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»Non« zum teuren Leben

Die Streiks in den Raffinerien haben für Wirbel gesorgt, doch ein Selbstläufer für die Gewerkschaften ist der Herbst in Frankreich nicht

Von Bernard Schmid

Man sieht einen Arbeiter mit rotem Helm und Oranger Jacke auf der steht Greve Total - totaler Streik.
Die nun beendeten Streiks bei den Raffinerien hatten enorme Auswirkungen, bis heute ist der Sprit in Paris knapp. Foto. Révolution permanente

Die größte der insgesamt sieben bzw. acht Raffinerien in Frankreich (sieben in Festlandfrankreich, eine achte liegt auf der Karibikinsel La Martinique) in Gonfreville in der Normandie stand als letzte noch im Arbeitskampf. Doch am 2. November ging nach fünfwöchiger Dauer auch dort der Streik zu Ende. An den anderen Standorten waren die Beschäftigten schon in der vorletzten Oktoberwoche wieder an die Arbeit gegangen.

Voraus gegangen war eine Streikbewegung, die am 27. September begonnen hatte. Die Petrochemie war nur einer von vielen Sektoren, in denen im Zuge steigender Inflation und dadurch bedingter Verluste der Lohnabhängigen an Realeinkommen Arbeitskonflikte stattfanden. Doch wiesen die insgesamt zwischen drei- und viertausend abhängig Beschäftigten in diesen Anlagen optimale Voraussetzungen dafür auf, dass ihr Arbeitskampf auch sichtbar wurde: Erstens natürlich, weil ihr Streik unübersehbare Auswirkungen etwa auf das Tankstellennetz und die Kraftstoffzufuhr hatte; so war Anfang November die Benzin- und Dieselversorgung im Raum Paris nach wie vor beeinträchtigt. Zum Zweiten kam hinzu, dass der französische Mineralölkonzern Total in den Jahren 2021 und 2022 absolute Rekordgewinne einfuhr, zumal er objektiv Krisengewinnler des Russland-Ukraine-Krieges ist.

Im Unterschied zu anderen Mineralölunternehmen ist Total nicht nur Vertreiber – also Weiterverkäufer – von Kraftstoffen, sondern pumpt diese auch selbst mit aus dem Boden. Der Konzern reicht also nicht Preissteigerungen in den Förderländern weiter, sondern sitzt selbst buchstäblich an den Quellen und kassiert unmittelbar. Allein im ersten Halbjahr 2022 verzeichnete der Konzern achtzehn Milliarden Euro Gewinn.

Breite Aufmerksamkeit für Arbeitskampf

Die Lage erlaubte es also den am Streik beteiligten Gewerkschaften, über die Petrochemie-Branche hinaus breite Aufmerksamkeit für die Forderungen zu erzeugen: Lohnerhöhungen als Inflationsausgleich, aber auch zur in diesem Falle besonders dringlich erscheinenden Gewinnumverteilung. Die beiden Gewerkschaftsverbände CGT, die zweitstärkteste Gewerkschaftsorganisation vor der politisch schillernden Force Ouvrière (FO) forderten bei Total Lohnerhöhungen um zehn Prozent, was gut drei Prozentpunkte über der derzeitigen jährlichen Inflationsrate liegt.

Die CGT ist der älteste gewerkschaftliche Dachverband in Frankreich und liegt hinter der rechtssozialdemokratisch geführten CFDT, die in den meisten Bereichen nicht an Streiks teilnimmt. Hinzu kamen zunächst auch eher qualitative Forderungen nach Personaleinstellungen, Investitionen und Arbeitssicherheit. Um Verhandlungen zu erleichtern, akzeptierte die CGT indes schon zu einem frühen Zeitpunkt, vorläufig ausschließlich über Lohnforderungen zu sprechen.

Am 14. Oktober akzeptierten dann jedoch zwei weitere Gewerkschaften, die an der Spitze rechtssozialdemokratische CFDT sowie die CFE-CGC als Gewerkschaft der höheren und leitenden Angestellten, ein Abkommen bei Total. Medienberichte behaupteten, dieses sehe eine Lohnerhöhung für 2023 – vorgezogen auf November 2022 – in Höhe von sieben Prozent vor, also ungefähr auf dem gleichen Niveau wie die Teuerungsrate in Frankreich im Mittel der Jahre 2021 und 2022. In Wirklichkeit werden den Beschäftigten jedoch durch dieses Abkommen nur fünf Prozent allgemeine Erhöhung garantiert, also weniger, als die Teuerungsrate beträgt. Die übrigen zwei Prozentpunkte entsprechen einer individuellen Erhöhung, die je nach Leistungsbeurteilung ausgezahlt oder auch verweigert werden kann.

CFDT und CFE-CGC kommen insgesamt im Konzern auf eine Stimmenmehrheit von 53 Prozent bei den Beschäftigten, vor allem dank der Unterstützung im Ingenieurs- und White-collar-Bereich. In den Raffinerien ist dagegen die CGT stärker verankert und dort die Mehrheitsgewerkschaft. Es ist in Frankreich jedoch legal, trotz des Abschlusses einer Vereinbarung weiter zu streiken, wenn den Teilnehmenden ihr Inhalt nicht gefällt, denn anders als in Deutschland herrscht dort keine so genannte Friedenspflicht. Der Ausgang ist dann lediglich eine Frage des Kräfteverhältnisses unter unterschiedlich orientierten Gewerkschaften oder Beschäftigtengruppen.

