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|ak 703 | Diskussion

Parteiisch gegen das russische Regime

Der Ukraine-Krieg ist auch eine Eskalation reaktionärer Gewalt gegen jede progressive Veränderung im postsowjetischen Raum

Von Dietmar Lange

Antikriegsprotest in Moskau im Februar 2022. Foto: Avtozak LIVE, CC BY 4.0

Nur Blinde sehen nicht, und nur ausgemachte Scharlatane und Betrüger können bestreiten, dass der gegenwärtige Krieg zwischen England und Frankreich auf der einen und Deutschland auf der anderen um Kolonien und Rohstoffquellen geführt wird. (…) Wurden die genannten Staaten früher in aggressive und nichtaggressive geteilt, (…) so entspricht diese Teilung jetzt bereits nicht mehr der Wirklichkeit. Dieser Unterschied ist verschwunden. Mehr als das: gerade die englischen und französischen Imperialisten treten jetzt in der Rolle der eifrigsten Anhänger der Fortführung und weiteren Schürung des Krieges auf.«

Diese Analyse, von Georgi Dimitroff im November 1939, also zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, für die Komintern vorgenommen, dürfte heute auch bei vielen Linken für Stirnrunzeln sorgen. Ich will mit dem Zitat nicht in eine Debatte darüber einsteigen, ob wir uns statt in einer Situation wie 1914 in einer wie 1939 befinden. Mir scheinen solche historischen Parallelen eher wegzuführen von einer »konkreten Analyse der konkreten Situation« (Lenin). Ich will damit lediglich zeigen, dass Analysen, die sich eher aus politischen Vorentscheidungen (in diesem Fall der Hitler-Stalin-Pakt) als aus der »konkreten Situation« ableiten, in der Regel in die Irre führen.

Viele Verkürzungen

Wobei ich vorwegschicken möchte, dass sich in meinen Augen die bisherige Debatte in ak zum Ukraine-Krieg gegenüber Vielem, was die deutsche und westliche Linke dazu verlautbart hat, sehr wohltuend durch eine größere Differenziertheit abhebt. Dennoch irritiert mich etwas die – auch bei einigen Beiträgen in der ak zu findende – häufige Beschränkung auf geopolitische Analysen, die mit einer gewissen Popularität der Realismusschule in der deutschen Linken einhergeht. Daran ist nicht alles falsch. Die geopolitische Konkurrenz spielt im Denken und Handeln der russischen Führung sicher eine zentrale Rolle, und es gibt auch eine Vorgeschichte der Nato-Osterweiterung. Die erklärt jedoch den russischen Einmarsch am 24. Februar 2022 ungefähr genauso viel wie der Versailler Vertrag den Zweiten Weltkrieg. Vor allem aber spielen nur Staaten (insbesondere Großmächte) mit ihrem Kampf um Einflusssphären in solchen Analysen eine Rolle. Die Welt ist darin ein ewiges Schachspiel rational (im Sinne einer Kosten-Nutzen-Kalkulation) handelnder staatlicher Player. Im Prinzip liegt dem eine Übertragung des bürgerlichen Ideals des homo oeconomicus auf die Politik zugrunde. Gesellschaftliche Verhältnisse – und darum geht es ja im Kern bei einer materialistischen Analyse – bleiben ausgeblendet. 

Andere Linke führen alles zurück auf Kapitalinteressen, die sich quasi ungebrochen im Bewusstsein und Handeln der Akteur*innen ausdrücken. Auch das ist nicht völlig falsch, aber in seinem ökonomischen Reduktionismus doch verkürzt. Und es kann allein den Krieg letztlich nicht überzeugend erklären, wie Ilya Matveev in ak 694 darlegte, zumindest nicht im Sinne eines unmittelbaren ökonomischen Vorteils durch die Invasion. Matveev hebt dagegen die Bedeutung der Ideologie für das Handeln der russischen Führung hervor. Das ist eigentlich etwas, das – und hier sei mir ein letzter Rückgriff auf die Geschichte erlaubt – gerade auch deutschen Linken mit Blick auf die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus einsichtig sein müsste. Es kann aber andersherum auch nicht darum gehen, alles allein mit Ideologie zu erklären. Ich will stattdessen im Folgenden versuchen zu skizzieren, wie die spezifische Art des Kapitalismus in Russland, die geopolitische Konkurrenz und die großrussische Ideologie miteinander vermittelt sind und was das für die Analyse dieses Krieges bedeutet, letztlich auch für die Haltung, die die Linke meiner Meinung nach darin einnehmen sollte.

