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Über sich selbst hinausweisen

Adom Getachews Buch »Die Welt nach den Imperien« ist eine wichtige Korrektur zur bisherigen Geschichte der Dekolonisierung

Von Robert Heinze

Porträt von Adom Getachev
Die äthiopisch-amerikanische Politikwissenschaftlerin Adom Getachew forscht an der Universität von Chicago/USA. Foto: © Joe Sternbec/Suhrkamp Verlag

Die Geschichte der Dritten Welt ist eine Geschichte des Scheiterns. Der Prozess der Dekolonisierung ist nicht nur nicht abgeschlossen, wie es die postkoloniale und dekoloniale Theorie sagen, er wurde vielmehr innerhalb von anderthalb Jahrzehnten durch Schuldenkrisen und Strukturanpassungsprogramme weit zurückgeworfen. Vor diesem Rollback konzeptualisierten antikoloniale Politiker*innen und Intellektuelle ihn auch umfassender und radikaler, als es ihre Kritiker*innen heute oft behaupten. Dekolonisierung bedeutete für sie nicht nur die Entstehung neuer, souveräner Nationen; vielmehr, das zeigt die Politikwissenschaftlerin Adom Getachew in ihrem neu auf deutsch erschienenen Buch »Die Welt nach den Imperien«, stellten sie früh fest, dass echte Souveränität ohne eine umfassende Neugestaltung der internationalen Ordnung nicht möglich sein würde.

Erst seit einigen Jahren interessiert sich die Geschichtswissenschaft für die Versuche in der Zeit zwischen 1955 und 1980, alternative Weltordnungen zu entwickeln. Die daraus entstandenen Arbeiten zeigen die historischen Widersprüche und konkreten globalen Kräfteverhältnisse, die dem Prozess der Dekolonisierung unterlagen. Getachew versucht, eine Theorie der Dekolonisierung zu entwickeln, die diesen Konjunkturen und den ihnen zugrundeliegenden Kräfteverhältnissen Rechnung trägt und essentialistische Annahmen über einen von vornherein zum Scheitern verurteilten antikolonialen Nationalismus genauso vermeidet wie über einen linearen Prozess der Dekolonisierung, der nur unabgeschlossen sei.

Fremdherrschaft versus Nicht-Beherrschung

Die Dekolonisierung, so Getachew, war nicht einfach ein Prozess der Nationenbildung, in dem sich das westfälische System der Nationalstaaten universalisierte. Statt dessen standen sich in ihr schon seit der Zwischenkriegszeit zwei Modelle gegenüber: Fremdherrschaft versus Nicht-Beherrschung. Tatsächlich sprachen auch imperialistische Eliten in der Zwischenkriegszeit von Dekolonisierung, um die imperiale Gegenwart mit der postkolonialen Zukunft zu versöhnen. Viele internationale Institutionen (darunter im Übrigen auch die Anfänge der Europäischen Union), dienten unter anderem dem Zweck, diese Fremdherrschaft in neuer Form fortzuschreiben. Getachew übernimmt, um diese Kontinuität zu beschreiben, den Begriff der »ungleichen Integration« aus der Forschung zur Geschichte des Völkerrechts. Nicht zufällig erinnert er an den des »ungleichen Tauschs« der Weltsystemtheorie. Er bezeichnet aber den Ursprung des Völkerrechts aus der kolonialen Situation: Nichteuropäische Gesellschaften waren keine Nachzügler, sondern von Beginn an darin einbezogen, mit Verträgen, die Ressourcen und Land enteigneten und ihnen die Souveränität nahmen. Diese ungleiche Integration setzte sich in der Dekolonisierung in neuer Form fort. Dagegen kämpften die antikolonialen Nationalist*innen mit ihrem Projekt der Weltgestaltung, historisch anknüpfend an vorherige Versuche – insbesondere die der Internationalen.

Viele internationale Institutionen dienten dem Zweck, Fremdherrschaft in neuer Form fortzuschreiben.

Getachew schreibt zunächst die Geschichte der Selbstbestimmung um, indem Woodrow Wilsons berühmte 14 Punkte nicht als ihr Ausgangspunkt gezeichnet werden, sondern als eine Reaktion auf das von Lenin bereits im Frieden von Brest-Litowsk skizzierte Prinzip der Nichtannexion, ebenso wie auf die sich nach 1917 abzeichnende Gefahr einer Weltrevolution. Der »Wilson’sche Moment« war ein konterrevolutionärer, und der Völkerbund seine Institution. Auch nach 1945 versuchte die weiterhin von den Kolonialmächten dominierte »internationale Gemeinschaft« das imperiale System in den Vereinten Nationen fortzuschreiben.

Dagegen setzten die antikolonialen Nationalist*innen auf die Durchsetzung des Rechts auf Selbstbestimmung. Sie zogen dabei, wie W.E.B. DuBois, explizite Kontinuitätslinien von der Sklaverei über die koloniale Herrschaft hin zur postimperialen Ordnung, als die sie die frühe UN sahen: Das »Problem des Imperiums« war eines der Sklaverei. Dabei waren sie – entgegen der Behauptungen ihrer liberalen Kritiker*innen – auf mehr als einen identitären Nationalismus aus. Die internationalistischen Wurzeln der antikolonialen Bewegung blieben auch im Nationalismus der Zeit nach 1945 erhalten. Das zeigen die verschiedenen Versuche, regionale und kontinentale Föderationen zu schaffen. Sie waren panafrikanistisch, aber vor allem auch wirtschaftspolitisch motiviert: Nur eine Föderation, der es gelang, unterschiedliche Volkswirtschaften miteinander zu koordinieren, konnte sich effektiv den Abhängigkeiten entgegenstellen, indem sie die Konkurrenzen der peripheren Staaten untereinander minimierte. Genau an diesen Konkurrenzen zerbrachen die Modelle; aber auch an den ethnischen und regionalen Spannungen innerhalb einiger Nationalstaaten, die deren Regierungen nervös machten, Teile ihrer Souveränität abzugeben.

