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»Wir müssen Beweise sammeln«

Die Aktivistin Hope Barker über Strategien gegen die Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen

Interview: Ulrike Wagener

Drei junge Geflüchtete blicken von der türkischen Seite aus über den Evros und auf das andere Ufer. Auf der griechischen Seite sind zwei Soldat*innen zu sehen, die am Fluss patrouliieren. Das Bild wurde aus der Perspektive hinter den den drei Geflüchteten aufgenommen, man sieht sie von hinten
Auf der griechischen Seite des Evros, der das Land von der Türkei trennt, patrouillieren Soldat*innen. Die Grenzen Europas zu überwinden, wird für Menschen auf der Flucht immer gefährlicher. Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Emrah Gurel

Allein im Januar starben 100 Flüchtlinge im Mittelmeer oder wurden vermisst. Das sind doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Hope Barker beobachtet die europäischen Grenzen schon seit Langem.

Warum sterben aktuell noch mehr Menschen auf der Flucht?  

Hope Barker: Der Hauptgrund dafür ist der völlige Mangel an sicheren und legalen Fluchtwegen. Wenn Menschen nicht sicher migrieren können, hören sie nicht auf zu migrieren. Studien zeigen, dass sie einfach riskantere Routen nehmen und mit größerer Wahrscheinlichkeit sterben. Entlang der sogenannten Balkanroute sterben Geflüchtete an Verkehrsunfällen, Erstickungstod und Ertrinken in Flüssen. Das würde nicht passieren, wenn die Menschen zu Fuß bis zu einem Grenzübergang gehen und dort um Asyl bitten könnten in dem Wissen, dass ihr Antrag auch wirklich geprüft wird. Europäische Politiker*innen wollen die ganze Verantwortung für die Toten den Schlepperbanden zuschieben, aber Schlepperbanden würden nicht existieren, wenn es sichere und legale Fluchtwege gäbe.

Im Dezember einigte sich das EU-Parlament mit den Mitgliedsstaaten auf eine Verschärfung des gemeinsamen europäischen Asylsystems (GEAS). Vorgesehen sind »Grenzverfahren« unter haftähnlichen Bedingungen auch für Kinder und eine Ausweitung der angeblich sicheren Drittstaaten. Was ist die gravierendste Veränderung für Geflüchtete, sobald dieser Pakt umgesetzt wird?

Meine größte Sorge ist die rechtliche Fiktion der Nicht-Einreise. Die Mehrheit der Schutzsuchenden werden zunächst ein Screening an der Grenze durchlaufen und danach ein Grenzverfahren. Sollten sie über einen sogenannten sicheren Drittstaat gekommen sein, werden sie direkt wieder abgeschoben. Und während dieser ganzen Zeit gelten sie offiziell als nicht eingereist, sie bleiben in einem Schwebezustand. Ich denke, das wird zu Masseninhaftierungen und Massenabschiebungen an den Grenzen führen.

Welche Rechte haben die Menschen dann noch?

Die EU-Politiker*innen sagen, dass die Mitgliedsstaaten weiterhin an die Grundrechtscharta der EU gebunden sind. Allerdings gilt die Charta nur für das Territorium der Mitgliedsstaaten. Und in dem Gesetzesentwurf steht dazu nichts Explizites. Die Gefahr besteht also, dass die Grundrechte für Geflüchtete weiter beschnitten werden.

Foto: Privat.

Hope Barker

ist Aktivistin für die Rechte von Geflüchteten. Von 2019-2023 arbeitete sie im Bereich als Senior Policy Analyst für das Border Violence Monitoring Network (Netzwerk zur Beobachtung von Gewalt an der Grenze). Derzeit recherchiert sie unabhängig zu Todesfällen und Verschwindenlassen an den Grenzen.

Bei deiner Arbeit für das Border Violence Monitoring Network (BVMN) hast du Pushbacks entlang der Balkanroute beobachtet und Berichte von Zeug*innen gesammelt. Was erzählen sie?

