analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 697 | Geschichte

Täter sind immer die anderen

Die Ehrung von Jaroslaw Hunka im kanadischen Parlament war falsch – die anschließende Debatte verrät indes einiges über die deutsche Erinnerungskultur

Von Johannes Spohr

Ein alter Mann im braunen Anzug steht in einer Menge und hebt die Hand zum Winken, die Umstehenden applaudieren
Jaroslaw Hunka (Mitte) wurde 1943 Soldat der Waffen-SS-Division Galizien. Ende September ehrte das kanadische Parlament den 98-Jährigen als Kämpfer für die ukrainische Unabhängigkeit im Zweiten Weltkrieg. Foto: Screenshot CBC News / Youtube

Mit stehenden Ovationen wurde der 98-jährige Jaroslaw Hunka Ende September im kanadischen Parlament bedacht. Anlass war der Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, eingeführt wurde Hunka als Kämpfer für die ukrainische Unabhängigkeit im Zweiten Weltkrieg. »Ein ukrainischer Held, ein kanadischer Held«, so beschrieb ihn Anthony Rota, der zu dem Zeitpunkt noch amtierender Sprecher des kanadischen Unterhauses war.

Als im Anschluss öffentlich wurde, dass Hunka nicht irgendein Veteran ist, sondern 1943 mit 18 Jahren Angehöriger der 14. Waffen-Grenadier-Division Halyčyna der SS geworden war und acht Wochen in dieser Division diente, sorgte dies für weltweite Empörung. Nicht nur die Organisation Friends of Simon Wiesenthal Center, auch die NGO B’nai Brith Canada verurteilte den Auftritt und forderte Konsequenzen, unter anderem die Freigabe aller Akten zum Holocaust in Kanada. Es müsse endlich eine detailliertere Aufarbeitung der Aufnahme von NS-Kriegsverbrechern (darunter Mitglieder der Waffen-SS) durch Kanada nach dem Zweiten Weltkrieg geben, so die NGO in einer Stellungnahme.

Anthony Rota entschuldigte sich daraufhin »insbesondere bei den jüdischen Gemeinden in Kanada und der ganzen Welt« und trat zurück. Er nahm alle Schuld auf sich und damit Trudeau und Selenskyj aus der Schusslinie. Der kanadische Ministerpräsident Justin Trudeau nannte den Vorfall einige Tage später eine schreckliche Verletzung des Gedenkens an die Millionen Menschen, die im Holocaust starben, die für jüdische Menschen heute sehr schmerzhaft gewesen sei. Er habe auch »Polen, Roma, LGBTQI+ Menschen, Menschen mit Behinderungen, rassifizierte Menschen und die vielen Millionen Menschen, die dem Nazi-Völkermord zum Opfer fielen«, verletzt.

Jaroslaw Hunka hat sich vermutlich persönlich schuldig gemacht, vor allem aber war er nominelles Mitglied einer verbrecherischen Organisation, wie es auch in den Nürnberger Prozessen festgestellt wurde. Hunka hat sich davon auch nach dem Krieg nie distanziert, sondern die Taten der Waffen-SS relativiert. In Blogbeiträgen von 2010 und 2011 beschreibt Hunka die Jahre 1941 bis 1943 als die glücklichsten seines Lebens und verglich die Veteranen seiner Einheit, die über die ganze Welt verstreut waren, mit Juden. Damit steht er leider für eine kontinuierliche Tendenz in der ukrainisch-kanadischen Diaspora.

Eine Ehrung der SS?

Aber auch in der Ukraine wurden im letzten Jahrzehnt immer wieder Helfer*innen des Nationalsozialismus als Freiheitskämpfer*innen gegen die Sowjetunion geehrt und rehabilitiert, begünstigt durch das im April 2015 verabschiedete »Gesetz über die rechtliche Stellung und die ehrende Erinnerung an die Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine im zwanzigsten Jahrhundert«. Die Waffen-SS-Division Galizien ist hier jedoch explizit nicht aufgenommen worden. Auch das Ukrainische Institut für Nationales Gedenken sprach sich 2021 gegen eine Verherrlichung aus. Vor allem handelt es sich bei den als Freiheitskämpfer anerkannten Personen um Mitglieder der ukrainischen Nationalisten (OUN-UPA), nicht der Waffen-SS. Diese wird im kleineren Rahmen vor allem in der Westukraine immer wieder von Rechtsextremen glorifiziert und als Einheit von Freiheitskämpfern der ukrainischen Sache dargestellt. Das Gegenteil war der Fall. Ihren Eid schworen die SS-Angehörigen nicht auf die Ukraine, sondern auf Adolf Hitler.

