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Keine Ruhe für das Regime

Die iranische Regierung hat die erste Protestwelle überstanden, doch die Revolution geht weiter

Von Hamid Mohseni

Bild einer Gruppe von Demosntrierenden auf einer Allee mit bannern.
Neben Arbeiter*innen gehen auch Rentner*innen auf die Straße, wie in der kurdischen Stadt Sanandaj Anfang März. Twitter, via @iranworkers

Die Revolution in Iran hat eine neue Phase erreicht. Die täglichen militanten Proteste haben in der Fläche abgenommen. Lediglich die mutigen Menschen aus ethnischen bzw. religiösen Minderheiten nehmen sich nach wie vor selbstbewusst die Straße. In der Zahedan, Hauptstadt der Provinz Sistan-Balutschistan im Südosten des Landes, gehen seit nun gut einem halben Jahr massenweise Menschen nach dem Freitagsgebet auf die Straße und halten revolutionäre Demonstrationen ab. Die Proteste in den kurdischen Gebieten im Nordwesten des Landes waren die Initialzündung der Revolution, sie übertrugen das Motto »Jin Jiyan Azadi« vom kurdischen Freiheitskampf auf die iranische Opposition. Auch dort gibt es immer wieder größere Versammlungen und militante Aktionen. Gerade jetzt wird deutlich: Die zwei Herzkammern der Revolution befinden sich in »Minderheitenregionen« des Vielvölkerstaates Iran.

Das bedeutet allerdings nicht, dass anderswo die Revolution zum Erliegen gekommen ist. Noch immer weigern sich Frauen im ganzen Land, im Alltag das obligatorische Hijab zu tragen. In größeren Städten wie Teheran, Isfahan oder Mashhad gibt es fast jede Nacht Menschen, die revolutionäre Parolen oder Lieder aus ihren Häusern anstimmen. Trotz erheblicher Anstrengungen seitens des Regimes bleiben die Hauswände im ganzen Land Ausdrucksformen von Graffitisprühereien gegen die Islamische Republik Iran (IRI). Aufgrund der Massenfestnahmen versammeln sich auch immer wieder Eltern und andere Angehörige von Inhaftierten, die die Freiheit der politischen Gefangenen fordern. Die sogenannten »Todestage« – rituelle Zeremonien zum Gedenken an die bei den Protesten durch den Staat Getöteter – avancieren fast immer zu mächtigen und ergreifenden politischen Demonstrationen. Und nach wie vor gibt es im Land gezielte militante Aktionen gegen Infrastruktur und Propaganda der Mullahs, die Bassij-Milizen und die Revolutionsgarden. Das alles findet noch immer statt, allerdings in deutlich niedrigerer Frequenz als in den ersten intensiven fünf Monaten der Revolution.

Aus einer anderen Perspektiven kann man also sagen: Die Islamische Republik Iran (IRI) hat die erste Phase der revolutionären Proteste überstanden – wenn auch mit erheblichem Aufwand. Nun geht sie konzentrierter zum Gegenangriff über. Nach den über 500 bei den Protesten Getöteten gab es im Dezember 2022 und Januar 2023 die ersten Hinrichtungen von vier jungen Männern, die bei der jüngsten Protestwelle festgenommen worden waren. Weitere Todesurteile sind bereits verkündet oder drohen. Derweil füllen sich die Gefängnisse immer mehr, weit über 20.000 Menschen wurden im letzten halben Jahr inhaftiert. Das alltägliche Leben wird immer stärker militarisiert, der Ausnahmezustand ist längst Normalität.

