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|ak 673 | Geschichte

Umkämpfte Erinnerung

Vor 80 Jahren ermordeten SS, Wehrmacht und Hilfstruppen zehntausende jüdische Menschen im ukrainischen Babyn Jar

Von Jonathan Welker

Nach dem Massenmord an 33.771 Jüd*innen in Babyn Jar versuchen Soldaten, die Spuren zu verwischen. Foto: Wikipedia, gemeinfrei

Am 20. September 1941 explodierte eine Bombe in der Zitadelle in Kiew, zahlreiche weitere Explosionen in der Innenstadt folgten. Ziel der Anschläge waren die neu errichteten Stützpunkte der deutschen Truppen, die im Begriff waren, die Hauptstadt der ukrainischen Sowjetrepublik einzunehmen. Dass bei den von der sich zurückziehenden Roten Armee durchgeführten Bombenanschlägen neben zahlreichen Ukrainer*innen auch deutsche Soldaten starben, war den Befehlshabern von Wehrmacht und SS ein willkommener Vorwand. Umgehend veranlassten sie »Vergeltungsmaßnahmen«, deren Kern der bereits geplante Massenmord an den Kiewer Jüd*innen war.

Was folgte, war das größte Massaker des Zweiten Weltkriegs in Europa. »Ich renne auf den Balkon hinaus und sehe Menschen, die in einer schier endlosen Kolonne vorüberziehen, sie füllen die ganze Straße und die Bürgersteige aus. Es gehen Frauen, Männer, junge Mädchen, Kinder, Greise, ganze Familien. Viele führen ihr Hab und Gut auf Schubkarren mit sich, aber die meisten tragen ihre Sachen auf den Schultern. Sie gehen schweigend, leise. Es ist unheimlich«, erinnert sich die Lehrerin L. Nartova später an das Geschehen am Morgen des 29. September 1941 in der Kiewer Innenstadt. Das aus SS, Gestapo und Polizeieinheiten zusammengesetzte Sonderkommando 4a hatte in den Tagen zuvor die verbliebene jüdische Bevölkerung der Metropole dazu aufgerufen, sich an einem zentralen Treffpunkt einzufinden. Viele glaubten an eine Deportation, doch die Deutschen und ihre ukrainischen Hilfstruppen trieben die Menschen zu einer großen Schlucht am Stadtrand von Kiew − Babyn Jar.

Bürokratische Präzision

Die »Altweiber-Schlucht«, so die deutsche Übersetzung, war zu diesem Zeitpunkt bereits von hunderten Wehrmachtsoldaten umstellt, eine Flucht nahezu unmöglich. Systematisch begannen die deutschen Truppen mit der Erschießung tausender Menschen. Opernmusik sollte die Schüsse und Schreie übertönen, den Soldaten wurde Schnaps und Essen bereitgestellt, damit sie beim stundenlangen Morden bei Kräften blieben. »Die Juden mussten sich mit dem Gesicht zur Erde an die Muldenwände hinlegen. (…) Gleichzeitig sind diesen Erschießungstrupps von oben her laufend Juden zugeführt worden. Die nachfolgenden Juden mussten sich auf die Leichen der zuvor erschossenen Juden legen. Die Schützen standen jeweils hinter den Juden und haben diese mit Genickschüssen getötet«, sagte der beteiligte SS-Mann Kurt Werner später in den Nürnberger Prozessen aus.

