»Ich ahnte voraus, was dann explodierte«
Der neue Roman der US-Schriftstellerin Rachel Kushner handelt von ökologischen Kämpfen im ländlichen Frankreich
Interview: Marlon Lieber

Rachel Kushners Roman »See der Schöpfung« erzählt von Sadie Smith, die als Agent Provocateur eine anarchistische Kommune in Südfrankreich infiltriert, deren Mitgliedern vorgeworfen wird, ein geplantes Méga-Bassine sabotiert zu haben. Gleichzeitig taucht sie immer tiefer in die Gedankenwelt des radikalen Denkers Bruno Lacombes ein, der den Kommunard*innen E-Mails mit spekulativen Ausführungen über das Schicksal der Neandertaler und der menschlichen Zivilisation schickt.
Wie kam es, dass du über militante ökologische Kämpfe in Frankreich geschrieben hast?
Rachel Kushner: Die Idee kam mir Ende 2008, als die Landkommune Tarnac von der französischen Polizei gestürmt wurde. Ich interessierte mich für die Schriften aus dem Umfeld der Kommune, die unter dem Namen Tiqqun veröffentlicht wurden. Diese Schriften kannte ich durch meinen Mann, der Tiqquns zweites Buch »Anleitung zum Bürgerkrieg« mit ins Englische übersetzt hat. Mich interessierte der Kontrast zwischen der Metropole und »La France profonde«, dem provinziellen Leben, sowie die Vorstellung der ländlichen Gegend als Ort, der bestimmte Methoden hat, sich gegen Übergriffe des Staates zu wehren. Es ging mir also nicht nur um Tarnac. Aber ich wurde dort als Freundin, Genossin und Besucherin eingeladen. Um ehrlich zu sein, nahm ich dort deutlich eine bestimmte Art von Paranoia und Abgeschlossenheit wahr, was nachvollziehbar ist, wenn eine Gruppe von Menschen von der Polizei durchsucht und von einem Polizeispitzel unterwandert wurde, von Mark Kennedy, auch bekannt als Mark Stone, der für die englische Metropolitan Police arbeitete.
Was hat der Spitzel genau gemacht?
Mark Kennedy hatte die französischen, amerikanischen und kanadischen Polizeibehörden über ein Treffen von einigen Leuten in New York City informiert. Eine Person, die wegen dieser Sache angeklagt wurde, hatte Zugang zu den Beweismitteln, welche die Anklagebehörde der Verteidigung übergeben hatte. Diese wurden mir gezeigt und sie beinhalteten Fotografien von Leuten, die ich kenne, wie sie in New York die Straße entlanggehen. Wie Sadie im Roman sagt: Wenn Menschen zu einem G7-Gipfel oder einer Demo gehen, wissen alle, dass sie fotografiert werden. Aber das waren bloß Leute auf der Straße, und das gab mir einen Eindruck von einer Art Intrige, die man von der Genreliteratur erwarten würde, aber nicht von einem aktivistischen Milieu und unter seinen eigenen Freund*innen. Womöglich fielen für mich in diesem Moment das echte Leben mit dem Gespenst des Kriminalromans zusammen.
Ich dachte darüber nach, einen Roman über eine Gruppe zu schreiben, die eine Kommune gründet, und ich wollte ihn an einem Ort ansiedeln, der sich aus Elementen von einem Landstrich im südwestlichen Zentralmassiv, den ich sehr gut kenne, zusammensetzt. Es ist nicht das nördliche Corrèze, es ist nicht Tarnac. Le Moulin ist ausgedacht. Es gibt auch andere Vorbilder, die ich im Buch platziert habe, von Notre Dame des Landes (ak 690) bis hin zum Susatal und der NoTAV-Bewegung (ak 698).
Die Gruppe kommuniziert per E-Mail mit Bruno Lacombe, einem älteren Radikalen, der den Mai 1968 miterlebt hat. Was ist Brunos Funktion in deinem Roman?
Ich stellte mir einen Mentor der Gruppe vor, der flüchtig vom linken Theoretiker Jacques Camatte inspiriert ist, der »This World We Must Leave« (so der Titel einer Sammlung ins Englische übersetzter Texte, Anm. d. Red.) geschrieben hat. Aber ich wollte nicht wirklich jemanden auf Grundlage von Camattes Theorien erschaffen. Es sollte eher um einen geheimnisvollen Mentor gehen, der die Zivilisation ablehnt, aber dennoch lange Kommuniqués per E-Mail an die Mitglieder der Gruppe schickt, da ich das immer über Camatte gehört hatte. Ich hatte trotzdem meine eigene Vorstellung von Bruno, und er hat sich von Anfang an sehr real angefühlt. Das Buch beginnt mit seiner Stimme, auch wenn sie von Sadie übersetzt wird.
