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Ein TikTok-Rechter wird Präsident

Javier Milei verspricht eine neoliberale Schocktherapie mit verheerenden Folgen für Argentinien

Von Robert Samstag

Javier Milei und der US-Botschafter Marc Stanley geben sich die Hand. Hinter ihnen die Flaggen der USA und Argentiniens.
Mal nicht im Kostum: Javier Milei besucht die US-Botschaft. Foto: gemeinfrei

Der Sieg des ultrarechten Javier Milei bei den argentinischen Präsidentschaftswahlen hat ein politisches Erdbeben ausgelöst. Mit 11 Prozentpunkten Vorsprung setzte sich der Outsider gegenüber dem Regierungskandidaten und scheidenden Wirtschaftsminister Sergio Massa durch. Vertreter der globalen Rechten wie Donald Trump, Jair Bolsonaro und Victor Orbán gratulierten ihrem neuen Wegbegleiter umgehend.

Milei selbst bezeichnet sich als »ersten liberal-libertären Präsidenten in der Geschichte der Menschheit«. In seiner Antrittsrede verkündete er, die Grundsätze marktradikaler Theorie auf seine Regierungspolitik anzuwenden: den Staat kleinhalten und das Privateigentum und den freien Markt schützen. In anderen Worten: Sparmaßnahmen, Privatisierungen und Liberalisierung der Märkte. Neoliberalismus reloaded.

Bekanntheit erlangte Milei durch seine schrillen Auftritte als Wirtschaftsexperte in TV-Shows, in denen er ab 2016 gegen die politische »Kaste« wetterte und seine libertären Vorstellungen verbreitete: Steuern seien Diebstahl eines übergriffigen Sozialstaates, der die Massen ins Elend stürze. Das Meer und das Wasser gehöre genauso privatisiert wie Straßen und Gehwege. Anstelle von Organspende und Adoption sollten Kinder und Nieren auf dem Markt gehandelt werden. Als anarchokapitalistischer Actionheld »An-Cap« verkleidet, kündigte er den »Kollektivisten und Kommunisten« den Kampf an oder zerstörte vor laufender Kamera mit einem Baseballschläger ein Modell der Zentralbank.

Ein Anarchokapitalist im Präsidentenpalast

Mit seinem wütenden Ton und seiner Kritik an der Wirtschaftspolitik der vergangenen Regierungen traf er einen Nerv in einer von Krisen, Lohnverfall und Inflation geplagten Gesellschaft. Besonders junge Menschen setzten ihre Hoffnungen auf eine bessere Zukunft in den selbst ernannten »Löwen«, der in sozialen Medien wie TikTok Millionen Aufrufe generierte. Auch Beschäftigte im informellen Sektor und (Schein-)Selbstständige stimmten überdurchschnittlich häufig für den Mann, der im Wahlkampf mit einer dröhnenden Kettensäge Kürzungen im Staatshaushalt und Strafen für korrupte Politiker*innen versprach. Sein frauenfeindliches Verhalten brachte ihm zusätzlich die Unterstützung antifeministischer Kreise ein.

Begleitet wurde Milei von Victoria Villarruel, die ab dem 10. Dezember die Rolle der Vizepräsidentin einnimmt. Villarruel stammt aus einer Militärfamilie und ist Mitbegründerin einer NGO für die »Opfer des Guerrilla-Terrorismus« in den 1970er Jahren. Erklärtes Ziel der NGO ist es, den öffentlichen Diskurs über die Militärdiktatur von 1976–1983 zugunsten der Militärs zu verschieben. Ihrer Ansicht nach sei der Staatsterrorismus der Diktatur mitsamt Ermordung und Folter von 30.000 Menschen nur die notwendige Gegenwehr in einem »Krieg« gegen linke Guerrilla-Organisationen gewesen. Villarruel unterhält gute Kontakte zur ultrarechten Vox-Partei in Spanien.

»Bei den meisten Wähler*innen von Milei überwogen die Wut und die Ablehnung der bestehenden wirtschaftlichen Misere gegenüber einer ideologischen Überzeugung von Mileis libertären Postulaten«, versucht Fernando Rosso, Journalist und Mitbegründer der Online-Nachrichtenseite La Izquierda Diario, die Situation im Gespräch mit ak einzuordnen. Für Rosso ist klar, dass die Gesellschaft nicht plötzlich geschlossen hinter den rechtsextremen Vorstellungen von Milei stehe. Vielmehr sei das Scheitern der peronistischen Mitte-Links-Regierung für den Wahlerfolg des Libertären mitverantwortlich. »Die Regierung kam mit dem Versprechen an die Macht, Löhne und Renten zu erhöhen, und das Gegenteil ist eingetroffen. Deshalb erhielt Milei auch in Arbeiter*innenvierteln im Großraum Buenos Aires viele Stimmen, in denen die traditionelle Rechte nie Fuß fassen konnte.«

2016 spielte sich mit dem Sieg Donald Trumps bei den Präsidentschaftswahlen in den USA ein ähnlicher Paukenschlag ab. Auch dort wurde nach Erklärungen für den Erfolg eines frauenverachtenden, rechtsextremen Milliardärs besonders unter Arbeiter*innen gesucht. Für die Philosophin und feministische Aktivistin Nancy Fraser war der »progressive Neoliberalismus« der Demokratischen Partei der Nährboden des Trumpismus. Im »progressiven Neoliberalismus« habe sich der verbale Appell an fortschrittliche Forderungen – gleichgeschlechtliche Ehe, Ablehnung rassistischer Diskriminierung – mit einer Politik im Sinne der Wall Street verbunden.