Nach dem zwei Tage andauernden Massaker vermeldete die Einsatzgruppe C in nüchternem Ton und mit bürokratischer Präzision nach Berlin: »In Zusammenarbeit mit dem Gruppenstab und zwei Kommandos des Polizeiregiments Süd hat das Sonderkommando 4a am 29. und 30. September 33771 Juden exekutiert. (…) Von der Wehrmacht wurden die durchgeführten Maßnahmen ebenfalls gutgeheißen.«

Doch auch nach dem 30. September 1941 wurde die Schlucht Babyn Jar als Exekutionsstätte genutzt. Bei weiteren »Aktionen nach Kriegsgebrauch«, so ein üblicher Tarnbegriff für die Massenmorde, wurden tausende Jüd*innen, Kommunist*innen,  Sintize und Sinti sowie Romnja und Roma, psychisch kranke Menschen, sowjetische Kriegsgefangene und zahlreiche ukrainische Nationalist*innen erschossen. Bis zur Befreiung Kiews fanden so mindestens 65.000 Menschen in Babyn Jar den Tod.

Hinter den abstrakten Zahlen finden sich persönliche Schicksale. Die Namen von zehn der zehntausenden jüdischen Opfer, die in Babyn Jar ermordet wurden, lauten:

Beba Braginski, 34, Ingenieurin. Maia Broide, 48, Hausfrau. Tania Cholupko, 13, Schülerin. Yosef Brozer, 58, Lieferant. Emilia Edelman, 20, Studentin. Izrail Freidinov, 75, Pensionär. Mikhael Katzovski, 11, Schüler. Yitzkhak Kordysh, 28, Biologe. Rakhil Novak, 27, Arbeiterin. Olga Tzeitlin, 79, Hausfrau.

Forderung nach einem Denkmal

Im Juli 1943, kurz vor dem Rückzug, versuchten die deutschen Truppen, die Spuren ihrer Verbrechen zu beseitigen. Unter der Leitung des SS-Offiziers Paul Blobel zwang ein Sonderkommando KZ-Häftlinge dazu, die Leichen zu exhumieren und zu verbrennen. Doch zumindest Blobel gelang dies nicht: Er wurde in einem Nachfolgeprozess der Nürnberger Prozesse zum Tode verurteilt und 1951 erhängt. Weitere Angehörige des die Morde ausführenden Sonderkommandos 4a wurden 1968 im sogenannten »Callsen-Prozess« zu langjährigen Hafstrafen verurteilt. Zahlreiche Täter blieben jedoch unbehelligt. So wurde kein einziger Soldat oder Offizier der Wehrmacht je angeklagt, und der letzte Prozess gegen ein ehemaliges Mitglied des Sonderkommandos wurde 2020 aus Mangel an Beweisen eingestellt.

Unmittelbar nach dem Krieg war in den offiziellen sow­jetischen Verlautbarungen nicht mehr − wie bisher − von »Juden« als Opfer des Massakers von Babyn Jar die Rede.

Die defizitäre juristische Aufarbeitung findet ihre Entsprechung in der deutschen Erinnerungskultur. Während die Namen der deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager in Polen zahlreichen Menschen ein Begriff sind, sind die Vernichtungsorte in der ehemaligen Sowjetunion weitgehend unbekannt. Zu Unrecht, wie der Historiker Wolfgang Benz betont: »Vor allem gerät in Vergessenheit, dass der Massenmord nicht mit Auschwitz in der Gaskammer beginnt, sondern zur Zeit der Wannsee-Konferenz im Januar 1942 haben die Einsatzgruppen schon mindestens eine halbe Million Juden ermordet.« Die gezielte Ermordung der sowjetischen Jüd*innen verschwindet in der öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland oftmals hinter den westeuropäischen Opfern des zur Metapher geronnenen Auschwitz.