Rachel Kushner
wurde 1968 im US-Bundesstaat Oregon geboren. Ihre Eltern, die der Beatnik-Szene angehörten, zogen zunächst mit ihr im Wohnwagen umher, bis sie sich 1979 in San Francisco niederließen. Kushner arbeitete zunächst in New York als Redakteurin einer Literaturzeitschrift. Ihre Romane »Telex aus Kuba« (2009), »Flammenwerfer« (2013) und »Ich bin Schicksal« (2019) waren New-York-Times-Bestseller; ihre Bücher wurden in 27 Sprachen übersetzt. Rachel Kushner lebt in Los Angeles, ihr neuer Roman »See der Schöpfung« erscheint in deutscher Übersetzung Mitte April bei Rowohlt.
Ich hatte ihn. Ich hatte Le Moulin. Ich hatte die Region. Ich hatte die Situation. Die Gruppe arbeitet mit lokalen Landwirt*innen, um das Projekt der Agrarindustrie zu verhindern, das Wasser zu kontrollieren. Ich hatte in einem französischen Zeitungsartikel über diese Méga-Bassines gelesen und dachte mir, dass es keine sehr gute Idee zu sein schien, das Wasser dem Grundwasser zu entnehmen und es in riesigen mit Plastik ausgekleideten Becken zu lagern. (ak 692) Und ich hatte bereits die Figur von Bruno, der in einer Höhle auf seinem Grundstück lebt und daher vertraut mit dem unterirdischen Fließen des Wasser ist. Ich stellte mir vor, dass Bruno denken würde, dass das Erdreich die sinnvollste Aufbewahrungsstätte für das Wasser sei. Es kühlt das Wasser, filtert es, hält es rein und sauber und hindert es am Verdunsten. Also hatte ich das Gefühl, dass er, als jemand, der unter der Erde lebt, seine eigene Meinung über das Wasser haben würde. Und dass die Landwirt*innen die Kontrolle des Wassers durch den Staat und private Agrarunternehmen ablehnen würde. Darum würde der Kampf gehen. Ich wählte dieses Thema 2019, als ich anfing, das Buch zu schreiben. Als ich das Buch dann 2022 fertiggestellt hatte, gab es diese neue Bewegung, die Soulèvements de la Terre. (ak 707) Ich hatte also etwas vorausgeahnt, was dann richtig explodierte.
Es sind oft Liberale, die keine Verbindung zu linker Politik haben, die mir oder meinem Roman vorwerfen, zynisch zu sein.
Sadie ist eine faszinierende Figur. Als sie Brunos E-Mails zuerst liest, nimmt sie seine Spekulationen über Neandertaler bloß in Form von verdinglichten Bildern wahr, was mich an Debords Schriften über das Spektakel erinnert hat. Und doch führt ihre Lektüre von den E-Mails zu einer Transformation.
Mir gefällt diese Beobachtung. Es war nicht bewusst von mir gewählt, aber sie scheint sicherlich das darzustellen, was Debord das »diffuse Spektakel« nennt, das von allen Handelnden auf ihre eigene Art reproduziert wird. Sie erwähnt Popkultur und Filme, was eine Möglichkeit für mich war, die Figur kennenzulernen und einen ent-romantisierten Kontrast zu Bruno herzustellen. Zuerst macht sie sich über seine Thesen lustig. Aber es scheint dann relativ schnell so, als wäre er ihr einziger Gefährte. Sie steckt in einer ontologischen Zwickmühle. Später im Buch sagt sie über die Bewohner der Kommune, dass niemand von ihnen real für sie sei.
