analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 685 | International

Desaster in Chile

Der fortschrittliche Verfassungsentwurf scheitert deutlicher als gedacht – was bedeutet das?

Von Tobias Lambert

Eine zerstreute Menschenmenge in der Nacht auf einen Platz, am rechten Bildrand brennt ein kleines Feuer
Eine deutliche Mehrheit hat die neue Verfassung abgelehnt. »Trauerstimmung auf der Plaza Dignidad, wo 2019 die soziale Revolte begonnen hat«, schreibt die Journalistin Sophia Boddenberg auf Twitter zu diesem Foto aus Santiago, aufgenommen in der Nacht der Abstimmung.

Es ist ein herber Rückschlag für den sozialen und ökologischen Wandel in Chile: Etwa 62 Prozent der Wähler*innen stimmten am 4. September gegen den Entwurf für eine neue, fortschrittliche Verfassung. Bereits seit Monaten hatten Umfragen eine Ablehnung prognostiziert. Da erstmals seit 2012 wieder eine Wahlpflicht galt, hofften die Befürworter*innen des Verfassungsentwurfs aber bis zuletzt auf unentschlossene Wähler*innen. Genützt hat es nichts, ganz im Gegenteil: Bei einer hohen Wahlbeteiligung von knapp 86 Prozent votierten 7,88 Millionen Chilen*innen gegen und nur 4,86 Millionen für den Verfassungsentwurf. In allen Regionen des Landes lagen die Gegner*innen vorne.

»Die chilenische Bevölkerung war mit dem Entwurf nicht einverstanden«, erklärte Präsident Gabriel Boric am späten Wahlabend. »Sie fordert von uns, mit mehr Engagement, Dialog, Respekt und Zuneigung an einer neuen Verfassung zu arbeiten.« Die Ansicht, der auch einige Gegner*innen des Verfassungsentwurfs folgen, lautet: Da sich im Oktober 2020 fast 80 Prozent der Wähler*innen per Referendum für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung ausgesprochen hatten, bleibt der Auftrag bestehen, abgelehnt wurde nur dieser spezielle Entwurf. Die alte Verfassung, die 1980 unter der Militärdiktatur entstanden war, besitzt weiterhin keine Legitimität. Die Regierung strebt nun die Wahl eines neuen Verfassungskonvents an und sucht dafür einen Konsens mit der Opposition. Ob in einem neuen Aushandlungsprozess der vorliegende Entwurf als Grundlage dient oder ein völlig neuer ausgearbeitet wird, ist offen.

Klar ist, dass es dauern und der bestehende Entwurf an vielen Stellen zumindest abgeschwächt werden wird. Im zweiten Versuch werden nicht Unabhängige, sondern wohl Berufspolitiker*innen und Expert*innen den Ton angeben. Die Regierung Boric, die den Verfassungsentwurf unterstützte, geht geschwächt aus der Abstimmung hervor. Ihr Regierungsprogramm basiert maßgeblich darauf, dass die neue Verfassung durchkommt. Eine Kabinettsumbildung nach dem Referendum deutet auf einen künftig stärkeren Mitte-Kurs hin. So übernahm etwa Carolina Tohá, die schon Teil der Mitte-Links-Regierung von Michelle Bachelet war, das wichtige Innenministerium, während der linke Flügel geschwächt wurde. Zugleich protestierten in Santiago Schüler*innen die ganze Woche nach dem Referendum für kostenlose Bildung und einen neuen verfassunggebenden Prozess.

Gründe für die Niederlage

Die Gründe für die deutliche Niederlage sind vielfältig. Eine häufig angeführte Erklärung ist die Lügenkampagne der chilenischen Rechten gegen den Verfassungsentwurf. »Es handelt sich um eine Wahlniederlage, nicht die Niederlage eines politischen Projektes«, betonte etwa der Zusammenschluss sozialer Bewegungen, der sich für den Verfassungsentwurf eingesetzt hat (Movimientos Sociales por el Apruebo), unmittelbar nach dem verlorenen Referendum. Es sei schwer gewesen, gegen die mediale Übermacht der Gegner*innen und deren Lügenkampagne anzukommen.

Tatsächlich fürchtete die traditionelle Elite um ihre Privilegien und versuchte, die Annahme des Verfassungsentwurfs mit einer aggressiven Kampagne zu verhindern. Durch Falschbehauptungen schürte sie Ängste vor Kommunismus und wirtschaftlichem Niedergang. Mit Verweis auf das im Verfassungsentwurf vorgesehene Recht auf angemessenen Wohnraum behaupteten die Rechten beispielsweise, dass künftig kleine Eigentümer*innen von Wohnungen und Häusern enteignet würden – was nicht stimmt. Eine weitere Lüge lautete, dass durch die bereits im ersten Verfassungsartikel genannte Plurinationalität, die offiziell indigene und afrochilenische Gruppen mit einbezieht, der Zerfall des Landes drohe und Indigene künftig mehr Rechte haben würden als die übrigen Chilen*innen. Fälschlich behauptet wurde auch, dass das Recht auf Abtreibung Schwangerschaftsabbrüche zukünftig bis zum neunten Monat ermöglichen solle. Die Gegner*innen der Verfassung hatten durch Zuwendungen reicher Chilen*innen deutlich mehr finanzielle Mittel als die Befürworter*innen und in den privaten Massenmedien war die Ablehnungskampagne viel stärker vertreten. Die Ablehnungskampagne hatte zudem de facto bereits mit der Arbeit des Verfassungskonvents begonnen, den viele von vornherein ablehnten.

