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Entwaffnen wir sie!

Betroffene von Polizeigewalt in Frankreich kämpfen für Gerechtigkeit und gegen ein staatliches Kartell

Von Michèle Winkler

Betroffene von Polizeigewalt in Frankreich organisierten ein Tribunal, an dessen Ende Pappmaché-Figuren in Flammen aufgingen. Foto: Michèle Winkler

Es war ein Prozess der seltenen Art, der vom 12. bis 14. Dezember 2022 vor dem höchsten französischen Strafgericht in Paris stattfand: Alexandre Mathieu, ein Polizist der Spezialkräfte der CRS (Compagnies Républicaines de Sécurité, ein kasernierter Verband der französischen Nationalpolizei) war der vorsätzlichen Körperverletzung mit darauf folgender dauerhafter Gesundheitsschädigung angeklagt. Der Polizist hatte am 15. September 2016 am Ende einer Demonstration gegen das Arbeitsgesetz (bekannt geworden als Loi Travail oder auch Loi El Khomri) eine Granate auf die Place de la République in Paris geworfen. Teile der explodierenden Granate trafen Laurent T. im Gesicht, er verlor ein Auge. Die Schwere der Verletzung und die daraus folgende dauerhafte körperliche Beeinträchtigung führten dazu, dass der Fall am Schwurgerichtshof verhandelt wurde.

Dass es überhaupt zu einem Prozess gegen einen Polizisten kommt, ist in Frankreich ähnlich selten wie in Deutschland. Laurent T., der als Nebenkläger (›partie civile‹) auftrat, sagt selbst, der Prozess an sich sei schon ein Sieg, da die Einstellung der Verfahren gegen Polizist*innen die Norm ist. Zwei Faktoren führten seiner Ansicht nach zur Anklageerhebung: dass es Videos des Granatenwurfs gibt, die die Aussagen der Polizist*innen widerlegten und dass er, das Opfer, weiß ist. Deshalb war es ihm ein Anliegen, den Prozess gegen Alexandre Mathieu nicht allein als Individuum zu führen, sondern politisch, im Kollektiv, mit Unterstützer*innen und weiteren Betroffenen. Es gehe um mehr als nur seine Geschichte, meint er. Alle Opfer von Polizeigewalt sollten Zugang zur Justiz haben und Prozesse führen können. Weiterhin gehe es darum, deutlich zu machen, wie groß das Problem von Polizeigewalt sei, und es gehe ebenfalls darum, und den Einsatz von Kriegswaffen durch die Polizei zu skandalisieren, sowie Kontinuitäten im Kampf gegen Rassismus und Polizeigewalt aufzuzeigen.

Laurent T. hat sich nach seiner Verletzung im Kollektiv Désarmons-les! organisiert (zu deutsch: Entwaffnen wir sie!«). Im Vorfeld des Prozesses organisierte das Kollektiv ein zweitägiges öffentliches Tribunal gegen Polizei und Justiz, bei dem sowohl Laurent T. als auch weitere Verletzte und Angehörige von der Polizei getöteter Menschen sprachen. Am Vortag des Prozesses wurden Artikulation von Wut und Schmerz gezeigt, und doch was es auch ein Tag des Kräftesammelns für die bevorstehenden Prozesstage. Er endete an einer Feuertonne, in der bei Tanz und Fanfaren die Pappmaché-Figuren eines CRS, des Polizeianwalts Lienard und einer Handgranate verbrannt wurden.

Laurent T.s Erwartungen vor dem Prozess waren gering: Er wisse genau, dass er sich auf feindliches Territorium begebe, dass die Prozesstage für ihn nochmal sehr schmerzhaft sein würden. Wenn er sich einen Ausgang wünschen dürfte, dann den, dass Alexandre Mathieu aus dem Polizeidienst entlassen werde und keine Waffe mehr tragen dürfe. Aber er gebe sich keinen Illusionen hin. Aus seinem eigenen politischen Verständnis könne Gerechtigkeit sowieso nicht in solch einem Verfahren hergestellt werden: Diese Justiz, bei der er vor Gericht geladen werde, um den Schuldigen, den Anwalt des Schuldigen und die Zeugen anzuhören, entspreche nicht seiner Vorstellung von Gerechtigkeit. Zudem wolle er niemanden ins Gefängnis bringen, denn Gefängnisse töteten ebenso wie die Polizei. Sein einziger Wunsch sei, dass dieser Typ nicht mehr in einem Beruf mit Waffen arbeite.

