Selbstbediener des Volkes
Selenskyjs Vorstoß gegen die Unabhängigkeit der Antikorruptionsbehörden bescherte der Ukraine die ersten großen Proteste seit 2022
Von Jan Ole Arps
Angesichts der jüngsten Verhandlungen zwischen Trump und Putin (die nach Redaktionsschluss stattfanden) ist fast in Vergessenheit geraten, was Ende Juli in der Ukraine passierte. Das Land erlebte die größten Proteste seit Beginn des Großkrieges vor dreieinhalb Jahren. Tausende vor allem junge Menschen in zahlreichen Städten gingen auf die Straße, um die Demontage zweier Behörden zur Korruptionsbekämpfung zu verhindern – trotz des Kriegsrechts, das Demonstrationen eigentlich verbietet. Am Ende, nach Demos und Druck aus der EU, wurde die Unabhängigkeit beider Behörden wieder hergestellt.
Ausgelöst worden war die turbulente Woche am 22. Juli durch die Verabschiedung des Gesetzes 12.414 im Kiewer Parlament – in erster Lesung hatte es das Parlament bereits passiert, dann wurde es von der Regierung noch einmal stark verändert. Plötzlich sollte es auch die Unabhängigkeit der Behörden zur Korruptionsbekämpfung – des Nationale Antikorruptionsbüros (Nabu) und der Spezialisierten Antikorruptionsstaatsanwaltschaft (SAP) – aufheben. In den Wochen zuvor hatte es bereits Durchsuchungen bei Mitarbeiter*innen der Behörden und Antikorruptions-NGOs gegeben, offiziell wegen angeblicher Verbindungen zu Russland. Mit russischer Einflussnahme begründete Präsident Selenskyj auch das Ende der Unabhängigkeit von Nabu und SAP.
Die beiden Behörden, die im Nachgang der Euromaidan-Bewegung 2013/2014 geschaffen worden waren, ermitteln bei Korruption von hohen Beamt*innen und Entscheidungsträger*innen. Die Gründung war nicht nur eine Reaktion auf eine wichtige Euromaidan-Forderung, sondern auch Bedingung der EU für Finanzhilfen und Beitrittsverhandlungen.
Laut SAP-Chef Oleksandr Klymenko laufen derzeit Korruptionsermittlungen gegen 31 aktive Parlamentarier*innen. Erst im Juni war ein Verfahren wegen Bestechlichkeit gegen Oleksij Tschernyschow, bis dahin Minister, Vizepremier und Selenskyj-Vertrauter, öffentlich geworden. Die bisherige Gesetzeslage garantierte, dass sich niemand in diese Ermittlungen einmischen darf. Das Gesetz 12.414 sollte das ändern, indem es die SAP der Generalstaatsanwaltschaft unterstellt. Der Generalstaatsanwalt wiederum wird vom Präsidenten ernannt.
Das öffnet Tür und Tor für politische Einflussnahme – Kommentator*innen sprachen von einem Schritt zurück in die Zeit vor 2013 und vom Ende eines ungeschriebenen Paktes, bei dem die Zivilgesellschaft die Regierung auch in Kriegszeiten unterstützt, solange diese gegen Korruption vorgeht, Rechtsstaatlichkeit garantiert und einen Kurs in Richtung EU-Integration verfolgt.
Comeback der Oligarchen?
Eine große Mehrheit der Werchowna Rada stimmte am 22. Juli für das Gesetz, darunter die allermeisten Abgeordneten von Selenskyjs Partei Diener des Volkes, aber auch solche, die aus der unter dem Kriegsrecht verbotenen prorussischen Oppositionsplattform Für das Leben kommen. Nur einige wenige, darunter drei Diener-des-Volkes-Abgeordnete, stimmten dagegen. Noch in derselben Nacht setzte Selenskyj die Maßnahmen per Unterschrift in Kraft. Da hatten die Proteste in Kiew, Lwiw, Odessa allerdings bereits begonnen.