Ein Verfassungstext allein kann ein Land nicht verändern.

All dies hatte zweifellos Einfluss auf die Abstimmung. Aber ausreichend als Erklärung für das desaströse Ergebnis ist es nicht. Anderen linken Regierungen in Lateinamerika gelangen in den vergangenen zwei Jahrzehnten unter vergleichbaren Bedingungen schließlich deutliche Wahlerfolge. Die Ablehnung des Verfassungsentwurfs in Chile reichte bis ins linksliberale Lager hinein. So stellten sich etwa auch einige bekannte Politiker*innen des früheren Mitte-Links-Bündnisses Concertación offen gegen den aus ihrer Sicht zu einseitigen und an vielen Stellen schwammig formulierten Entwurf. Aus dem Mitte-Links-Spektrum heraus entstand die Organisation »Amarillos por Chile« , die sich nicht prinzipiell gegen eine neue Verfassung, sondern nur gegen den Entwurf wendete und den Großteil der Wahlspenden erhielt. Diese Positionierungen trugen dazu bei, die Ablehnung außerhalb des rechten Spektrums zu stärken. Hinzu kam, dass der Verfassungskonvent, der überwiegend aus unabhängigen Linken bestand, nicht gerade den besten Ruf genoss. Öffentlich ausgetragene Streitereien sorgten dafür, dass sich leicht das Bild erzeugen ließ, den Mitgliedern des Konvents gehe es um die Durchsetzung partikularer linker Anliegen, anstatt an das gesamte Land zu denken.

Die linken Bewegungen in Chile müssen nun aufarbeiten, warum sie mit ihrer Kommunikation und Ansprache nicht mehr Menschen überzeugen konnten. Möglicherweise waren einige der Konzepte, die in linken Kreisen Lateinamerikas geläufig sind, zu abstrakt. Viele unpolitische Wähler*innen hatten während der aufziehenden Rezession und Inflation wohl tatsächlich Angst vor zu viel Veränderung auf einmal. Jene, die nur aufgrund der wieder geltenden Wahlpflicht ihre Stimme abgaben, konnten die Verfassungsbefürworter*innen offensichtlich kaum erreichen. Da die Regierung den Verfassungsentwurf unterstützte, dürften auch ein paar Stimmen zur »Abstrafung« der bisherigen Regierungspolitik dabei gewesen sein. Vielleicht hat auch alles etwas zu lang gedauert. 2020 sah sich die damalige Regierung unter dem rechten Milliardär Sebastián Piñera dazu gezwungen, auf die immer lauter werdenden Forderungen nach einer neuen Verfassung einzugehen. Allerdings gelang es ihr, den Prozess in die Länge zu ziehen, so dass der durch die Revolte entfachte Wille zu rascher Veränderung auf dem Weg durch die Institutionen an Schwung verlor. Einen Anteil daran dürfte nicht zuletzt die Corona-Pandemie gehabt haben, die Straßenproteste zwischenzeitlich erheblich erschwerte.

Wie es zu dem Referendum kam

So oder so: Eines der interessantesten politischen Projekte der vergangenen Jahre droht nun zu scheitern beziehungsweise deutlich ausgebremst zu werden. Ab Oktober 2019 hatten sich in Chile soziale Proteste gegen eine Fahrpreiserhöhung in der U-Bahn zu einer breiten Revolte gegen das neoliberale Wirtschaftssystem ausgeweitet. Im Oktober 2020 sprachen sich in einem Referendum bei einer Wahlbeteiligung von 51 Prozent fast 80 Prozent der Wähler*innen dafür aus, eine neue Verfassung auszuarbeiten. Im Mai 2021 wurde mit 41 Prozent Wahlbeteiligung eine paritätisch besetzte verfassunggebende Versammlung gewählt, in der linke und unabhängige Kandidat*innen die Mehrheit hatten. Die rechte Elite konnte mit weniger als einem Drittel der Sitze keine Beschlüsse blockieren. 17 von 155 Sitzen waren indigenen Gemeinschaften vorbehalten, die in der Verfassung von 1980 keinerlei Rolle spielen.

Mit dem ehemaligen Studierendenaktivisten Gabriel Boric gewann am 19. Dezember 2021 dann ein junger linker Politiker die Stichwahl um die Präsidentschaft. Die Wahlbeteiligung lag (noch ohne Wahlpflicht) bei etwa 55 Prozent. »Wenn Chile die Wiege des Neoliberalismus ist, wird es auch sein Grab sein«, hatte der damals 35-Jährige im Wahlkampf erklärt. Im lateinamerikanischen Vergleich gilt Boric als »moderner« oder »moderater« Linker, der eher den Interessenausgleich sucht, als eine Revolution auszurufen. Hoffnung auf tiefgreifende Veränderung machte daher vor allem der seit Mai 2021 tagende Verfassungskonvent, der dem Präsidenten Anfang Juli dieses Jahres den Entwurf für eine Verfassung übergab, die den Neoliberalismus überwinden wollte.