Der Granateneinsatz

Sein Wunsch sollte nicht in Erfüllung gehen. Nach drei Prozesstagen wurde Alexandre Mathieu am Abend des 14. Dezember 2022 vom Schwurgericht freigesprochen. Das Gericht stellte zwar fest, dass er die Granate geworfen und damit die dauerhaften gesundheitlichen Schäden Laurent T.s verursacht hatte. Er habe aber in »Notwehr« gehandelt und sei deshalb entlastet. Während Alexandre Mathieu vor Freude die Arme in die Höhe reckt, sind die vielen Unterstützer*innen Laurent T.s und er selbst geschockt.

Dabei war an den drei Prozesstagen anhand der Videos von der Situation und vieler Zeugenaussagen und Sachverständiger deutlich heraus gestellt geworden, wie der Ablauf der Geschehnisse war: Laurent T. steht allein auf der Place de la République in Paris. Die Großdemonstration gegen das Arbeitsgesetz ist beendet, Menschen verlassen den Platz, auch Laurent T. will gerade gehen. Ein kleiner Polizeitrupp der CRS bewegt sich im Laufschritt über den Platz, es sind kaum Menschen in ihrer direkten Nähe zu sehen. Als der Trupp stehen bleibt, tritt einer von ihnen aus der Formation und wirft eine sogenannte »grenade à main de désencerclement« (GMD) – was sich in etwa als »Handgranate zum Aufbrechen einer Umschließung« übersetzen lässt. Der Name deutet an, wofür diese Art von Granaten eingesetzt werden soll: um sich aus einer Notwehrsituation in einer feindlichen Menschenmenge heraus einen Weg »freizumachen«.

Die französische Polizei ist die einzige europäische Polizei, die diese Art von Handgranaten einsetzt. Laut der Analysen des Kollektivs Désarmons-les! nutzt sie sie systematisch als Angriffswaffe, um Versammlungsteilnehmer*innen auseinander zu treiben. Die GMD gehören zur Familie der Splittergranaten: Anstelle metallischer Splitter verschießen diese 18 Kautschukteile, die bei der Explosion mit einer Geschwindigkeit von 95 Metern pro Sekunde in einem Radius von 10 bis 15 Metern verteilt werden. Die GMD kann nicht gezielt eingesetzt werden, sondern verletzt und verstümmelt willkürlich bis zu 18 Personen im Umkreis der Explosion. Eines dieser 18 Kautschukteile trifft Laurent T. mitten im Gesicht. Sein rechtes Auge explodiert direkt, er erleidet Knochenbrüche und fällt zu Boden. Erste Hilfe bekommt er von Demo-Sanitäter*innen, ein Krankenwagen ist erst knapp eine Stunde später vor Ort.

Die GMD gehören zur Familie der Splittergranaten, anstelle metallischer Splitter verschießen diese 18 Kautschukteile.

Im Prozess wurde auch heraus gearbeitet, dass Alexandre Mathieu die Granate nicht hätte werfen dürfen. Erst zwei Wochen zuvor, am 1. September 2016 war er von den BAC (Brigades Anti Criminalité, die polizeiliche Besatzungsmacht der städtischen Vororte) zu den CRS gewechselt. Er hatte noch nicht die vorgesehenen Weiterbildungen absolviert, insbesondere nicht jene, die ihn zum Einsatz von GMD berechtigt hätte. Während der Demonstration hatte er mit einem Kollegen Granatennachschub aus einem Versorgungswagen geholt und eine Granate für sich behalten, ohne dazu berechtigt oder befugt gewesen zu sein. Diese Granate warf er kurz danach in hohem Bogen – entgegen der Dienstvorschrift, dass diese wegen der hohen Verletzungsgefahr für Umstehende nur am Boden gerollt werden darf. Er tat das in einem Moment, in dem es keine unmittelbare Bedrohung gegen ihn oder seine Kollegen gab, der Einsatz der Granate nach den französischen Vorschriften also weder notwendig noch verhältnismäßig war.

