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Konsequenzen, nein danke

Vier Jahre nach den rassistischen Morden in Hanau fordern Überlebende und Angehörige weiter Aufklärung, die Behörden blockieren

Von Amina Aziz

Mehrere Menschen stehen, mit etwas Abstand zu einander, vor einem Gebäude mit der Aufschrift Landtag. Sie halten große ausgedruckte Fotos von mehreren am 19. Februar 2020 in Hanau ermordeten Menschen hoch.
Mit der Arbeit der Behörden nicht zufrieden: Angehörige mit Fotos der Ermordeten vor dem Hessischen Landtag. Foto: picture alliance/dpa / Arne Dedert

Die Tat war durch die hessischen Sicherheitsbehörden nicht zu verhindern.« So steht es im Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses zum Anschlag vom 19. Februar 2020 in Hanau, bei dem Mercedes Kierpacz, Vili Viorel Păun, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz, Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović und Said Nesar Hashemi aus rassistischen Motiven ermordet wurden. Der Untersuchungsausschuss, der im Juli 2021 seine Arbeit aufnahm, ist durch die Überlebenden, Angehörigen und Hinterbliebenen erkämpft worden, um ihre offenen Fragen zu klären – darüber, wie die Tatnacht abgelaufen ist und ob die Behörden Fehler gemacht haben.

Die Begründung zur Bilanz des letzten November veröffentlichten Berichts liest sich wie eine vage Rechtfertigung. So heißt es, dass die Gefährlichkeit des Täters im Vorfeld der Tat nicht hätte erkannt werden können, das sei erst aus heutiger Sicht möglich. Auch bleibt der Ausschuss unschlüssig, ob eine Flucht aus dem zweiten Tatort, der Arena Bar, in der Said Nesar Hashemi und Hamza Kurtović erschossen wurden, möglich gewesen wäre, wenn der Notausgang nicht verschlossen gewesen wäre.

Überlebende, Zeug*innen und Sachverständige hatten vor dem Ausschuss betont, dass die Betroffenen des Anschlags, allesamt öfter zu Gast in der Arena Bar, den Notausgang deshalb nicht genutzt hatten, weil bekannt war, dass er meist verschlossen war. Wäre er offen gewesen und hätten die Barbesucher dies gewusst, sei es durchaus möglich, dass sie zum Notausgang geflohen wären.

Der verschlossene Notausgang

Eine Analyse der Londoner Rechercheagentur Forensic Architecture zum Tathergang in der Arena Bar ergab, dass die Besucher dem Täter hätten entkommen können, wenn sie zum Notausgang gelaufen wären – auch wenn sie dafür zunächst in die Richtung hätten laufen müssen, aus der der Täter kurz darauf die Bar betrat. Im Untersuchungsausschuss versuchten CDU und AfD, die Arbeit von Forensic Architecture zugunsten der Polizeiversion zu diskreditieren. Auch der Abschlussbericht zeigt, wie wenig sich der Ausschuss auf die Analysen der Agentur eingelassen hat.

Die Frage des verschlossenen Notausgangs wurde im Untersuchungsausschuss nur stiefmütterlich behandelt, obwohl sie entscheidend ist, um zu klären, ob die Polizei Hanau eine Mitschuld trifft. Denn die steht im Verdacht, rechtswidrig Absprachen mit dem Barbetreiber getroffen zu haben, den Notausgang verschlossen zu halten, damit im Falle einer polizeilichen Razzia niemand fliehen kann. Trifft der Vorwurf zu, könnte das fahrlässige Tötung bedeuten. Der Jurist und ARD-Rechtsredakteur Max Bauer kommentiert auf tagesschau.de, dass staatliches Versagen dem Täter die Tat sehr wahrscheinlich leichter gemacht habe. »Schweres Versagen der Polizei, unter Umständen fahrlässige Tötung steht im Raum und kein hessisches Gericht klärt diese Vorwürfe auf«, so Bauer.

