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Antikriegs­bewegung in Russland: Wie weiter?

Diskussions­beiträge aus der russischen Linken nach dem landesweiten Protesttag am 6. März 2022

Eine Frau wird von zwei behelmten Polizisten abgeführt
Antikriegsaktion in Moskau am 6. März. Foto: Avtozak LIVE , CC BY 4.0

Zwei Tage nachdem der russische Präsident Wladimir Putin ein Paket an Gesetzesverschärfungen unterzeichnet hatte, das etwa die Verbreitung von »Falschinformationen« über die russischen Streitkräfte mit bis zu 15 Jahren Gefängnisstrafe bedroht, gingen im ganzen Land tausende Menschen gegen den Krieg in der Ukraine auf die Straßen. Die Sicherheitskräfte gingen überall mit großer Härte gegen die Demonstrierenden vor. Wir dokumentieren im Folgenden drei Statements russischer linker Gruppen, die sich mit der Frage nach dem »Wie weiter mit den Antikriegsprotesten« befassen.

»Die Behörden sind sich der prekären Lage bewusst, in der sie sich befinden«

Russländische Sozialistische Bewegung, 6. März 2022, spätabends

Die Behörden hatten sich auf die heutigen Kundgebungen gut vorbereitet. Das Arsenal der repressiven Gesetze wurde am Vortag durch ein neues Paket von Änderungen des Verwaltungs- und Strafgesetzbuches erweitert. Bei Verleumdung von Militäraktionen und Verbreitung von »Fakes« (auch auf Plakaten) drohen den Protestierenden Geldstrafen von bis zu fünf Millionen Rubel und Haftstrafen von bis zu 15 Jahren. Dozhd, Ekho Moskvy, Republic, Mediazona, Activatica und andere kritische Medien sind blockiert worden. Das Feld der Medien wurde fast bis zur vollständigen Sterilität gesäubert. Die Polizei war nicht zimperlich bei der Wahl ihrer Mittel, schlug die Festgenommenen und setzte Elektroschocker ein. In vielen Städten wurden nicht gekennzeichnete Ordnungshüter gesichtet, die die unmenschlichsten Methoden anwenden können, ohne Strafen befürchten zu müssen. Dies zeigt, wie sehr sich die Behörden der prekären Lage bewusst sind, in der sie sich befinden. Die Repression wird den Herrschenden jedoch nicht helfen, die von ihnen verursachte Krise zu lösen. Im Gegenteil, der Wille zum Widerstand wird angesichts des drohenden Zusammenbruchs der Wirtschaft nur noch wachsen.

Zehntausende von Menschen sind in 56 Städten auf die Straße gegangen. Sie ließen sich von den Verhaftungen von Aktivist*innen, der Panikmache und der Polizeibrutalität nicht abschrecken. Die russischen Behörden haben uns alle konsequent unserer politischen Subjektivität beraubt: Die Straßen, die Wahlen und die Medien wurden uns genommen, aber wir geben nicht auf. Wir wissen, dass die Geschichte von uns gemacht wird, von denen, die die Welt materiell und ideell erschaffen, ganz gleich, wie sehr Kapital und Staat versuchen, das Gegenteil zu beweisen. Wir wissen auch, dass Straßenproteste ein wichtiger Teil des Widerstands sind, weil sie uns helfen, uns gegenseitig zu sehen. Die Behörden zwingen uns zur Anonymität und zum Schweigen in den sozialen Medien. Sie lügen, um zu beweisen, dass wir nur wenige wären. Aber in Wirklichkeit sind die Straßen voll von uns und sie füllen nur wenige Büros.

Der heutige Tag ist fast vorbei, aber der Kampf hat gerade erst begonnen. Lasst uns zusammenarbeiten. Der Kampf für den Frieden besteht nicht nur aus mutigen Kundgebungen, sondern aus einer Menge täglicher Arbeit, die wir alle gemeinsam leisten müssen. Schließt euch uns an. Lest unsere Materialien zu den möglichen Protestformen.

Die russische Regierung ist bereit, bis zum letzten Soldaten zu kämpfen. Wer sich dem widersetzt, rettet nicht nur das Leben von Russ*innen und Ukrainer*innen, sondern von Menschen auf der ganzen Welt.

Der Aufruf im russischen Orginal

»Sich auf Sanktionen und die Handlungen ausländischer Regierungen zu verlassen, ist kriminell«

Alternative Linke / Russland, 7. März 2022

Dies ist ein wichtiger Text. Diskutiert mit anderen Aktivist*innen darüber. Wir haben es kurz und bündig gemacht.