In der aufgeregten Debatte um die Ehrung im kanadischen Parlament geht es aber vielleicht gar nicht so sehr um die Person Hunka und seine konkrete Rolle, als vielmehr darum, dass ein Grundsatz in Frage steht: Angehörige der Waffen-SS werden nicht geehrt. Ob sich darin allerdings der Wille der Beteiligten ausdrückt, einem Angehörigen der Waffen-SS zu huldigen, sollte die Öffentlichkeit dennoch interessieren.

Zweifel daran sind zumindest angebracht. Ende September nahm Selenskyj erneut und trotz des Krieges in seinem Land am Gedenken an das Massaker von Babyn Jar (ak 673) teil, bei dem 82 Jahre zuvor das Sonderkommando 4a als Teil der deutschen Einsatzgruppe C und mit Unterstützung weiterer Einheiten über 33.000 Jüdinnen und Juden ermordet hatte. Es sei wichtig, die Erinnerung an diese Opfer wachzuhalten, so der ukrainische Präsident, und daran zu denken, dass das Böse, das durch den Holocaust begangen wurde, besiegt und bestraft worden sei. Dass drei Brüder und der Vater von Selenskyjs Großvater im Holocaust ermordet wurden und sein Großvater als Angehöriger der Roten Armee überlebte, erwähnte er nicht.

Allem Anschein nach handelte es sich bei der Hunka-Ehrung um ein zu Recht scharf kritisiertes und für die Verantwortlichen unangenehmes Versehen, das nicht nur den Rücktritt von Anthony Rota zur Folge hatte. Trudeau kündigte auch an, eine Liste mit 800 mutmaßlichen ehemaligen Helfer*innen der Nationalsozialisten, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Kanada eingewandert sind, freigeben zu wollen. Sie stammt aus einer unabhängigen Untersuchung aus dem Jahr 1986.

Auch wenn die Ehrung Hunkas in erster Linie ein Versehen war, wurde der Vorgang von russischen Propagandist*innen dankbar aufgenommen und sogleich reichlich ausgeschmückt, wie sich nur wenig später zeigte: Vier Tage nach der Ehrung, am 26. September, gab die russische Botschaft in Großbritannien auf X (vormals Twitter) bekannt, dass die Ukraine Briefmarken mit dem Konterfei von Jaroslaw Hunka und der Aufschrift »Held der Ukraine« herausgebe. Die Meldung stellte sich in kurzer Zeit als Fake heraus.

Aber auch hierzulande ist mit einer russlandtreu-propagandistisch geprägten Kultivierung des Stereotyps des »ukrainischen Faschisten« zu rechnen, wenn etwa die Tageszeitung Junge Welt Ende Oktober zu einer Konferenz mit dem Titel »Der Bandera-Komplex« nach Berlin einlädt. Immer wieder macht sich die Zeitung zum Sprachrohr russischer Propaganda, zuletzt mit einem Interview mit Wladimir Putin.

Deutsche Erregungsmuster

Man muss die historischen Hintergründe nicht kennen, um zu wissen, dass die Ehrung in Kanada falsch war. Unabhängig davon, in welche konkreten Gewalttaten die Einheit Hunkas und er selbst involviert waren, haben die im kanadischen Parlament entstandenen Bilder ein fatales Signal an die jüdischen Gemeinden und alle ehemals Verfolgten unter der NS-Besatzung in Europa gesendet.

Interessant ist der Fall aber auch bezüglich der verhältnismäßig vehementen Reaktionen aus Deutschland, einem Land, von dem man bei diesem Thema eigentlich vor allem Demut gegenüber Alliierten und Opfergruppen zu erwarten hat.

Dabei bleibt es in Deutschland meist still, wenn es um NS-Verherrlichung hierzulande geht. Bis heute stehen in den allermeisten deutschen Orten Gedenkanlagen, -steine und -tafeln, die an die »Opfer des Zweiten Weltkrieges« erinnern sollen, ohne die militärischen Werdegänge jener gefallenen Soldaten, derer dort gedacht wird, auch nur zu kennen oder sie zu benennen – eine spezifisch deutsche Art der Täter-Opfer-Umkehr, die nicht ansatzweise so viel Wirbel verursacht wie Ereignisse, die nichtdeutsche Tätergruppen betreffen und sich außerhalb Deutschlands abspielen. NS-Täter*innen konnten in der Bundesrepublik und weitgehend auch in der DDR stets mit Schonung rechnen.

Das Interesse für das, was zwischen 1941 und 1944 in der besetzten Ukraine geschah, muss hierzulande klein bleiben, denn es wirft Fragen auf über die deutschen Besatzer.

Der Grund für jenes wohlgeübte Erregungsmuster, wenn es um nicht-deutsche Täter*innen im Kontext des NS geht, ist unter anderem in den Abgründen deutscher Familiengeschichten zu finden. Und die laute Empörung über nicht-deutsche Täter*innen täuscht darüber hinweg, dass sich hierzulande nur eine Minderheit für die Opfer der NS-Verfolgung, aber auch für die Täter*innen, Mitläufer*innen, Bystander, Zuschauer*innen und Profiteur*innen interessiert. Wer sich mit den »fremdvölkischen« Freiwilligen in der Waffen-SS beschäftigt und nachvollzieht, wie viele von ihnen zu Tätern wurden, stößt unweigerlich auf diejenigen, die sie rekrutierten.