Giftgasangriffe auf Mädchen und junge Frauen

Im Zuge dieser staatlichen Wiederaneignung der Kontrolle haben sich Dinge ereignet, die man vor einer Weile als wilde Verschwörungserzählung abgetan hätte: Seit November 2022 werden regelmäßig Giftgasangriffe auf Mädchenschulen und von weiblichen Studierenden bewohnten Wohnheimen im ganzen Land ausgeführt. Diese Schulmädchen und jungen Frauen stehen wie niemand anders idealtypisch für das revolutionäre Motto »Frau, Leben, Freiheit«. Erstens sind sie allesamt Frauen, die sich gegen das Patriarchat und die Degradierung der Frau als Bürgerin zweiter Klasse in der IRI zur Wehr setzen und damit diese Revolution zu einer feministischen machen. Zweitens sind sie die junge Generation Z, die sich gegen die immer weiter alternden Greise von Mullahs auflehnen und damit diese Revolution zu einem Konflikt der Generationen machen – umso signifikanter, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Iran mit einem Durchschnittsalter von 31,7 ein überwiegend junges Land ist. Die eindrucksvollen Proteste der Schulmädchen verunsicherten und lähmten die Machthaber: Wie sollten sie gegen Kinder vorgehen, die protestieren? Lange Zeit dachte man, das Aufbegehren der jungen Mädchen könne nicht angemessen sanktioniert werden.

Nachdem die Vermutung einer Systematik hinter diesen Angriffen immer stärker wurden, mussten es auch die Machthabenden Ende Februar eingestehen. Das Regime bestreitet dafür jedoch jegliche Verantwortung, verurteilt sie und verspricht alles zu tun, um die Täter zu fassen. Dennoch geschieht nichts. 1.500 Tasvir, eine der größten oppositionellen Plattformen, schreibt von 116 verifizierten Schulen im ganzen Land, an denen Angriffe stattfanden. Einige Tausend Schülerinnen sollen betroffen sein. Die Vermutung, dass es sich bei den Täter*innen um vom Regime finanzierte Gruppen handelt, liegt nahe, für die Menschen in Iran liegt sie sogar auf der Hand. »Wer sonst tut so etwas?«, liest man auf allen Kommunikationskanälen. Eltern und Angehörige halten wütende Proteste vor den Schulen ab, doch sie versprechen sich nicht wirklich Aufklärung. Schließlich ist das Muster nicht neu. 2014 und 2015 ereignete sich eine Welle von circa 25 Säure-Angriffe gegen Frauen, vermutlich weil diese sich »unsittlich« verhielten. Auch hier versprach das Regime Aufklärung, obwohl hochrangige Mullahs kurz vor den Angriffen selbst gegen den »kulturellen Verfall« durch »sittenlose Frauen« agitierten und damit selbst die Legitimation für diese Anschläge schufen. Festgenommen wurde dafür am Ende niemand.

Arbeiter*innenproteste und Streiks

Ein weiterer wichtiger Faktor der Revolution in Iran sind Arbeiter*innenproteste und Streiks. Schon in der ersten Phase der Revolution waren diese ein unverzichtbarer Teil der Protestchoreografie. Insbesondere in Kurdistan wurde kurz nach Aminis Tod der Einzelhandel bestreikt. Das öffentliche Leben lag brach, und landesweit schlossen sich auch andere Sektoren wie die Stahl- und Metallindustrie, die Energie- und Ölindustrie, das Transportwesen, die Lehrer*innen, die Autoindustrie, die Nahrungsmittelindustrie, die Landwirtschaft, die Textilindustrie, die Telekommunikation und mehr den Streiks und Protesten an. Mittlerweile haben unabhängige Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Akteur*innen sich sogar zusammengeschlossen und eine »Charter der Mindestanforderungen« für ein freies Iran formuliert. Diese Charta ist ein einzigartiges Dokument und erhält im Land viel Zuspruch, sie kann und sollte legitim als Stimme der Revolutionäre aus dem Iran betrachtet werden.

Eine selbstorganisierte Arbeiter *innenklasse hat die Macht, das Regime unter Druck zu setzen.