Alternative Wahrheiten

Doch all das zählte am Ende nichts. Während der Staatsanwalt in seinem Plädoyer noch eine Verurteilung forderte und keine Notwehrsituation erkennen konnte, entschieden sich die sechs Geschworenen und drei Berufsrichter*innen für einen Freispruch. Ob es die kontrafaktischen Erzählungen der geladenen Polizeizeugen aller Hierarchiestufen waren, die von einem »Hagel von Molotowcocktails», von »terroristischen Gefahrenlagen«, von »Vermummten« und »feindlichen Elementen unter den Demonstrierenden« sprachen; ob das der Fakt war, dass die Vorsitzende Richterin jeden Polizisten lang und breit jede noch so fantastische Geschichte erzählen ließ, während sie sowohl Laurent T. selbst, als auch zwei der drei von ihm benannten Zeug*innen vorzeitig das Wort entzog; ob es der halbe Gerichtssaal voller Polizist*innen und Polizeigewerkschafter*innen war; ob es die Ausführungen von Alexandre Mathieu selbst waren, der sich einer »urbanen Guerilla« gegenüber sah, bereit ihn und seine Kolleg*innen zu töten, die er sodann mit einer Handgranate zu verteidigen suchte, welche er leider in die falsche Richtung und im falschen Winkel warf, weil er wohl die Hand beim Wurf zu spät öffnete; ob es die zwei Stunden Plädoyer seines Anwalts Laurent-Franck Liénard waren, der seinen Vortrag mit den Worten beendete, seinen Mandanten zu verurteilen, bedeute, alle CRS zu kastrieren: Wenn Paris einst in Flammen stehe, würden sie die Arme verschränken, und sie würden Recht daran tun – Was letztlich den Ausschlag für den Freispruch gab, werden wir nie erfahren.

Kollektiv Désarmons-les!

Die Gruppe hat 2010 mit Polizei-Monitoring-Aktivitäten begonnen, war in verschiedenen ökologischen Kämpfen aktiv und hat nach einem brutalen Räumungsversuch der ZAD in Notre Dame des Landes mit vielen Verletzten eine Broschüre über die Waffen der französischen Polizei erstellt. Nachdem bei einer Polizeioperation gegen die ZAD Sivens der Aktivist Rémi Fraisse durch eine militärische Offensivgranate getötet wurde, beteiligte sich Désarmons-les! an der Gründung einer »Versammlung der Verletzten« (Assemblée des Blessés), einem Netzwerk, das durch Polizeiwaffen verstümmelte Personen, ihre Angehörigen und weitere Kollektive zusammenbringt, sowie mit Angehörigen und Solidaritätsinitiativen von der Polizei getöteter Menschen. Das Kollektiv führt eine Chronik und Statistik der von der französischen Polizei Getöteten und Verstümmelten. Im Verlauf der Revolte der Gelbwesten erreichte die Zahl der dauerhaft Versehrten eine schier unfassbare Höhe: In neun Monaten wurden so viele Menschen verstümmelt, wie in den 20 Jahren zuvor. Die 80-jährige Zineb Redouane starb infolge des Beschusses mit einer Tränengasgranate. Das Kollektiv versucht, Kontakt zu den Verletzten aufzunehmen, sie politisch, organisatorisch, juristisch und finanziell zu unterstützen.

Was bedeutet nun ein solches Urteil? Es zeigt zunächst, dass eben auch die Justiz ihren Teil dazu beiträgt, staatliche Gewalt zu legitimieren – sei der Fall auch noch so gut dokumentiert, die selbst gesetzten Richtlinien noch so eindeutig übertreten, die Konsequenzen für die Opfer noch so erschütternd. Und es zeigt, dass die Institution der Justiz gegen Laurent T. eine alternative Wahrheit durchgesetzt hat, wie sie es schon allzu oft zuvor getan hat.

Kurz nach dem Urteil waren die ersten Reaktionen von Laurent T., von den vielen Unterstützer*innen und weiteren Versehrten im Raum Unglauben, Frustration, Niedergeschlagenheit und Wut. Ihre Verletzungen zählten vor der französischen Justiz eben nicht. Laut skandierend verließen alle langsam das Gerichtsgebäude: »Pas de justice, pas de paix – no justice, no peace!« Allen war schon vorher klar gewesen, dass der Kampf gegen staatliche Gewalt nicht an diesem Tag enden würde. Eine punktuelle Anerkennung und Verantwortungsübernahme für die Folgen der Waffengewalt hätte dennoch vielen gut getan. Das Kollektiv »Désarmons-les!« schrieb rund zehn Tage später: »Wir nehmen dieses Urteil, das unsere Herangehensweise radikal verändern wird, zur Kenntnis. Bisher waren wir noch viel zu brav und versöhnlich. Pas de justice, pas de paix. Donc: pas de paix.«

Michèle Winkler

ist politische Referentin beim Komitee für Grundrechte und Demokratie.