Was nun den völlig fehlgeleiteten Akt im kanadischen Parlament betrifft, sind die konkreten, komplexen historischen Zusammenhänge in der Tat sekundär. Die Empörung ist notwendig. Will man die Geschichte dahinter aber ernsthaft anerkennen und verstehbar machen, ist mehr als Symbolik gefragt. Aber schon die unzähligen Bandera-»Debatten«, die meist eher die Form des Raunens annehmen, zeigen, dass eine tiefgehende Auseinandersetzung mit dem historischen Kontext in der Regel ausbleibt oder abgewehrt wird.

Täter unter deutschem Kommando

Das ist auch kein Wunder: Das Interesse für das, was insbesondere zwischen 1941 und 1944 in der besetzten Ukraine geschehen ist, muss hierzulande klein bleiben, denn es wirft Fragen über die deutschen Besatzer auf. Ohne ihre Hunger- und Gewaltordnung, die dem Einmarsch der Wehrmacht folgte, hätte es vor Ort zwar Antisemitismus und ukrainischen Nationalismus, aber keine Waffen-SS, keine Schutzmannschaften (ukrainische Hilfspolizei), keine Hiwis (Hilfswillige in der Wehrmacht) und keine »Trawniki«-Männer gegeben. Diese Organisationen wurden von den deutschen Besatzern geschaffen und waren ihrer Kontrolle unterworfen. Viele Ukrainer*innen gehörten zu ihren Opfern. Es hätte aber auch keine sechs Millionen sowjetische Kriegsgefangene im deutschen Gewahrsam gegeben, von denen über die Hälfte elendig verstarb und von denen sich einige in deutsche Einheiten rekrutieren ließen und oftmals zu Tätern wurden.

Die Gründung der ukrainischen Waffen-SS-Division im Frühjahr 1943 erfolgte bereits im Kontext des deutschen Rückzugs. Sie war Teil einer veränderten Taktik im Umgang mit der einheimischen Bevölkerung, die zunehmend darauf setzte, diese auch bewaffnet in die eigenen Herrschaftsstrukturen einzugliedern. Der Grund hierfür war die auch für die Deutschen verheerende Kriegssituation, deren Ausgang jedoch noch nicht eindeutig vorhersehbar war. Die Mannschaften wurden vorwiegend vom Melnyk-Flügel der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN-M) gestellt, während die Bandera-Fraktion (OUN-B) die Gründung der Division ablehnte.

Der große Zulauf überraschte jedenfalls sogar die Besatzer. Dem Bericht einer deutschen Oberfeldkommandantur zufolge musste eine große Anzahl der Bewerber wegen Krankheit und zu kleinen Körperwuchses zurückgewiesen werden. Bis Jahresende 1943 umfasste sie 15.299 Soldaten, zu einer kampfbereiten Truppe unter Befehl der Waffen-SS wurde sie bis zum Sommer 1944 ausgebildet. Es sind mindestens drei Massaker an polnischen Zivilist*innen bekannt, an denen die Division Hunkas beteiligt gewesen sein soll.

Dass es zu den historischen Tatsachen zählt, dass in die Waffen-SS auch viele sogenannte Volksdeutsche aus den besetzten Ländern rekrutiert wurden, scheint ebenfalls wenig bekannt zu sein. Die »Fremdvölkischen« wurden häufig im sogenannten »Bandenkampf« eingesetzt und waren am Terror gegen die polnische Bevölkerung beteiligt. Auch für die Verschleppung sowjetischer Zivilist*innen zur Zwangsarbeit wurden sie eingesetzt. Viele entschieden sich vor und in den Tagen des deutschen Rückzugs auch anders und schlossen sich etwa den sowjetischen Partisan*innen an. Nicht selten hatten auch die Helfer*innen des NS Doppelrollen inne, gehörten vorher oder nachher sowjetischen oder sowjetisch kontrollierten Partisanenformationen an. Sowohl ihre Opfer als auch ihr Handeln verweisen auf deutsche Täterschaft – und genau deshalb bleibt es bei jener symbolischen Empörung, statt sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus in der Ukraine, die am Ende immer zu deutscher Täter*innenschaft zurückführt, ernsthaft auseinanderzusetzen.

Johannes Spohr

ist Historiker und betreibt den Recherchedienst present past zum Nationalsozialismus in Familie und Gesellschaft (present-past.net). Er promovierte zur Ukraine in der Zeit des Rückzugs der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, sein Buch »Die Ukraine 1943/44. Loyalitäten und Gewalt im Kontext der Kriegswende« erschien im Metropol-Verlag.