Zyniker*innen der Macht

Die spezifische Form der politischen Ökonomie in Russland wird oft mit Begriffen wie »Staatskapitalismus« oder »politischer Kapitalismus« umschrieben. In seinem Buch »Kapitalismus global« liefert der Ökonom Branko Milanović eine genauere Definition des »politischen Kapitalismus«, die er zwar vor allem anhand von China entwickelt, die sich aber auch sehr gut auf Russland anwenden lässt. Er grenzt den »politischen Kapitalismus« vom »liberalen Kapitalismus« westlicher Prägung ab. Im Unterschied zu diesem ist er nicht demokratisch, sondern autoritär-etatistisch verfasst. Wesentliche Merkmale sind neben einem Ausschluss der Bevölkerung von politischen Entscheidungsprozessen fehlende Rechtsstaatlichkeit und unklare Eigentumsverhältnisse. Die Akkumulation von Kapital ist stärker von guten Beziehungen zu staatlichen Stellen abhängig als von der Wettbewerbsfähigkeit auf dem Markt. Die Trennlinien zwischen Bürokratie und wirtschaftlicher Elite verschwimmen daher. 

Das Skelett bilden politisch-unternehmerische Clans mit mafiaähnlichen Verbindungen, die eine politisch-kapitalistische Klasse konstituieren, auf die alle anderen Akteur*innen angewiesen sind. Das erlaubt einerseits Staat und Bürokratie eine größere Autonomie gegenüber privaten Kapitalinteressen. Auf Gesetze muss beispielsweise keine Rücksicht genommen werden. Entscheidungen können unmittelbarer und schneller umgesetzt werden, weshalb die Bürokratie eine größere Effizienz als Vorteil gegenüber westlichen Demokratien hervorhebt. Auf der anderen Seite herrscht eine endemische Korruption, die nicht nur eine unschöne Begleiterscheinung des »politischen Kapitalismus« ist, sondern ein funktionales Element der Klassenbildung wie auch der politischen Einbindung und Kontrolle. Wie das in Russland im Detail funktioniert, kann man sehr schön in den Dokumentationen des Nawalnyj-Teams sehen. 

Nach Milanović neigt der »politische Kapitalismus« eigentlich nicht aus sich heraus zu einer besonderen ideologischen Legitimation. Postsowjetische Eliten gelten beispielsweise eher als Zyniker*innen der Macht. Allerdings sieht auch er in den letzten Jahren eine stärkere Tendenz dazu, das eigene Modell zu rechtfertigen und zu verbreiten, aufgrund der Konkurrenz mit dem liberalen Kapitalismus und seiner propagierten Werte von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Das Hauptargument ist dabei die größere Effizienz, die für mehr Wirtschaftswachstum und damit größeren Wohlstand für breite Bevölkerungsschichten sorgen würde. Bleibt dieses aber aus, kann auch das nicht ausreichend sein. In Russland lässt sich das gut seit 2008 beobachten, als aufgrund der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise der Ölpreis einbrach und die russische Wirtschaft von einer Aufschwungsphase, die die ersten beiden Amtszeiten Putins prägte, in eine anhaltende Krisen- und Stagnationsphase wechselte. 

Die Vorgeschichte der Nato-Osterweiterung erklärt den russischen Einmarsch am 24. Februar 2022 ungefähr genauso viel wie der Versailler Vertrag den Zweiten Weltkrieg.