Chile war bekanntlich das erste Land weltweit, das nach dem Zweiten Weltkrieg mit neoliberaler Politik experimentierte. Nach dem Putsch gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende am 11. September 1973 machte die Militärdiktatur unter Augusto Pinochet Chile gewissermaßen zu einem Labor des Neoliberalismus. Die so genannten Chicago Boys – Jung-Ökonomen, die überwiegend an der University of Chicago bei neoliberalen Vordenkern wie Milton Friedman studiert hatten – erhielten ab Mitte der 1970er Jahre weitgehend freie Hand für Reformen. Mittels einer »Schocktherapie« deregulierte die Militärdiktatur innerhalb kurzer Zeit große Teile der Wirtschaft, zerschlug die Gewerkschaften und privatisierte weitgehend den Zugang zu Wasser sowie das Bildungs-, Gesundheits- und Rentensystem. Die Verfassung von 1980 sollte ein neuerliches sozialistisches Experiment unmöglich machen und sicherstellen, dass das neoliberale Wirtschaftssystem auch nach einer Demokratisierung Bestand haben würde. Dadurch konnte das Militär nach dem Ende der Diktatur 1990 großen politischen Einfluss behalten. Das neoliberale System blieb im Grundsatz auch nach der Demokratisierung bestehen, ergänzt durch punktuelle Sozialpolitiken verschiedener Mitte-Links-Regierungen.

Was sich verändert hätte

Der partizipativ erarbeitete Verfassungsentwurf wollte nun vor allem die Rechte der Bevölkerung, den Umweltschutz und die wirtschaftliche Rolle des Staates stärken. Der Einfluss sozialer, feministischer und indigener Bewegungen ist unverkennbar. Im ersten Artikel wird Chile als »sozialer, demokratischer und rechtsstaatlicher Staat« und als »solidarische Republik« definiert, die »plurinational, interkulturell, regional und ökologisch« ist. Der Entwurf garantiert das Recht auf Gesundheit, Bildung, soziale Sicherheit, Wasser sowie menschenwürdigen Wohnraum und sieht weitgehende Arbeitsrechte vor. Eine starke Rolle spielen zudem die Belange der Natur, die mit eigenen Rechten ausgestattet werden sollte. Auch aus feministischer Sicht enthält der Entwurf weitreichende Änderungen – ein klarer Erfolg der feministischen Dachorganisation »Coordinadora Feminista 8M«. So hätte Chile eine »paritätische Demokratie« eingeführt, sämtliche öffentliche Ämter mindestens zur Hälfte mit Frauen besetzt und Frauen, Kindern, Jugendlichen, trans und nicht-binären Personen ein Leben frei von geschlechtsspezifischer Gewalt garantiert. Zudem enthält der Entwurf das Recht auf Sorge und auf Abtreibung und erkennt unbezahlte Haus- sowie Carearbeit an. Eine feministische Perspektive zieht sich insofern durch den gesamten Verfassungstext. Zu einem der umstritteneren Punkte zählen Änderungen im politischen Repräsentationssystem. So sollte der bisherige, stets von der Elite kontrollierte Senat durch eine »Kammer der Regionen« ersetzt werden. Diese hätte anders als bisher weniger Rechte als die erste Kammer des Nationalkongresses, die Abgeordnetenkammer.

Ein Verfassungstext allein kann ein Land nicht verändern. Die Beispiele Venezuela, Bolivien und Ecuador zeigen, dass zwischen Verfassungsgrundsätzen und politischer Wirklichkeit mitunter tiefe Gräben klaffen. Aber der Entwurf hätte allen, die sich für ein soziales und ökologisches Chile einsetzen, bedeutende Rechte und Instrumente in die Hand gegeben. In der Verbindung linker Regierungsmehrheiten und sozialer Mobilisierung hätte tatsächlich das Potenzial gelegen, den Neoliberalismus in das Grab zu stoßen, das die Protestbewegung seit 2019 ausgehoben hat. Und dies hätte unweigerlich auch international Symbolwirkung gehabt. Nun wird es deutlich schwieriger, den nötigen Wandel in Chile voranzutreiben.

Tobias Lambert

arbeitet als freier Autor, Redakteur und Übersetzer überwiegend zu Lateinamerika.

Dies ist die aktualisierte Version eines früheren Artikels, der am 5. September online erschien.

Unterstütz unsere Arbeit mit einem Abo

es, du hast bis zum Ende gelesen! Wenn dir das öfter passiert, dann ist vielleicht ein Abo was für dich? Wir finanzieren unsere Arbeit nahezu komplett durch Abos – so stellen wir sicher, dass wir unabhängig bleiben. Mit einem ak-Jahresabo (ab 58 Euro, Sozialpreis 38 Euro) liest du jeden Monat auf 36 Seiten das wichtigste aus linker Debatte und Praxis weltweit. Probeabo gibt es natürlich auch.