Die Ermittlungen zu dieser Frage sind inzwischen eingestellt. Einer neuen Zeugenaussage von September 2023, in der der Zeuge erklärt, er habe eine Absprache zwischen Barbetreiber und Polizei, die Tür geschlossen zu halten, mitbekommen, geht die Staatsanwaltschaft Hanau nicht nach. Erste Ermittlungen zum Notausgang hatte sie bereits 2021 eingestellt. Im Oktober 2023 begründet sie ihre Ablehnung, ein neues Ermittlungsverfahren aufzunehmen, mit einer ähnlichen Bewertung, wie sie später auch im Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses zu lesen war: Es sei unklar, ob die Barbesucher wirklich zum Notausgang gelaufen wären, wenn der offen gewesen wäre.

Alles richtig gemacht

Vier Jahre nach dem Anschlag gibt es also keinerlei personelle Konsequenzen von staatlicher Seite, kein Zeichen von Verantwortungsübernahme für Fehlverhalten. Das Informationsportal Frag den Staat veröffentlichte einen internen Bericht einer polizeilichen Arbeitsgruppe, aus dem hervorgeht, dass sich einige der Beamt*innen, die in der Tatnacht im Einsatz waren, personelle Konsequenzen in der Polizeistruktur wünschen.

Der damalige Leiter des Polizeipräsidiums Südosthessen, Roland Ullmann, war für die langjährige personelle Unterbesetzung der Dienststellen verantwortlich, die unter anderem dazu führte, dass in der Tatnacht eingehende Notrufe nicht angenommen wurden. Auch wusste er nicht, dass es keine Notrufweiterleitung gab, die dafür gesorgt hätte, dass ein nicht angenommener Notruf bei einer anderen Dienststelle ankommt. Ullmann wurde wenige Monate nach der Mordnacht zum Polizeipräsidenten des Landes Hessen befördert.

Sein Kollege, der Leiter der Polizeidirektion Main-Kinzig, Jürgen Fehler, der für den Einsatz in der Tatnacht verantwortlich war, sieht keine Fehler bei der Polizei. Angesprochen auf die versäumte Überprüfung der Vitalfunktionen zweier »Patienten« an den Tatorten, Kaloyan Velkov und Ferhat Unvar, durch die Polizei, wie sie durch Videokameras belegt ist, antwortete er im Hessischen Rundfunk: »Im Ergebnis haben die Kollegen all das umgesetzt, was notwendig ist.«

Hanau ist ein weiteres Symbol für staatliche Gleichgültigkeit in Bezug auf tödliche rassistische Gewalt.

Seiner Meinung nach hätten auch mehr Notrufe nichts gebracht. Das behauptete er, obwohl Vili Viorel Păun, der den Täter vom ersten Tatort aus mit dem Auto verfolgt hatte, bevor er vor der Arena Bar erschossen wurde, mehrfach den Notruf wählte und nicht durchkam, so dass weder die Polizei durch ihn informiert wurde, noch die Polizei ihm hätte sagen können, was er tun soll.

Den Rücktritt des hessischen Innenministers Peter Beuth (CDU) forderten die Hinterbliebenen bereits wenige Monate nach dem Anschlag. Im Januar ist Beuth freiwillig aus der Politik ausgeschieden – allerdings nicht als Konsequenz aus der Polizeiarbeit in Hanau. »Gravierende Fehler« sieht er nicht, eine Entschuldigung bei den Angehörigen wegen der polizeilichen Versäumnisse lehnt Beuth ab. Nach einer der schwersten rassistischen Gewalttaten in Deutschland nach dem Nationalsozialismus hat keine einzige Person Verantwortung für die »Kette des Versagens«, wie die Hinterbliebenen die Reihe an Fehlern nennen, übernommen.