Es ist beeindruckend, dass die Arbeiter*innen trotz der Tatsache, dass unabhängige Gewerkschaften
nicht erlaubt sind und die Organisation im Zuge des neoliberalen Kahlschlags nur schwer möglich ist, den Mut aufbringen, für ihre Rechte und ihre Würde einzustehen. Und es ist auch von politischer Bedeutung, denn sie ergänzen die Proteste um sozialpolitische und klassenkämpferische, teilweise sozialistische Forderungen. Diese finden Anklang, denn die Inflation im Land wird auf 40 Prozent geschätzt, konservativ geschätzt lebt rund ein Drittel der 80 Millionen Iraner*innen unter der Armutsgrenze von circa 500 Dollar im Monat. Selbst diejenigen, die einer Lohnarbeit nachgehen, können kaum existenzielle Bedürfnisse abdecken – während aufgrund von massiver Korruption und Vetternwirtschaft die Mullahs und die Revolutionsgarden immer reicher werden. Ohne diesen Aspekt kann man die Revolution in Iran nicht in Gänze verstehen.

Die Arbeiter*innenproteste haben eine weitere wichtige politische Funktion, denn sie entlarven die Selbstwahrnehmung der iranischen Regierung als Mär. Die IRI sieht sich als Vertreterin des Volkes und zeichnet das Bild von Protestler*innen als gut bürgerliche Schnösel, die von ausländischen Geheimdiensten gesteuert werden. In der Tat galt lange Zeit das ärmere, proletarische Milieu als soziale Basis für das System der Mullahs, doch spätestens seit Ende 2017 hat sich dieses Milieu eindeutig gegen das Regime positioniert; seine Wut entlädt sich seitdem immer regelmäßiger auf der Straße. Die Proteste zeigen auch, dass nicht nur die oben beschriebene Jugend unzufrieden mit dem Regime ist. Das belegten die landesweiten Proteste von Rentner*innen aus dem Energiesektor, der Landwirtschaft, dem Transportwesen und der Telekommunikation Ende Februar. Sie sind eines von vielen, täglichen Beispielen von Protesten und Streiks, die die Friedhofsruhe, nach der sich die IRI sehnt, stören.

Streiks und eine zunehmend selbstorganisierte Arbeiter*innenklasse haben die Macht, das Regime durch ökonomischen Schaden unter Druck zu setzen. Besonders im Öl- und Gas-Sektor im Süden des Landes sorgen Proteste immer wieder für Unruhe und nervöse Reaktionen bei den Machthaber*innen. Der Öl- und Gassektor ist nach wie vor die Schlüsselindustrie des Landes. Die Streiks dort haben bereits den Schah in der Revolution 1979 in die Knie gezwungen. Insbesondere in den Raffinieren im Süden und Südwesten des Landes fanden Ende Januar erneut vereinzelte Streiks statt, selbst die bis dato kaum mobilisierbaren Festangestellten schlossen sich an. Hintergrund war die landesweite Gasknapptheit, aufgrund derer zahlreiche Haushalte froren und spontan vielerorts regimekritische Demonstrationen vor den örtlichen Regierungsbüros stattfanden – insbesondere an jenen Orten, die während der Revolution ruhiger blieben, wie in der im Nordosten gelegenen Stadt Torbat-e-Jam.

Doch nicht nur ökonomisch, sondern auch ideologisch sind Arbeiter*innenproteste eine Bedrohung für das Regime. Der vermutlich am besten organisierte und vernetzte Teil der Arbeiter*innenklasse sind die Lehrer*innen. Schulen und Hochschulen wurden im Zuge der sogenannten kulturellen Revolution massiv an die Agenda der IRI angepasst, um die jungen Menschen des Landes an die Grundpfeiler des Regimes heranzuführen. Wenn jedoch traditionell Studierende, Schüler*innen und Lehrer*innen allesamt auf die Barrikaden gehen, hat die IRI eine langfristige Legitimationskrise. Das zeigte sich beispielsweise bei der jüngsten Streikwelle Anfang März, als nach Aufruf der unabhängigen Lehrer*innengewerkschaft in über 30 Ortschaften die Schulen bestreikt wurden bzw. für Proteste genutzt wurden. Die Giftgasangriffe werden den Bruch mit der IRI nur noch vertiefen.

Hamid Mohseni

ist in Iran geboren und in Deutschland aufgewachsen. Er verfolgt die Proteste gegen die Islamische Republik seit 2009. Er ist freier Journalist und lebt in Berlin.

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