Gründe für das Scheitern der Mobilisierung gegen das BöZe*:

  1. Echte Unterstützung für die »Spezialoperation« durch die Mehrheit der Russ*innen. Der Krim-Konsens besteht immer noch. Der patriotische Rausch im achten Jahr sieht genau so aus. Verwechselt erschöpfte Patriot*innen nicht mit gleichgültigen Menschen oder mit solchen, die ihre Meinung überdenken. Putins militärischer Sieg wird diese Gefühle verstärken, unabhängig von welchen Sanktionen auch immer. Diejenigen, die die Logik der Aktionen des Regimes im Jahr 2014 für sich akzeptiert haben, haben auch die Logik der neuen »Spezialoperation« akzeptiert. Putins Vorgehen erscheint den Russ*innen logisch und konsequent.
  2. Die repressiven Gesetze und die Unterdrückung haben zur Auswanderung von Schlüsselaktivist*innen geführt. Die Protestbewegung erneuert sich durch demografische und nicht durch gesellschaftspolitische Faktoren. Studierende und junge Erwachsene haben weder die Verbindungen, noch die Ressourcen oder die Erfahrung, um zum Kern einer ernsthaften Bewegung in Russland zu werden.
  3. Das Putin-Regime hat das politische Feld gesäubert. Dies ist eine klassische Taktik von Regierungen, die eine »Spezialoperation« vorbereiten. Darüber haben wir hier geschrieben.
  4. Die Führung der Oppositionsbewegung in Russland liegt seit 2014 unangefochten bei den Liberalen. Die liberalen Protesttaktiken haben immer wieder gegen die Taktiken der herrschenden Neoliberalen verloren. Es sollte klar sein, dass die rechte Opposition – Nemzow (früher), Chodorkowski, Nawalny, usw. – keine prinzipiellen Gegner Putins sind, sie sind seine Konkurrenten. Sie kamen aus dem Umfeld von Jelzin, Nemzow und Chodorkowski unterstützten Putins Machtübernahme. Die Taktik des »friedlichen Protests« der Liberalen wurde hier erläutert und kritisiert.
  5. Die wirtschaftlichen und politischen »Expert*innen« der Liberalen sind immer wieder gescheitert. Milov, Shulman und andere mussten ihr Versagen bei jeder Wendung der russischen Geschichte rechtfertigen. Sie glaubten nicht an die Intervention von OVKS-Truppen in Kasachstan, sie glaubten nicht an den Krieg. Ihre Theorien sind darauf ausgerichtet, den Neoliberalismus als System zu rechtfertigen, sie bieten keine glaubhaften Perspektiven an. Imperialistische Widersprüche existieren für sie nicht, sondern sie erklären die Ereignisse mit den persönlichen Eigenschaften bestimmter Personen. Mit einer solchen Führung werden wir niemals gegen das Regime gewinnen. Wir werden immer verlieren.
  6. Das Scheitern der friedlichen Proteste in Belarus und Chabarowsk im Jahr 2020, das Scheitern der Proteste Anfang 2021 in Russland und die Niederschlagung des Aufstands in Kasachstan haben die Russ*innen darin bestärkt, dass Proteste von unten keinen Sinn machen.

Was ist als nächstes zu tun?

  1. Die Phase der Reaktion wird noch einige Zeit andauern. Wir brauchen jetzt keine Heldentaten von Einzelgänger*innen, wir müssen eine organisierte Massenbewegung vorbereiten. Seid vorsichtig und achtet auf eure Sicherheit. Sicherheitstipps findet ihr hier.
  2. Um eine Massenbewegung vorzubereiten, brauchen wir Agitation. Im Moment kann das nur im Untergrund geschehen. Helft euch gegenseitig, anonyme Informationskanäle zu entwickeln. Es ist ein guter Zeitpunkt, um über Flugblätter, Aufkleber und Schablonen nachzudenken. Nutzt alle Guerilla-Taktiken der Agitation. Und denkt daran: Eure Sicherheit und die Sicherheit Eurer Angehörigen steht an erster Stelle.
  3. Die Phase der Reaktion ist eine Zeit für theoretisches Umdenken, sowohl hinsichtlich persönlicher Ansichten als auch hinsichtlich politischer Tendenzen. Diskussionen, Forschungen und kühne Hypothesen sind notwendig, um uns für die Zeit des Aufschwungs mit einer zeitgemäßen politischen Theorie auszurüsten. Auch wir arbeiten in diese Richtung.
  4. Bildet autonome Gruppen. Die Kommunikation zwischen den Gruppen sollte anonym oder gar nicht stattfinden. Vertraut nur denen, die ihr gut kennt. Offene Mitgliederwerbung ist strengstens untersagt. Teilt die Erfolge der Guerilla-Agitation in anonymen Kanälen. Tauscht Techniken, Taktiken und Ideen aus. Die Aufgabe der autonomen Gruppen besteht darin, den massenhaften politischen Aufschwung sowohl der Öffentlichkeit als auch der Aktivist*innen vorzubereiten. Zum richtigen Zeitpunkt werden wir Logistik und Menschen brauchen, die bereit sind, zu organisieren und zu handeln.
  5. Nehmt Kontakt zu Belegschaften in den Betrieb auf. Es stehen Massenstreiks wegen nicht ausgezahlter Löhne an. Um stärker zu werden, müssen wir diese spontane Bewegung mit unserer politischen Bewegung verbinden.