Dennoch: Als größtes einzelnes Massaker während des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion wurde Babyn Jar zum Symbol für den »Holocaust durch Kugeln«. Dazu beigetragen hat auch die allmähliche Öffnung des Gedenkens an die Shoa in der Ukraine nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Dieser Prozess war dabei nie geradlinig und bleibt bis heute umkämpft. Unmittelbar nach dem Krieg war in den offiziellen sow­jetischen Verlautbarungen nicht mehr − wie bisher − von »Juden« als Opfer des Massakers von Babyn Jar die Rede. Stattdessen wurde verallgemeinernd von »friedlichen sowjetischen Bürgern« gesprochen. Ein spezifisch jüdisches Gedenken passte nicht zur stalinschen Doktrin. Seit den frühen 1960er Jahren fanden dann regelmäßig Gedenkveranstaltungen der wachsenden jüdischen Gemeinde Kiews statt. Die Veranstaltungen wurden jeweils schnell von den sowjetischen Sicherheitskräften zerschlagen. Zu dieser Zeit veröffentlichte Jewgeni Jewtuschenko auch sein bekanntes Gedicht »Babyn Jar«. In ihm forderte der junge sow­jetische Autor ein Denkmal ein und betont die jüdische Identität des Großteils der Opfer:

Ȇber Babyn Jar, da steht keinerlei Denkmal.

Ein schroffer Hang – der eine, unbehauene Grabstein.

Mir ist angst.

Ich bin alt heute, so alt wie das jüdische Volk.

Ich glaube, ich bin jetzt ein Jude.«

Doch die Betonung jüdischer Opfer sollte bis zum Ende der Sowjetunion problematisch bleiben. Den Höhepunkt des repressiven Umgangs mit dem Gedenken bildete die teilweise Überbauung des historischen Tatorts. Eine langsame Änderung des geschichtspolitischen Umgangs setzte erst in den 1970er Jahren unter Leonid Brechnew ein. Erst 1976 entstand das erste offizielle Denkmal in Babyn Jar, gewidmet war es »allen Sowjetbürgern, Kriegsgefangenen und Offizieren der Sowjetarmee, die von deutschen Faschisten in Babyn Jar erschossen wurden«. Auch hier blieben Jüd*innen unerwähnt und das Gedenken weitestgehend unter staatlicher Kontrolle. Erst 1991 wurde ein explizit jüdisches, religiöses Denkmal in Form einer stilisierte Menora aus Bronze in Babyn Jar errichtet. Neben diesem Denkmal existieren mittlerweile dreißig weitere Memoriale auf dem Gelände von Babyn Jar.

Diese Vielfalt ist dabei authentischer Ausdruck der Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit der erinnerungspolitischen Deutung des Verbrechens. Eines der Denkmale, in Form eines Kreuzes, erinnert so an die ukrainischen Nationalist*innen, die hier ermordet wurden. Die Rolle der ukrainischen Nationalist*innen, zum großen Teil Angehörige der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), war wärend der deutschen Besatzung jedoch bestenfalls ambivalent. Noch im Juni 1941 begrüßte die Führung der OUN den Einmarsch der Deutschen, bot ihre Kollaboration an und hoffte auf eine unabhängige Ukraine. Die Besatzungsmacht hatte hieran jedoch kein Interesse: »Für die Haltung der Deutschen (…) ist der Standpunkt maßgebend, dass wir es mit einem Volk zutun haben, das in jeder Hinsicht minderwertig ist«, bekundete der damalige »Reichskommisar Ukraine« Erich Koch. Es folgte eine gezielte Zerschlagung der Strukturen der OUN, als deren Teil zahlreiche Nationalist*innen ermordet wurden.

Auch das Babyn Jar Holocaust Memorial Center mit dessen Bau zeitnah begonnen werden soll, bleibt Anlass für heftige Auseinandersetzungen. Finanziert wird es zum größten Teil von russischen Oligarchen jüdischer Herkunft, denen beste Beziehungen zu Putin nachgesagt werden. In der Ukraine befürchten deshalb viele eine geschichtspolitische Einflussnahme Moskaus. Eine umfassende Auseinandersetzung der ukrainischen Mehrheitsbevölkerung mit der eigenen, ambivalenten und widersprüchlichen Involvierung in die Shoa steht jedoch ebenso noch aus. Und so bleibt Babyn Jar auch am 80. Jahresstag des deutschen Massenmords ein pluraler und umkämpfter Erinnerungsort.

Jonathan Welker

ist Historiker und stadtpolitisch aktiv in Berlin.