Ich dachte über diese Art der Vereinzelung nach. Ihre Urszene ist es, vom FBI gefeuert zu werden, während es Brunos Urszene ist, dass er seine gesamte Familie im Zweiten Weltkrieg im Konzentrationslager verliert und sich dann an den Moment der Freude erinnert, den Helm eines toten deutschen Soldaten gefunden zu haben. Er ermöglichte es mir ganz natürlich, tiefe biografische Schichten auszumalen, so wie bei einem klassischen literarischen Charakter, der eine Vergangenheit hat, so dass er leicht zu schreiben war. Sadie war auch leicht zu schreiben, nachdem ich mir über sie klargeworden war, aber sie öffnet sich überhaupt nicht. Als sie allerdings durch die französische Landschaft läuft, hat sie Brunos E-Mails mit den Schilderungen der natürlichen Schönheit gelesen und wie diese nicht von der menschlichen Geschichte der Region getrennt werden kann. Das situiert sie in einer Art des Menschseins, die sie zuvor geleugnet hat. So kommt es, dass Bruno wie ihr einziger Freund ist. Durch die Realität, die er in seinen E-Mails beschreibt, erhält sie die Bestätigung, dass sie an einem echten Ort ist, auch wenn sie ein falscher Mensch ist. Ich betrachtete sie wegen ihrer ontologischen Zwickmühle als besonders anfällig für diese Lehren, während die Bewohner von Le Moulin besser geschützt sind, da sie als vereinigte Gruppe von Egos einen Konsens erzielen können.
Zuerst hatte ich gedacht, dass sie Rache an ihr üben würden und das Ende des Romans sehr brutal werden würde, wie eine Geschichte von Edgar Allan Poe, dass sie Sadie in einer Höhle einmauern würden. Aber das wäre so moralisierend gewesen, mit der einfachen und uninteressanten Botschaft, dass sich Verrat nicht auszahlt. Wahrscheinlich tut es das nicht. Aber ich musste einen Weg finden, über die moralischen Achsen von Gut und Böse hinauszugehen, meinen Glauben und Brunos zu behalten, sie aber trotzdem davonkommen zu lassen. Und das Ende, dass ich mir ausgedacht habe, fühlte sich genau richtig an.
Einige Rezensent*innen scheinen der Meinung zu sein, dass »See der Schöpfung« sich über Bruno oder die Moulinard*innen lustig macht, dass diese bloß junge Menschen aus dem Bürgertum seien, die Revolution spielen und dabei etwa eine geschlechtliche Arbeitsteilung reproduzieren. Ich hatte nicht diesen Eindruck.
Es sind oft Liberale, die keine Verbindung zu linker Politik haben, die mir oder meinem Roman vorwerfen, zynisch zu sein. Das ist interessant, denn es weist auf ihre Unfähigkeit hin, das Buch zu lesen. Wenn ich einen Roman schreibe, nehme ich an, dass er von allen gelesen werden kann, und ich schreibe keine Bücher, die von den Leser*innen entschlüsselt werden müssen. Daran glaube ich nicht. Aber wenn Kritiker*innen sich vornehmen, dass ihre Rezension schlauer sein soll als die Autorin, werden sie scheitern, denn ich habe das Buch geschrieben. Und wenn sie niemals in Notre Dame des Landes oder Tarnac oder im Susatal waren und nicht mit diesen Leuten in Paris Zeit verbracht oder an Occupy teilgenommen haben und nicht mit Anarchist*innen herumhängen und nichts über die »Green Scare« im Nordwesten der Vereinigten Staaten wissen, als die Cops Klimagruppen unterwandert haben, dann können sie eine sehr romantisierende Vorstellung davon haben, wie Aktivismus aussieht.
Es scheint mir, dass die Leute, für die ich das Buch tatsächlich geschrieben habe, mein Milieu, es am besten verstehen und sehen, dass es nicht zynisch ist. Ich habe mich mit dem Autor Phil Neel unterhalten und er sagte, dass die Rezensionen, die den Roman zynisch nennen, gar nicht verstehen, dass ich zeige, dass die Erzählerin ein Problem ist. Als wäre der Teufel gekommen, um diesen Ort zu zerstören. Sadie wird immer versuchen, Widersprüche aufzuzeigen, um die Ballons mit den romantischen Vorstellungen platzen zu lassen. Aber wenn man jemals versucht hat, mit anderen Leuten etwas zu verwirklichen, dann weiß man, dass es Widersprüche geben wird, dass es manchmal die Frauen sind, die auf die Kinder aufpassen, und die Männer die Traktoren reparieren. Und diese Probleme festzuhalten ist zutreffender. Würde ich eine romantische Welt erschaffen, in der alles funktioniert, dann würde es den Leser*innen bloß zeigen, dass ich kein Recht darauf hätte, in dieser Welt herumzupfuschen, weil ich eindeutig niemals ein Teil davon gewesen bin, wenn ich sie derartig idealisieren würde.