Generell lässt sich ein Muster erkennen, das überall befolgt wird. Wenn die Menschen in der Nähe der Grenze aufgegriffen werden, werden sie direkt zurückgeschoben. Werden sie im Inland aufgegriffen, werden sie oft zwischen Polizeistationen hin- und hergeschoben und dann in Gruppen zurück über die Grenze gebracht. In den meisten Fällen ist das von einem hohen Maß an Gewalt begleitet, normalerweise reden wir da über Schläge und Tritte und den Einsatz von Schlagstöcken. Aber wir haben auch Fälle, wo es Scheinhinrichtungen gab, erzwungene Entkleidungen, den Einsatz von elektrischen Entladungswaffen, Menschen wurde der Kopf rasiert oder mit Kreuzen besprüht. Fast immer wird ihnen ihr ganzes persönliches Hab und Gut genommen und ihr Geld. Oft werden ihre Kleider und Habseligkeiten verbrannt. Wir sehen das an allen EU-Außengrenzen. Als wir 2017 mit der Überwachung begannen, war es Ungarn, das Pushbacks nach Serbien durchführte. Dann schloss Ungarn seine Grenzen und errichtete einen Zaun. Die Route verlagerte sich nach Kroatien und ein paar Monate später sahen wir dort genau dieselben Taktiken angewendet. Es gibt also eine gemeinsame Praxis oder ein gemeinsames Lernen, denn wie sonst könnte man an allen Außengrenzen der EU dieselben Muster erkennen?

Diese Praktiken der Mitgliedsstaaten verstoßen alle gegen das Gesetz. Aktuell sammelt eine europäische Bürgerinitiative Unterschriften, um die EU zur Einhaltung von Artikel 4, dem Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung zu bewegen. Wie erfolgreich kann diese Initiative sein?

Diese Praktiken sind definitiv eine Verletzung von Artikel 4. Wir erstellen Berichte über Folter, in denen wir die Aussagen der Zeug*innen den verschiedenen Typen von Folter zuordnen. Man muss sich aber klarmachen, dass ein Pushback an und für sich eine Rechtsverletzung ist. Die Gewalt ist ein erschwerender Umstand, aber selbst wenn jemand ohne Gewalt zurückgedrängt wird, bleibt es eine Verletzung seiner Rechte. Diese Initiativen sind alle super wichtig! Aber seit drei oder vier Jahren ist bekannt, dass diese Dinge passieren. Als wir mit unserer Arbeit begannen, wollten wir das Thema auf die Tagesordnung bringen. Wir dachten, wenn wir die Politiker*innen dazu bringen, diese Pushbacks zuzugeben, muss es aufhören. Heute weiß auf politischer Ebene jede*r, dass es passiert, bis hin zur Spitze der EU. Aber es ist ihnen einfach egal. Es gibt keinen politischen Willen, das zu stoppen.

Du hast selbst eine kleine NGO gegründet, die anonym bleiben soll. Sie verteilt Lebensmittel an Geflüchtete in Thessaloniki.

Vor der Pandemie war Thessaloniki eine Transitstadt für viele Geflüchtete. Täglich waren hier 500 bis 600 Menschen, die nach Essen gesucht haben. Aber mit der Pandemie änderte sich das. Wir durften damals kein Gemeindezentrum mehr betreiben, also gingen wir nach draußen. In dieser Zeit hat die griechische Polizei begonnen, Massenverhaftungen und Razzien vorzunehmen. Wir erfuhren dann später, dass diese Menschen ohne formelles Verfahren in die Türkei abgeschoben wurden. Vorher gab es keine Pushbacks aus Thessaloniki, die türkische Grenze ist über 300 Kilometer entfernt, hier ruhten sich die Leute aus, bevor sie weiter reisten. Als NGO passten wir uns an die Einschränkungen durch Covid an, weil wir immer noch jeden Tag 100 bis 200 Menschen versorgen mussten. Wir haben dann einen Bericht über diese Pushbacks veröffentlicht mit dem Namen und dem Logo unserer NGO. Und eine Woche später kam die Polizei und stürmte den Verteilungsort. Sie nahmen 39 Menschen fest, während sie buchstäblich in der Schlange für das Essen anstanden. Auch sie wurden ohne formelles Verfahren in die Türkei abgeschoben. Seitdem wurde es immer schlimmer. Im letzten Jahr haben wir vielleicht 50 bis 60 Menschen pro Tag versorgt, ein Drittel davon sind griechische Obdachlose. Also entweder passieren die Leute sehr schnell oder sie umfahren Thessaloniki ganz.

Welche Art von Repression hast du erlebt?