Im Laufe des Oktobers bröckelte die Streikbeteiligung allerdings, auch unter dem Eindruck einer massiven Medienkampagne gegen den Streik, der infolge des zunehmend stark bemerkbar werdenden Mangels an Benzin- oder Dieselkraftstoff unpopulär zu werden drohte.

Strafbewehrte Dienstverpflichtung gegen Spritmangel

Die Regierungsseite setzte gegen den Ausstand das Instrument der réquisition, also der strafbewehrten Dienstverpflichtung ein; bei Zuwiderhandeln drohen in solchen Fällen bis zu sechs Monate Haft. Dessen Einsatz war ursprünglich einmal auf lebenswichtige Versorgungsdienstleistungen beschränkt, doch weitete er sich in den letzten Jahren aus.

Verwaltungsgerichte in Rouen und Lyon billigten im Oktober den Einsatz dieses Mittels. Daraufhin versuchte die CGT, durch eine schnelle Ausweitung des Lohnkampfes auf andere Branchen zu reagieren. So rief der Dachverband für den 18. Oktober zu Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen in allen Branchen auf, wo dies möglich sei. Dies betraf vor allem das Berufsschulwesen und die Verkehrsbetriebe, wo jedoch eine (durch die Gewerkschaften SUD und zum Teil CGT befürwortete) Fortführung des Arbeitskampfs über den Tag hinaus, etwa bei der Bahngesellschaft SNCF, nicht funktionierte.

Mehrere Medien vermuteten, dass ein Teil der Raffineriebeschäftigten, aber besonders die Eisenbahnbediensteten ihre Kampfkraft vorläufig noch zurückhielten, weil sie sich auf eine bevorstehende Auseinandersetzung um die durch die Regierung unter Staatspräsident Emmanuel Macron und Premierministerin Elisabeth Borne geplante Rentenreform vorbereiten.

Die entscheidende Auseinandersetzung kommt noch: der Kampf gegen die Rentenreform.

Da in Frankreich Streikende Ausstände in der Regel selbst bezahlen müssen, heben sich viele Beschäftigte ihre finanziellen Reserven für die entscheidende Auseinandersetzung auf: den Kampf gegen die Rentenreform. Die Inhalte des geplanten Umbaus im Rentenwesen sind bislang im Näheren noch unbekannt. Konkretere Festlegungen werden voraussichtlich im Januar 2023 folgen.

Die CGT will es allerdings dabei nicht bewenden lassen, sondern rief kurz nach dem branchenübergreifenden Aktionstag zu erneuten Streik- und Protesttagen am 27. Oktober sowie am 10. November auf. Dabei geht es ihr auch darum, die Lohnfrage durch ihr Aufwerfen jenseits von Branchengrenzen zu politisieren und nicht zur isolierten, d.h. vom allgemeineren Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit entkoppelten Verhandlungssache im jeweiligen Unternehmen werden zu lassen.

Am 27. Oktober blieb der Aufruf weitestgehend folgenlos, in Paris demonstrierten höchstens 1.000 Personen, und ernstzunehmende Streikfolgen waren nirgendwo zu verspüren. Die CGT rief an dem Tag allein zu Aktionen auf, da andere Gewerkschaften oder Gewerkschaftsverbände wie SUD und FO aufgrund mangelnder Vorbereitungszeit nicht mittun mochten. Auch die CGT hielt ihre Kräfte letztlich zurück und warf ihr Gewicht nicht in die Waagschale. Hingegen gilt es bei Redaktionsschluss als wahrscheinlich, dass die Mobilisierung zu Arbeitskämpfen am 10. November deutlich stärker ausfallen wird. Denn an diesem Tag wird bei der RATP, also bei den Pariser Nahverkehrsbetrieben, ein erheblicher Verkehrsausfall erwartet, nachdem ein Streik dort seit mehreren Wochen vorbereitet wird.

Darüber hinaus demonstrierten am 16. Oktober in Paris mehrere Zehntausend Menschen auf den Appell linker Parteien hin »gegen das teure Leben und klimapolitische Untätigkeit«. Die Initiative dazu hatte die von linkssozialdemokratischen bis linksnationalistischen Kräften reichende, auch einen Teil der radikalen Linken umfassende Wahlplattform La France insoumise, LFI, schon einige Wochen zuvor ergriffen. Gewerkschaften wie SUD bis CGT weigerten sich allerdings, selbst mit dazu aufzurufen, vor allem weil seit 2017 ein immer wieder aufflammender Kampf zwischen Gewerkschaftsführungen einerseits und LFI andererseits geführt wird darüber, wer legitim als Sprachrohr des sozialen Protests auftreten und dessen faktische Führung übernehmen könne.

Bernard Schmid

ist Anwalt und Publizist in Paris.