Im Zuge der Massenproteste 2011 bis 2013, die zu Beginn der dritten Amtszeit Putins stattfanden, das politische System unerwartet trafen und in eine tiefe Krise stürzten, begann eine stärkere Hinwendung der Putin-Administration zu nationalkonservativen Strömungen. Das ging einher mit einem sich radikalisierenden großrussischen Nationalismus im öffentlichen Diskurs. Unter Bezugnahme auf ideologische Topoi des späten Zarenreichs wird dabei eine eigenständige russische »Zivilisation« mit patriarchalen »traditionellen Werten« postuliert, mit der sowohl eine autoritäre Unterordnung unter die politische Führung legitimiert als auch abweichende Meinungen und Verhaltensweisen als fremdartige, vom Westen kommende Einflüsse diffamiert werden. Das wiederum hat auch eine materielle und ökonomische Seite. Gesellschaftliche Träger*innen einer solchen nationalkonservativen Strömung sind nach Felix Jaitner neben rechten und linkspatriotischen Intellektuellen, den Militär- und Sicherheitsapparaten und der orthodoxen Kirche auch eher binnenmarktorientierte Kapitalfraktionen aus dem produzierenden Sektor. 

Ukraine-Krieg als Klassenkonflikt

Die Krise ab 2008 hat zu Versuchen geführt, von der einseitigen Fixierung auf den Rohstoffexport wegzukommen, die auch eine ökonomisch untergeordnete Position gegenüber dem Westen bedeutet. Der Diskurs um die Wiederherstellung nationaler Größe korrespondiert daher mit einer entwicklungspolitischen Richtungsentscheidung, die auf eine stärkere Entwicklung der einheimischen produzierenden Industrie und eine handelspolitische Re-Orientierung Richtung Asien setzt. Zugleich erfolgt dies vor dem Hintergrund einer wachsenden Instabilität des »politischen Kapitalismus« sowohl in Russland selbst, als auch in seinem postsowjetischen Einflussbereich, wo er seit Beginn der 2000er Jahre mit diversen »Farbenrevolutionen« konfrontiert ist. Meiner Meinung liegt hier der Schlüssel, um auch die geopolitische Konfrontation mit dem Westen zu verstehen, denn in der Wahrnehmung der russischen Führung ist die wachsende Instabilität nur auf fremde Einflussnahme zurückzuführen. Die Gewalt, mit der die eigene politisch-kapitalistische Ordnung im Innern gesichert wird, ist daher begleitet von einem aggressiver werdenden militärischen Auftreten nach außen, das seit dem Krieg gegen Georgien 2008 beobachtet werden kann. 

Nach Wolodymyr Ischtschenko spiegelt dabei der Konflikt mit der Ukraine einen Klassenkonflikt wider, zwischen der politisch-kapitalistischen oligarchischen Klasse und den liberalen westlich orientierten Mittelklassen, die in der Ukraine nach der Maidan-Revolution 2014 stärkeren Einfluss erlangten. Aber nicht nur in dieser Hinsicht stellt die Entwicklung in der Ukraine eine Bedrohung für die russischen Eliten dar. Auch ideologisch spielt die Ukraine im großrussischen Nationalismus eine zentrale Rolle. Neben Russland und Belarus gilt sie als eine tragende Säule des »historischen Russland«. Eine unabhängige Ukraine, die nicht zumindest indirekt durch Russland kontrolliert wird, gilt daher als existentielle Gefahr für die Einheit der imaginierten großrussischen Zivilisation und die darauf begründete Weltmachtrolle. 

