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Sie wollen nicht und klagen

Die Kommunen beanstanden in den Medien, dass sie bei der Unterbringung von Geflüchteten überfordert seien – doch sind sie das?

Von Paul Michel

Ein mittelalterlicher Marktpplatz mit einer Kurche und einigen alten Häusern und einem Café
»Es werden derzeit nur die gehört, die klagen. Ich kenne viele Kollegen, die wie wir nicht in einer Überforderungssituation stecken«, sagt Stephan Neher, CDU-Bürgermeister von Rottenburg am Neckar. Foto: Dierk Schäfer / Flickr, CC BY 2.0 DEED

In den letzten Wochen und Monaten fanden die Medien fast jeden Tag ein*e Bürgermeister*in, die*der verkündete, dass seine*ihre Gemeinde bei der Unterbringung von Geflüchteten am Rande der Möglichkeiten stehe. Dabei wurde die angebliche Dramatik der Lage oft übertrieben.

Einer, der hier aus der Reihe tanzt, ist Stephan Neher, Oberbürgermeister der konservativen Bischofsstadt Rottenburg am Neckar. Der CDU-Politiker sagte der Stuttgarter Zeitung (30.10.2023): »Es werden derzeit nur die gehört, die klagen. Ich kenne viele Kollegen, die wie wir in Rottenburg nicht in einer Überforderungssituation stecken.« Für Neher liege es an der Einstellung, insbesondere der Bürgermeister*innen, zur Unterbringung von Geflüchteten. »Will ich dieses Thema bearbeiten, oder will ich es nicht?« Er habe den Eindruck, dass vielen die Situation entgegenkomme, um »ihre tatsächliche Überzeugung zum Ausdruck zu bringen.« 

Boris Kühn, einer der Autoren der im Juli veröffentlichten Studie »Kommunale Unterbringung von Geflüchteten – Probleme und Lösungsansätze«, sieht das ähnlich. Im Interview mit der WAZ (5.10.2023) sagte er: »Unsere stichprobenartige Recherche zum Stand der Unterbringung ergibt kein einheitliches Bild. Die Spanne reicht von einem öffentlich beklagten Notstand bis zu relativ entspannten Situationen. Wie gut Kommunen aktuell noch zurechtkommen, hängt auch davon ab, wie aktiv und konstruktiv sie vorgehen, etwa bei der Suche nach Wohnungen.«

Seine kommunalen Gesprächspartner*innen, so der Wissenschaftler der Uni Hildesheim, weisen auf gravierende Fehler bei der Unterbringung von Geflüchteten während der letzten Jahre hin. So seien viele Unterkünfte, die 2015/16 auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise eingerichtet worden waren, in den Folgejahren, als die Zahl der Asylsuchenden zurückging, wieder geschlossen worden. Der Grund: Man wollte Kosten sparen.

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Einen weiteren Grund für die aktuell hohe Auslastung der Unterkünfte sieht Kühn, der zuvor Flüchtlings- und Integrationsbeauftragter in Mössingen bei Tübingen war, darin, dass es in vielen Gegenden sehr lange dauert, bis Geflüchtete aus der Unterbringung in eigene Wohnungen umziehen können. In manchen Kommunen, so in Nordrhein-Westfalen, seien die Unterkünfte zu etwa 25 Prozent von Menschen belegt, die seit der Krise 2015/16 dort leben. Es hänge aber viel davon ab, dass die Menschen zügig aus den Unterkünften herauskommen, um Platz für neu Ankommende zu schaffen.

Das geht aber nur, wenn es ausreichend bezahlbaren Wohnungsraum gibt. Der jedoch ist bekanntlich Mangelware, und die derzeitige Bundesregierung geht das Thema trotz großer Ankündigungen nicht an. Die Bilanz der Ampel ist, wie die ihrer Vorgängerregierungen, in Sachen bezahlbaren Wohnraums verheerend.

Das Problem sitzt in Berlin

Das grundsätzliche Problem ist: Die Kommunen brauchen mehr Geld vom Bund für die Unterbringung und Integration von Geflüchteten. Der Bund aber ist nicht bereit, die Ausgaben für Unterbringung und Integration in dem erforderlichen Maß aufzustocken. Nach Meinung von Fachleuten liegen die Kosten pro Kopf und Jahr im bundesweiten Durchschnitt bei etwa 13.000 Euro. Der Bund ist allenfalls bereit, 5.000 Euro zu zahlen.  


