver.di und Post am 10. und 11. März in der 4. Verhandlungsrunde auf ein Ergebnis. Für den Zeitraum Januar bis April gibt es eine Einmalzahlung von 1.020 Euro. Von Mai 2023 bis März 2024 zahlt die Post eine weitere Inflationsausgleichszahlung von 180 Euro monatlich. Eine Tabellenerhöhung gibt es erst zum April 2024 und zwar um den Festbetrag von 340 Euro im Monat. Neu ist auch, dass Beschäftigte bereits nach 30 Tagen Tätigkeit einen Anspruch auf Weihnachtsgeld bekommen. Der Tarifvertrag läuft über 24 Monate bis zum 31. Dezember 2024.

Kritisch gesehen wurde vielfach, dass Teilzeitbeschäftigte die Inflationsausgleichprämien nur anteilig entsprechend ihrer vertraglichen Regelarbeitszeit erhalten sollen. Hier und da mobilisierten linke gewerkschaftliche Strukturen für eine Ablehnung des Kompromisses und Fortsetzung der Auseinandersetzung, ohne dabei groß Gelände zu gewinnen. In einer zweiten Urabstimmung votierten 61,7 Prozent für die Annahme des Ergebnisses. Mit der Zustimmung der Tarifkommission am 31. März trat der Tarifvertrag in Kraft.

Zwei Dinge fallen bei der Post-Tarifrunde ins Auge: Innovative und partizipative Methoden wie sie ver.di seit geraumer Zeit im Gesundheitswesen und inzwischen auch in der laufenden Tarifrunde im öffentlichen Dienst anwendet – etwa die oben erwähnten Stärketests und Arbeitsstreiks – fanden bei der Post nicht statt. Dazu passt auch, dass es zum Ergebnis keine Befragung der Mitglieder gab, sondern sofort eine zweite Urabstimmung. Andererseits war die Bereitschaft der Beschäftigten, sich auf einen womöglich langen Erzwingungsstreik mit ungewissem Ausgang einzulassen, offensichtlich nicht so ausgeprägt, wie sich das manche linke Gruppen bei ver.di wünschen. Verwunderlich ist das aber nicht: Vielen Paketzusteller*innen ist der mehrwöchige Post-Streik von 2015 noch in Erinnerung, der nicht wenige der Beteiligten in finanzielle Schwierigkeiten brachte. Niedriglohnsektor bedeutet eben auch: niedriges Streikgeld. Wer ohnehin mit seinem Haushaltseinkommen am Limit wirtschaftet, wird sich gut überlegen, ob sich ein längerer Streik lohnt.

Aufbruch statt Bruch

Angelaufen ist im März die Tarifrunde des Kfz-Handwerks, in verschiedenen regionalen Tarifgebieten. Hier geht es um rund 434.000 Beschäftigte. Die IG Metall fordert 8,5 Prozent mehr Lohn bei einer Laufzeit von zwölf Monaten sowie eine überproportionale Anhebung der Azubi-Entgelte. Die Branche umfasst freie wie auch herstellergebundene Werkstätten und Autohäuser, gilt als extrem transformationsgefährdet und strukturell schwer organisierbar. Dass man im Kfz-Handwerk trotzdem kraftvolle und erfolgreiche Arbeitskämpfe führen kann, haben allerdings regionale Gliederungen der IG Metall 2017 in Hessen und 2021 in Baden-Württemberg bewiesen.

Das Erfolgsrezept bestand bei beiden Runden in einem kampagnenförmigen, konfliktfreudigen und aktivierenden Herangehen. Ob die IG Metall in der Lage ist, diese Erfahrungen bundesweit aufzugreifen und umzusetzen, wird spannend. Die Verhandlungen starteten ab Mitte März für die Tarifgebiete Niedersachsen, Ost, Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und Hessen, ohne dass die Arbeitgeber irgendetwas vorlegten.

In Baden-Württemberg machten sie ein erstes Angebot: Drei Nullmonate, dann zwei Erhöhungen um jeweils 3,0 Prozent zum 1. Juli 2023 und 2024, bei einer Laufzeit von 24 Monaten. Das Gleiche boten sie kurz darauf in Bayern an. Die IG Metall wies das Angebot als völlig unzureichend zurück. Mit Ende der Friedenspflicht am 31. März starteten in verschiedenen Regionen die ersten Warnstreiks.

Die Frühjahrsstreiks 2023 stellen zwar noch keinen Bruch mit dem üblichen Austragungsmodus industrieller Beziehungen in der Bundesrepublik dar, offensichtlich ist aber, dass sich neue Trends etabliert haben – eine offensivere und konfliktfreudigere Attitüde quer durch die Gewerkschaftslandschaft, ein wachsender Einfluss von Gewerkschaftssekretär*innen, die systematisch in Organizing-Methoden ausgebildet sind und diese souverän und selbstverständlich einsetzen und, last but not least, die Kombination aus verbreitetem Unbehagen bei gleichzeitig wachsendem Selbstbewusstsein innerhalb der arbeitenden Klasse. Wohin das alles führen mag, wird entscheidend davon abhängen, wie sich die wirtschaftliche und weltpolitische Situation in den nächsten Monaten und Jahren entwickelt.

Jörn Boewe

betreibt das Journalistenbüro work in progress, das sich auf Gewerkschaftsthemen spezialisiert hat.

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