Daher geht es nicht nur um die russischsprachige Minderheit in der Ukraine. Eine ukrainische Identität gilt insgesamt als von ausländischen Gegner*innen importiertes fremdes Element, um Russland zu »zersetzen«. Wie zentral diese Wahrnehmung in der russischen Führung ist, kann man an der Obsession ablesen, mit der gerade Putin diese Topoi ständig wiederholt. Ich bin mir daher nicht mehr sicher, ob man immer noch von einem instrumentellen Verhältnis der russischen Führung zur Ideologie ausgehen kann. »Selbst wenn Mythenbildung ursprünglich der sozialen Mobilisierung diente, haben Ideologien die Tendenz, auch ihre Schöpfer in ihren Bann zu ziehen und schließlich außer Kontrolle zu geraten«, konstatiert auch Hanna Perekhoda auf Posle Media. Der in Kiew lebende russische Exilpolitiker Ilja Ponomarjow hat in seiner Sendung »Februarmorgen« den russischen Krieg gegen die Ukraine mit einem »Heiligen Krieg« verglichen. Die Ukrainer*innen sind in dieser Sicht Häretiker*innen der »russischen Welt«: Die bereits verlorenen Eltern gelte es zu eliminieren, die Kinder umzuerziehen und wieder in die gemeinsame Ökumene zurückzuführen. 

Botschaft an die Region

Diesen Eindruck kann man tatsächlich gewinnen, wenn man sich die russische Propaganda ansieht. Der erbitterte Widerstand zu Beginn des Krieges wurde nicht etwa als Zeichen der Fehleinschätzung über die erwartete Freude in der Bevölkerung ob der Befreiung vom »Nazismus« gedeutet, sondern als Indiz dafür, wie tief die Manipulation des Westens in der Ukraine verankert ist. Das macht dann folglich nur härtere Bemühungen zu deren Ausrottung notwendig, wobei auch schon mal die Grenze zum Aufruf zum Genozid überschritten wird, wenn etwa wie jüngst der russische Propagandist Dimitri Putschkow unter dem Applaus seines Publikums die Erschießung von Ukrainer*innen im industriellen Maßstab fordert.

Die zahlreichen Gräueltaten und Kriegsverbrechen zeigen, dass diese Rhetorik nicht ohne Folgen bleibt. Auch der jüngste UN-Bericht spricht von systematischer und weitverbreiteter Folter und sexueller Gewalt sowohl gegen Kriegsgefangene als auch Zivilist*innen, die sich gegenüber der Russifizierungspolitik renitent zeigen. Das Argument, dass diese Gewalt nun mal eine Auswirkung des Krieges sei, wie man es hin und wieder von Pazifist*innen hierzulande zu hören bekommt, ignoriert daher deren ideologische Wurzeln und relativiert sie, indem es suggeriert, sie hätte auf beiden Seiten die gleiche Ursache und damit das gleiche Ausmaß.

Der Krieg ist auch eine Botschaft an die gesamte Region, etwa an die Menschen in Belarus, dass, wenn sie Lukaschenko stürzen, ihnen das gleiche Schicksal droht. Was Linke, die sich nur auf die geopolitische Dimension konzentrieren, daher häufig übersehen, ist, dass es sich auch um eine Eskalation reaktionärer Gewalt gegen jede progressive Veränderung im postsowjetischen Raum handelt. »Die einzigen ›fremden westlichen Werte‹, gegen die Russland kämpft, sind Menschenrechte, Redefreiheit, Geschlechtergleichheit und nachhaltige Entwicklung«, schreibt die Russländische Sozialistische Bewegung zum zweiten Jahrestag der Invasion. Den Putinismus sieht sie in diesem Sinne als Avantgarde einer global erstarkenden neuen Rechten. 

Deshalb – und nicht nur aus moralischen Gründen – denke ich, dass auch die Linke hierzulande parteiisch sein sollte, nicht für den ukrainischen Nationalstaat oder gar die Nato, sondern gegen das russische Regime. Sicherlich bewegt sich die deutsche Linke dabei in einem Widerspruch zu ihrer oppositionellen Rolle gegenüber den hiesigen Herrschaftsverhältnissen, den es zu berücksichtigen gilt. Meiner Meinung nach ist aber eine widerspruchsfreie Position in einer widersprüchlichen Welt nur um den Preis eines dann letztlich die Realität verbiegenden Dogmatismus zu haben.

Dietmar Lange

ist Historiker der Arbeiter*innenbewegung, der sich aufgrund seiner familiären Wurzeln aktuell viel mit der Situation in Russland beschäftigt.

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