Sich auf Sanktionen und die Handlungen ausländischer Regierungen zu verlassen, wie es die Liberalen tun, ist kriminell. Die herrschenden Klassen des Westens und der Ukraine handeln in ihrem eigenen Interesse. Wir wissen nicht, worüber die Räuber dieser Welt verhandeln werden. Denkt an die Bedeutung der hohen Gas- und Ölpreise. Glaubt nicht an den Humanismus der westlichen und ukrainischen Eliten, vertraut weder der Propaganda der ukrainischen Nationalisten noch der Propagandisten Putins. Der Faschismus wird jetzt auf beiden Seiten der Front gestärkt.

Die Logik des Wettbewerbs führt die Welt zu Monopolen und Kriegen. Die wirtschaftliche Rechtlosigkeit führt zur politischen Rechtlosigkeit.

Wir wollen in einem Land leben, in dem die politische und wirtschaftliche Macht nicht in den Händen einiger weniger oligarchischer Familien oder in der Person eines Diktators konzentriert ist. Wir wollen in einem Land leben, in dem nicht die Konkurrenz, sondern die Solidarität gefördert wird. Wir wollen Frieden und Wohlstand. Also lasst uns dafür kämpfen.

Der Aufruf im russischen Orignal

* Das Z im Wort BöZe spielt auf das Zeichen an, mit dem die russischen Invasionstruppen ihr Militärgerät kennzeichnen und das viele Russ*innen als Symbol ihrer Unterstützung des Krieges auf T-Shirts tragen oder auf ihre Autos malen. Das »Böse« steht hier zugleich für die Invasion.

»Zu einer Massenmobilisierung, die nicht gewaltsam aufgelöst werden kann, kam es am 6. März nicht«

Sozialistische Alternative / Russland, 7. März 2022

Die Aktionen am 6. März sind auf eine neue Qualität von Unterdrückung durch das Regime gestoßen, das begonnen hat, die Methoden der belarussischen Sicherheitskräfte anzuwenden. In Jekaterinburg halfen schwarzgekleidete Männer ohne jegliche dienstliche Erkennungszeichen dabei, die Leute zu verhaften. In Moskau zwang die Polizei junge Leute dazu, ihr Zugang zu den Messengerdiensten auf ihren Handys zu verschaffen. Die Gewalt, die wir letztes Jahr bei den Protesten nach der Rückkehr Nawalnys erlebt haben, ist uns wieder begegnet. Leute wurden geschlagen, auf den Boden geworfen, es wurden Elektroschocker eingesetzt.

Gegen die Inhaftierten wurde auf den Polizeirevieren Gewalt und Folter angewandt. Dabei waren die Polizist*innen sich ihrer Straflosigkeit bewusst, sie waren von der Richtigkeit ihrer Handlungen überzeugt. Auf dem Moskauer Polizeirevier Bratejevo konnte Alexandra Kaluzhskikh aufnehmen, wie sie während eines Verhörs geschlagen wurde. Die schreckliche Aufzeichnung, die von dem »Feministischen Widerstand gegen den Krieg« veröffentlicht wurde, zeigt erneut, dass das Putin-Regime nicht nur gegen die Ukrainer*innen kämpft, sondern auch gegen das eigene Volk.

Zu einer Massenmobilisierung, die nicht gewaltsam aufgelöst werden kann, kam es am 6. März nicht, obwohl im ganzen Land mehr Leute auf die Straße gingen als in den Tagen zuvor. Wenn man die Welle von Hausdurchsuchungen und Verhaftungen, die Abschaltung vieler Medien und die neuen repressiven Gesetze, die buchstäblich vor ein paar Tagen erlassen wurden, berücksichtigt, also eine neue Wucht der Einschüchterung und Abschreckung, dann kann man diese Mobilisierung als einen Punkt für die Antikriegsbewegung werten. Doch es stellt sich die Frage: Was sollen wir jetzt tun?