Wünsche der Angehörigen werden ignoriert

Mit ihrem Agieren rund um den Anschlag haben die deutschen Behörden die Tradition unvollständiger Aufklärung rassistischer Taten und politischer Konsequenzlosigkeit einmal mehr zementiert. Hanau ist ein weiteres Symbol für staatliche Gleichgültigkeit in Bezug auf tödliche rassistische Gewalt. Sinnbildlich dafür steht, dass das Land Hessen und die Stadt Hanau in diesem Jahr keine Gedenkveranstaltung mehr zentral in Hanau ausrichten. Stattdessen hat der Oberbürgermeister von Hanau, Claus Kaminsky, zum stillen Gedenken auf dem Friedhof eingeladen. Armin Kurtović, der Vater des getöteten Hamza, schreibt dazu in der taz, dass Kaminsky dazu nicht die Einwilligung seiner Familie habe und dass der Oberbürgermeister wisse, dass einige Angehörige mit einer Gedenkveranstaltung von Politiker*innen auf dem Friedhof Probleme hätten. Für »Offizielle« gebe es andere Formen zu gedenken, schreibt Kurtović: »Die von allen wichtigste wäre: endlich auch die Fehler von Behörden und Polizei aufzuklären, zuzugeben und nicht länger zu vertuschen.«

Seit dem Anschlag vor vier Jahren kämpfen die Hinterbliebenen nicht nur für Aufklärung und Konsequenzen, sondern auch für ein würdevolles Leben für sich. »Angehörige müssen sich Gedanken darüber machen, wie sie langfristig über die Runden kommen, wenn sie nicht arbeiten können. Außerdem ist die Bürokratie teilweise retraumatisierend und entwürdigend, da sie ihren Schmerz belegen müssen«, sagt Newroz Duman, Sprecherin der Initiative 19. Februar Hanau, die eng mit den Hinterbliebenen zusammenarbeitet, gegenüber dem Missy Magazine. Said Etris Hashemi, Überlebender des Anschlags, ergänzt: »Bei vielen Familien ist der Hauptverdiener nicht mehr da. Sie müssen nicht nur mit ihrer Trauer umgehen, sondern sich auch Sorgen machen, wie es überhaupt weitergeht.«

Die langfristige finanzielle Unterstützung für die Familien ist unsicher. Wie sie angesichts der psychischen Belastung und des unbefriedigenden Umgangs der Verantwortlichen ein geregeltes Leben führen sollen, ist unklar. Ein Zurück zur Normalität gibt es für sie nicht, wie wir aus vielen ihrer Berichte wissen.

Hashemi, der den Anschlag überlebte, aber seinen Bruder Said Nesar dabei verlor, betont, dass es aufgrund der Unterstützung der Zivilgesellschaft möglich war, politische Anliegen der Angehörigen wie den hessischen Untersuchungsausschuss zum Anschlag zu erreichen. Marion Bayer von der Initiative 19. Februar Hanau sagt: »Wir wollen die Zivilgesellschaft bei unseren Prozessen um Aufklärung und Konsequenzen mitnehmen.« Das sei ein längerer Prozess, aber sie finde es beeindruckend, wie sehr die Betroffenen sich dem verschrieben haben. »Sie versprechen sich davon, in dieser Gesellschaft etwas verändern zu können«, so Bayer. Sie fügt hinzu: »Die Gesellschaft ist größer als das Parlament.«

Der Kampf der Hinterbliebenen hat bereits für einen Wandel im Umgang mit rassistischer Gewalt gesorgt. Nach unzähligen rassistischen Anschlägen in den letzten Jahren und Jahrzehnten stehen in der Öffentlichkeit nun die Betroffenen im Vordergrund, nicht die Täter. Den Betroffenen wird zugehört. So waren die ersten öffentlichen Aussagen im Untersuchungsausschuss die Aussagen Überlebender und der Familienangehörigen. »Das ist ein Novum«, sagt Bayer. Hashemi ist froh, dass die Angehörigen und solidarische Menschen eine neue Erinnerungskultur in Deutschland etablieren konnten. »Die Solidarität, die wir gespürt haben, hat mich sehr beeindruckt«, sagt er. Bislang reißt sie nicht ab. Tausende Menschen haben in Hanau und bundesweit der Betroffenen des Anschlags gedacht.

Amina Aziz

ist als Autorin und Journalistin tätig.

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