Trotz ihres Scheiterns zeigen diese Versuche aber für Getachew, dass selbst auf dem Höhepunkt der Dekolonisierung keineswegs entschieden war, dass sie in der Herausbildung neuer Nationalstaaten enden würde. Und auch die Gegner*innen föderaler Staaten sahen die Notwendigkeit einer wirtschaftspolitischen Koordination, die sich den Abhängigkeiten entgegenstellte, in denen die peripheren Staaten weiterhin gefangen waren. Daraus ergab sich schließlich auf internationaler Ebene das Projekt der Neuen Weltwirtschaftsordnung (NWWO). Denn noch während die Föderationen zur Debatte standen, begannen sich die Handelsbedingungen zu verschlechtern, so dass nationale Pläne, mittels des Verkaufs von Rohstoffen eigene, einheimische Industrien aufzubauen und sich mittels »Importsubstitution« aus den Abhängigkeiten zu befreien, nicht ohne internationale Koordination und Solidarität möglich waren.

Revision der Theorie der internationalen Beziehungen

Die Neue Weltwirtschaftsordnung, bereits 1964 auf der ersten Welthandelskonferenz vorgestellt, stellt einen der radikalsten Versuche dar, Nichtbeherrschung auf internationaler Ebene wirtschaftlich und politisch durchzusetzen. Sie kombinierte Instrumente zur Preisstabilisierung von Rohstoffen, Schuldenentlastung und Änderungen im Währungssystem, um den Benachteiligungen und Abhängigkeiten der Peripherie entgegenzuwirken. Getachew sieht sie einerseits stark von dependenztheoretischen Ansätzen beeinflusst, stellt aber heraus, dass sie einer liberalen politischen Ökonomie und einem reformerisch-sozialdemokratischen Ansatz verhaftet blieb. Radikalere Ökonomen wie Samir Amin kritisierten das entsprechend. Doch selbst ein so reformerischer Ansatz wurde von Institutionen wie dem IWF und innerhalb der UN hart bekämpft.

Getachew schreibt die Geschichte der Dekolonisierung neu und nutzt sie für eine Revision der Theorie der Internationalen Beziehungen. Dabei betont sie, dass die Bildung neuer Nationen keine notwendige und lineare Entwicklung war, keine Erfüllung eines westfälischen Universalismus. In der Zeit der Dekolonisierung standen viele Möglichkeiten offen, und die antikolonialen Aktivist*innen versuchten, sie zu nutzen. Dabei standen sie mächtigen Gegenkräften und Tendenzen entgegen. Auch die Fehler und Brüche in den Konzepten ihrer Protagonist*innen verschweigt sie nicht.

In den Sezessionskrisen des Kongo und Nigerias zeigten sich beispielsweise die Widersprüche zwischen postkolonialer Souveränität und individuellen Menschenrechten. Die NWWO dagegen unterschätzte die zu einer wirklichen Umgestaltung des kapitalistischen Weltsystems notwendige Radikalität ebenso wie die ungleichen Beziehungen zwischen den Staaten der Dritten Welt. Allerdings fokussiert Getachew stark auf die ideengeschichtlichen und diplomatischen Aspekte internationaler Beziehungen. Trotz ihrer Betonung der wirtschaftspolitischen Aspekte der antikolonialen Weltgestaltung geht sie nicht auf die politökonomischen Analysen ein, die in diesem Zusammenhang entwickelt wurden.

Auch die Kritik der antikolonialen Internationalist*innen aus der vorhergehenden Generation, wie C.L.R. James, und der Dependenzschule wird nur am Rande erwähnt. Diese stellten auf die Klassenwidersprüche – sowohl im nationalen wie internationalen Rahmen – des Antikolonialismus ab und begleiteten letztendlich von ihnen als »national-bourgeoise« Projekte betrachtete – wie die von Kwame Nkrumah, Eric Williams und Julius Nyerere – kritisch. So erwähnt Getachew zwar die Kritik der »Dependistas« an der NWWO, reduziert diese allerdings auf die Forderung, sich von der Weltwirtschaft »abzukoppeln«. Kritiker wie Samir Amin setzten in ihren Vorschlägen aber auf alternative Solidaritäten und konkrete Klassenpolitik in der Dritten Welt, nicht auf die Autarkie nationaler Volkswirtschaften.

Trotzdem bildet das Buch gemeinsam mit anderen historischen Arbeiten eine wichtige Korrektur zur bisherigen Geschichte der Dekolonisierung. Getachew betont die Möglichkeiten des antikolonialen Moments, seine Ambivalenzen und seine Radikalität ebenso wie die Ambivalenzen eines antikolonialen Nationalismus, der versuchte, über sich selbst hinauszuweisen.

Robert Heinze

ist Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut Paris und forscht zur Zeitgeschichte Afrikas.

Adom Getachew: Die Welt nach den Imperien. Aufstieg und Niedergang der postkolonialen Selbstbestimmung. Suhrkamp, Berlin 2022. 448 Seiten, 34 EUR.