Systemumstellung bei Kosten für Migration

Acht Stunden lang bis tief in die Nacht verhandelten die Vertreter*innen von Bund und Ländern vom 6. auf den 7. November im Bundeskanzleramt. Die Forderung der Bundesländer bei der Finanzierung der Unterbringung von Asylbewerber*innen war klar: ein sogenanntes atmendes System. Das heißt: Kommen mehr Schutzsuchende, erhalten die Länder mehr Geld, kommen weniger, gibt es auch weniger Geld. Mit diesem Automatismus setzten sich die Länder zwar durch, allerdings nicht mit der geforderten Summe von 10.500 Euro pro Asylbewerber*in und Jahr. Man einigte sich auf 7.500 Euro. Außerdem sollen Länder und Kommunen durch einen veränderten Leistungsbezug entlastet werden. Die Versorgung in Gemeinschaftsunterkünften soll künftig gegengerechnet werden und Asylsuchende erst nach 36 Monaten volle Sozialleistungen beziehen können; bis dato waren es 18 Monate. Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) sprach von einer Entlastung von 3,5 Milliarden Euro. Wie der Bund diese finanzieren möchte? O-Ton Kanzler Olaf Scholz: »Das Beste wäre natürlich, wenn die Zahl der Asylbewerber, die nach Deutschland kommen und erfolglos Schutzanträge stellen, abnimmt.« Sein Diktum vom Kampf gegen die »irreguläre Migration« kann er auch mitten in der Nacht herunterbeten.

Ein weiteres Problem ist die mangelnde Verlässlichkeit der Zahlungen des Bundes. Was es braucht, bringt die grüne Finanzministerin Monika Heinold Schleswig-Holsteins auf den Punkt: »Es braucht dringend die Zusicherung einer dauerhaften und an den Flüchtlingszahlen orientierten Finanzierung vom Bund.« Und auch Boris Kühn meint, dass eine nachhaltige Finanzierungslösung gebraucht werde, um nicht jedes Mal neu verhandeln zu müssen, wenn die Geflüchtetenzahlen steigen: »Es müsste ein Finanzierungssystem geben, das automatisch hoch und runter fährt mit dem Anstieg und dem Rückgang der Flüchtlingszahlen.«

Die Spanne bei der Unterbringung reicht von einem öffentlich beklagten Notstand bis zu relativ entspannten Situationen.

Die Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge scheint also durchaus machbar zu sein, wenn mehr Geld für Verwaltung und öffentlichen Wohnungsbau in die Hand genommen würde.

Genau an dieser Bereitschaft mangelt es jedoch der Bundesregierung. Schon als sich im Herbst letzten Jahres abzeichnete, dass die Zuwanderung wieder steigen wird, forderten die Finanzminister der Länder von Bundesfinanzminister Christian Lindner (DFP) mehr Geld für Asylsuchende. Lindner lehnte kategorisch ab. Gegenüber der Berliner Morgenpost (28.10.2022) stellt er klar: »Ich sehe die Aufgabe der Bundesregierung eher dort, die Rückführung von Menschen ohne Aufenthaltsrecht zu verbessern und ungeregelte Migration zu bremsen.« Diesen Standpunkt machten sich auch die anderen Parteien der Ampelregierung zu eigen. Seither erklärt die Bundesregierung bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit, dass die Festung Europa gegen Migrant*innen weiter ausgebaut werden muss. Und die rechte Opposition ohnehin. Letzter Höhepunkt die Äußerung Jens Spahns (CDU), sogenannte irreguläre Migration gegebenenfalls »mit physischer Gewalt« aufhalten zu wollen.

Lindners Drohung: »Die fetten Jahre sind vorbei«

Und Lindner lässt seiner Ankündigung Taten folgen. Sein Haushaltsentwurf für das kommende Jahr sieht massive Kürzungen bei der Unterstützung von Geflüchteten und Integration vor: Migrationsberatung für erwachsene Zuwander*innen minus 30 Prozent, Asylverfahrensberatung sowie besondere Rechtsberatung für queere und sonstige verwundbare Geflüchtete minus 50 Prozent. Darüber hinaus sollen alle Ressorts – ausgenommen das Verteidigungsministerium sparen. Lindner hat zudem angekündigt: »Die fetten Jahre sind vorbei«. Er sieht den Entwurf des Bundeshaushalts 2024 lediglich als Einstieg in umfassende »Konsolidierungsmaßnahmen«. Und er lässt keinen Zweifel daran, wem seine ausgerufene »finanzpolitische Wende« zugutekommen soll: den privaten Investor*innen. Ihre Kapitalrendite soll deutlich erhöht werden, damit sie investieren und den Standort Deutschland sichern. Sozialausgaben sind da nur Ballast, dessen Steigerung es »unter Kontrolle zu bringen« gilt.

Die aktuelle Eskalation der rassistischen Debatte, in der sich Politiker*innen mit Gesetzesverschärfungen und Vorschlägen zur Drangsalierung von Geflüchteten überbieten, ist somit Ausdruck des Bedürfnisses der bürgerlichen Parteien und des Kapitals nach einem Sündenbock für die geplante Politik des sozialen Kahlschlags. Die von der herrschenden Politik zu verantwortenden bestehenden sozialen Probleme (Wohnungsnot, kaputtgesparte öffentliche Infrastruktur, marodes Gesundheitswesen) werden den Migrant*innen in die Schuhe geschoben. 

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