Etwas ähnliches ließe sich auch über die argentinische Politik der letzten zehn Jahre sagen. Während demokratische Errungenschaften erkämpft und verteidigt wurden, wuchsen die soziale Ungleichheit, und die Armutsquote stetig an. Auch der enorme Anstieg der informellen Beschäftigung in den letzten Jahren war nur möglich, weil die neoliberalen Arbeitsmarktreformen der 1990er Jahre nie außer Kraft gesetzt wurden. Das öffentliche Bildungs- und Gesundheitssystem wurde in Worten verteidigt, während es kaputtgespart wurde, nicht zuletzt von Wirtschaftsminister und Regierungskandidat Sergio Massa. Dieser »progressive Neoliberalismus« trug entscheidend zum Aufstieg des »reaktionären Neoliberalismus« von Milei bei.

Wie sich die Präsidentschaft von Javier Milei gestalten wird, darüber lässt sich nur mutmaßen. Da seine Partei im Parlament nur über 39 von 257 Abgeordneten verfügt, ist er auf Vereinbarungen mit anderen politischen Kräften angewiesen. Schon vor der Stichwahl übernahm Ex-Präsident Mauricio Macri von der neoliberalen PRO-Partei die Rolle des »Paten« von Milei und sicherte ihm die Unterstützung seiner Parlamentsfraktion und Gouverneure zu. Wichtige Figuren des Kabinetts der damaligen Macri-Regierung werden auch unter Milei Minister*innenposten einnehmen, unter anderem die Ex-Präsidentschaftskandidatin der rechten Opposition, Patricia Bullrich, im Sicherheitsministerium und Luis Caputo im Wirtschaftsministerium.

Caputo, von 1998 bis 2003 bei der Deutschen Bank für die Geschäfte in Osteuropa und Lateinamerika zuständig, war einer der Hauptverantwortlichen für den Mega-Kredit über 55 Milliarden US-Dollar, den Argentinien beim Internationalen Währungsfonds (IWF) aufnahm. In der neuen Regierung soll er eine zentrale Rolle bei der Gestaltung der Wirtschaftspolitik spielen und womöglich weitere Milliardenkredite aufnehmen. Damit scheinen die Pläne, den US-Dollar als Landeswährung einzuführen und die Zentralbank zu zerschlagen, erst einmal verschoben. Das nationale und internationale Finanzkapital bejubelte die unternehmerfreundliche neue Regierung jedenfalls mit einem Zuwachs der Aktienkurse argentinischer Firmen an Börsen weltweit.

Doch es ist fraglich, wie lange die Bevölkerung bereit sein wird, die Konsequenzen der neuen Wirtschaftspolitik zu tragen. Milei selbst behauptet, er sei der erste gewählte Präsident, der schon im Wahlkampf Kürzungen der Staatsausgaben versprochen habe. Doch betonte er dabei stets, diese Einsparungen nicht bei der Bevölkerung vorzunehmen, sondern in der politischen »Kaste«. Um jedoch tatsächlich die versprochenen Sparmaßnahmen durchzusetzen, wird es unweigerlich zu weiteren Verschlechterungen der Lebensverhältnisse der breiten Massen kommen. Mileis Ankündigung, öffentliche Infrastrukturprojekte nicht weiter zu finanzieren, hat bereits zu Hunderten Entlassungen in der Öl- und Gasregion Vaca Muerta im Süden des Landes geführt. Zudem spricht er davon, alle Staatskonzerne zu privatisieren, »die privatisiert werden können«, was ebenfalls mit Entlassungen und einem Anstieg der Arbeitslosigkeit verbunden wäre.

Back to the 90s?

Laut Milei würde es 18 bis 24 Monate dauern, bis sein Programm zu einem wirtschaftlichen Aufschwung und besseren Löhnen führen würde. Bis dahin müssten sich die Menschen auf weitere Einschnitte, einen weiteren Anstieg der Inflation und den Rückgang der wirtschaftlichen Tätigkeit und des Konsums einstellen. Bereits in den ersten Tagen nach dem Wahlsieg stiegen die Lebensmittelpreise um 30 bis 50 Prozent.

In einigen Sektoren stehen die Zeichen bereits auf Widerstand. Augustín Lecchi, Vorsitzender der Gewerkschaft der Presse-Arbeiter*innen in Buenos Aires, kündigte ak gegenüber Proteste gegen die Vorhaben der Milei-Regierung an: »Die Beschäftigten der von Privatisierung bedrohten öffentlichen Fernseh- und Radioanstalten haben erste Versammlungen abgehalten. Wir befinden uns in Alarmbereitschaft. Auch die Belegschaft der staatseigenen Fluglinie Aerolíneas Argentinas haben Versammlungen abgehalten und werden mobilisieren, sollte die Regierung mit der Zerschlagung ernst machen.«

Auch aus der Frauenbewegung, die am 25. November mit einer Kundgebung im Stadtzentrum von Buenos Aires anlässlich des internationalen Tages gegen Gewalt gegen Frauen demonstrierte, könnte sich Widerstand gegen die kommende Regierung artikulieren. In den USA kam es infolge der Präsidentschaft Trumps zu historischen Mobilisierungen der Frauenbewegung, wie dem Women’s March in Washington.

In den 1990er Jahren waren es die neoliberalen Reformen unter Präsident von Carlos Menem, die zu Privatisierungen und Massenentlassungen führten. Die Antwort der Massen waren Straßenblockaden, Fabrikbesetzungen, die Entstehung der Arbeitslosenbewegung und ein neuer Impuls für die Menschenrechtsorganisationen. Es bleibt abzuwarten, wie die traditionell kämpferische argentinische Gesellschaft auf die drohende neoliberale Schocktherapie reagieren wird.

Robert Samstag

lebt in Argentinien und schreibt für ak und Klasse Gegen Klasse über soziale Kämpfe und die politische Lage im Land.