Das Regime wird jetzt Aktivist*innen suchen und bestrafen. Es haben bereits Entlassungen von Kriegsgegner*innen begonnen. Die seit 20 Jahren andauernde Politik der Unterdrückung von Freiheiten hat dazu geführt, dass weder die Arbeiter*innenklasse noch die Studierenden eigene Organisationen haben, die in der Lage wären, für einen solidarischen Kampf gegen den Krieg zu mobilisieren. Die Antikriegsbewegung muss aus dem Nichts aufgebaut werden, ohne jede Unterstützung von Gewerkschaften oder studentischen Organisationen und unter den Bedingungen des politischen Staatsterrors. Auf uns wartet eine harte Arbeit, fast schon im Untergrund.

In Moskau haben wir eine Aktion auf der Komsomolskaya organisiert, zu der etwa 1000 Leute kommen wollten. Allerdings waren um 15 Uhr alle Eingänge zum Platz von Polizei überschwemmt, die die Leute kontrolliert und Rucksäcke untersucht hat. Nachdem die Leute auf dem Manezhnaya-Platz auseinandergetrieben worden waren, kam noch mal eine Einheit von Eingreiftruppen zur Verstärkung zu uns herüber. Nach drei erfolglosen Versuchen uns zusammenzufinden und nach der Verhaftung des mutigen Frauenblocks haben wir die Entscheidung getroffen, die Aktion zu beenden. Unter diesen Bedingungen ist eine völlig andere Taktik nötig.

Anstatt eine erneute Mobilisierung anzustrengen, müssen wir die Antikriegsbewegung breiter aufstellen, also breitere Schichten der Gesellschaft heranziehen und organisieren. Die Wirtschaftskrise und die Sanktionen versetzen dem Lebensstandard ungeheuerliche Schläge. Millionen verlieren aufgrund von Kapitalflucht ihre Arbeitsplätze. Zusammen mit der Bestattung getöteter Soldaten und mit Zeugenberichten von Soldaten werden damit vielen die Augen über den Krieg geöffnet werden. Der Propagandaschleier wird fallen, besonders wenn sich der Krieg noch hinziehen wird. Die Bewegung wird wachsen, wenn es dem Regime nicht gelingt, heute ihren aktiven Kern zu erdrücken.

Was tun? Die Aktiven der Antikriegskomitees, für die in vielen Städten Ansätze geschaffen wurden, müssen unsere Kolleg*innen und Kommiliton*innen von der Notwendigkeit gemeinsamer Aktionen gegen den Krieg überzeugen. Sie müssen Kerne der Bewegung in den eigenen Betrieben und Universitäten aufbauen, die Agitation verbreiten und vorschlagen, einen Streik mit sozialen und Antikriegsforderungen, also wirkliche Massenproteste, vorzubereiten. Wenn Vertreter*innen dieser Kerne der Bewegung in den Betrieben und Universitäten auf stadtweiter Ebene zusammenkommen, dann können sie das Kräfteverhältnis einschätzen und die weiteren Schritte planen.

Wir hatten für den 9. März zu einem dreistündigen politischen Warnstreik aufgerufen. Aber in der derzeitigen Situation bei einem hohen Niveau an Repressionen würde das die kleinen Gruppen von Antikriegsaktivist*innen einer großen Gefahr aussetzen. Wir schlagen deshalb vor, den 9. März zum Tag der Agitation an den Arbeitsplätzen und in den Universitäten zu machen. Sprecht mit euren Kolleg*innen. Erklärt ihnen, wie sie tatsächliche Informationen über den Verlauf des Krieges erhalten können, bietet ihnen an, einen VPN-Tunnel zu installieren, diskutiert über den anstehenden ökonomischen Schock. Richtet einen Chat mit Gleichgesinnten ein, teilt euch die Anstrengungen zur Agitation unter den anderen Kolleg*innen auf.

Wir haben eine Vielzahl von Anfragen von Leuten bekommen, die zur Antikriegsbewegung dazustoßen wollen. Bis zum 6. März haben wir ein Drittel von ihnen noch gar nicht abgearbeitet. Jetzt verdoppeln wir unsere Anstrengungen, wir werden Leute in denselben Städten miteinander vernetzen und zusammen mit ihnen dafür arbeiten, die breitesten Massen zur Antikriegsbewegung heranzuziehen. Wir müssen zunächst die Bewegung stärken, bevor wir zur nächsten Massenmobilisierung aufrufen, und zusammen die Strategie und Taktik des Kampfes ausarbeiten.

Fort mit allen Kriegstreibern!

Fort mit dem Regime, das Krieg gegen das eigene Volk führt!

Der Aufruf im russischen Original

Dank an Christoph Wälz, der alle Aufrufe vom Russischen ins Deutsche übersetzt hat!

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