Im Sommer 2022 wurde ich als Sprecherin von BVMN mehr öffentlich wahrgenommen. Damals arbeiteten wir viel zu den Geflüchteten, die auf einer Sandbank im Evros-Fluss gestrandet waren und denen weder von Griechenland noch der Türkei geholfen wurde. Ein Kind ist Berichten zufolge durch den Biss eines Skorpions gestorben. Die griechische Regierung bezeichnete das als Fake News. Zu der Zeit wurde es sehr heftig. Einige Leute von uns wurden in den Medien verleumdet, es gab willkürliche Kontrollen und Durchsuchungen, mein Partner wurde schließlich verhaftet. Er wurde nur für kurze Zeit festgehalten, aber es war klar, dass sie versuchten, Informationen zu bekommen. Sie nahmen sein Telefon mit, danach funktionierte es nicht mehr richtig. Es gab all diese Drohungen, und am Ende haben wir uns entschlossen, Griechenland zu verlassen, weil wir uns zu sehr überwacht und nicht mehr sicher fühlten.

Wir sind aktuell auf dem Weg zum Rechtsfaschismus, die Europawahl wird schrecklich. Aber die Dinge ändern sich auch wieder.

In Deutschland gibt es seit den Berichten von Correctiv über ein Treffen von Rechten, darunter AfD- und CDU-Politiker*innen und Mitglieder der Identitären Bewegung, bei dem Pläne zur Abschiebung nicht-weißer Menschen, einschließlich Staatsbürger*innen, diskutiert wurden, viele Demonstrationen gegen rechts. Die Innenministerin lobte das Einstehen für »die Freiheit, das Recht und die Werte der Bundesrepublik Deutschland«. Gleichzeitig verabschiedete die Regierung ein Abschiebegesetz mit zahlreichen Grundrechtseinschränkungen. Gibt es in Griechenland ähnliche Entwicklungen?

Nein, da ist es anders. Die südlichen EU-Länder wie Griechenland oder Italien tragen schon so lange die Hauptlast der Versorgung ankommender Geflüchteter, dass der rechte Flügel jetzt offen an der Macht ist. Es ist einfach, mit dem Finger auf die Rechten zu zeigen, weil sie es ganz klar sagen: Sie wollen alle nicht-weißen Menschen abschieben. In den nördlichen europäischen Staaten und auch im EU-Parlament haben wir stattdessen eine »bürgerliche Mitte«, die eine ganz ähnliche Politik verfolgt, sie kleidet sie nur in blumigere Worte. In Großbritannien hatten wir mit Jeremy Corbyn einen sehr linken Kandidaten, der bei den Wahlen mit überwältigender Mehrheit geschlagen wurde. Ich denke, die meisten Menschen in Europa wollen zu diesem Zeitpunkt eine rechte Regierung, sie wollen nur nicht als faschistisch angesehen werden.

Was wäre jetzt eine gute Strategie, dem etwas entgegenzusetzen?

Wir als gesellschaftliche Linke müssen über Grenzen hinweg zusammenkommen und eine wirklich starke Bewegung aufbauen. Es reicht nicht aus, einfach nur gegen etwas zu sein, wir müssen eine praktikable alternative Vision voranbringen. Ich persönlich setze gerade eher auf langfristige Strategien. Wir sind aktuell auf dem Weg zum Rechtsfaschismus, die Europawahl wird schrecklich werden. Aber die Dinge ändern sich auch wieder. Und ich denke, wenn es soweit ist, wird es viel Scham darüber geben, wie die Menschen an den europäischen Grenzen behandelt wurden. Und hoffentlich wird es einen Prozess in Den Haag geben. Dafür müssen wir an die Grenzen gehen, sie überwachen und weiter Beweise sammeln, damit niemand jemals sagen kann, dass das nicht passiert ist. Es ist wichtig, dass es historisch gesehen irgendwann Gerechtigkeit geben wird.

Das ist eine sehr deprimierende Perspektive. Woher nimmst du die Motivation, trotzdem weiterzumachen?

Für mich gibt es keine andere Möglichkeit. Wenn man einmal wirklich weiß, was an den Außengrenzen passiert, kann man es nicht mehr ignorieren. Ich denke das Problem ist, dass wir alle so überflutet mit Nachrichten sind. Geflüchtete erscheinen dort als anonyme Menschenmasse, als Problem. Deswegen müssen wir die spezifischen Geschichten der Menschen, die wir kennen und treffen, teilen und sie zu Menschen machen. Wenn jede*r einer anderen Person davon erzählt, entsteht schließlich ein kollektives Bewusstsein, das wir nicht mehr ignorieren können.

Porträt von Ulrike Wagener

Ulrike Wagener

ist freie Journalistin und befasst sich mit den Themen Flucht und Migration, Gender und (Post-)Kolonialismus.

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