Tags darauf kamen Demonstrationen in weiteren Orten hinzu, darunter in frontnahen Großstädten wie Charkiw oder Sumy, auch in Krywyi Rih, Dnipro und anderen Städten weiter im Osten des Landes gingen Menschen auf die Straße. Berichte und Bilder zeigen vor allem junge und sehr junge Erwachsene, die Pappschilder mit Slogans wie »Schande« und »Dafür ist mein Vater nicht gestorben« in die Höhe halten.
Aus der EU kam ebenfalls scharfe Kritik. Für den Weg in die EU seien unabhängige Behörden notwendig; auch mit dem Aussetzen von Finanzhilfen soll gedroht worden sein. Schon nach wenigen Tagen erklärte Selenskyj, er habe die Botschaft der Bevölkerung verstanden. Am 31. Juli entschied das Parlament (ohne Gegenstimmen), die Unabhängigkeit von Nabu und SAP wiederherzustellen. Die Demonstrant*innen vor dem Parlament jubelten.
Dass die Korruptionsbekämpfung so ein brisantes Thema ist, hat einerseits mit dem Krieg zu tun, andererseits damit, wie Wirtschaft, Politik und der Klassenkonflikt in der Ukraine strukturiert sind.
Hat Selenskyj mit dem Manöver das Vertrauen der Ukrainer*innen verspielt? Das ist der Tenor in zahlreichen Kommentaren; die Regierung wiederum stellt das Einlenken als Beleg für funktionierende Demokratie und die Achtung des Bevölkerungswillens dar. Viel spekuliert wurde darüber, was Selenskyj überhaupt zu dem Vorstoß motiviert hatte. Wollte er Regierungsmitglieder oder enge Verbündete vor Ermittlungen schützen? Ganz klar sind die Motive nicht.
Dass die Korruptionsbekämpfung so ein brisantes Thema ist, hat einerseits mit dem Krieg zu tun, in dem Hunderttausende Soldat*innen gestorben sind oder verwundet wurden und fast jede Familie einen Angehörigen an der Front hat, oft ohne Aussicht auf Demobilisierung. Die Armee hat ein riesiges Nachschubproblem, die Rekrutierungsbehörden stehen wegen ihrer gewalttätigen Praktiken – und wegen Bestechlichkeit – in der Kritik und haben mit wachsendem Widerstand zu tun. Anfang August gab es die erste Demonstration mit hundert oder mehr Teilnehmer*innen gegen die Rekrutierung in der Großstadt Winnyzja. Die Angst, eingezogen zu werden, rührt aus den schrecklichen Aussichten an der Front, wie auch aus der Erfahrung, dass Korruption, Karrierismus und Willkür in der Armee und im Verteidigungsministerium die Risiken für die Eingezogenen noch verschärfen.
National überformter Klassenkonflikt
Die Frage der Korruption ist aber auch eng damit verknüpft, wie Wirtschaft, Politik und der Klassenkonflikt in der Ukraine strukturiert sind. In den brutalen Privatisierungswellen der 1990er Jahre entstand, ähnlich wie in Russland, ein oligarchischer Kapitalismus, der auf enger Verquickung wirtschaftlicher und politischer Macht beruht. Dieser ging, besonders im Osten, wo sich Bergbau und Schwerindustrie konzentrierten, mit klientelistisch geprägten Klassenbeziehungen einher, bei dem die oft oligarchischen Unternehmensbesitzer*innen sich politischen Einfluss auch durch Zugeständnisse an die Arbeiter*innen sicherten. (1) Die Euromaidan-Bewegung von 2013/14 war auch ein Aufstand der Mittelklassen und der städtischen Jugend vor allem im Westen der Ukraine gegen diese Verhältnisse. Vereinfacht gesagt forderten sie eine »ordentliche« kapitalistische Entwicklung, Rechtsstaatlichkeit und politische Freiheiten statt Oligarchenwillkür, Korruption und Autoritarismus: Europa statt Russland, Neoliberalismus statt Klientelkapitalismus und sowjetisches Erbe.
Dieser Konflikt zwischen zwei kapitalistischen Entwicklungswegen wurde indes vornehmlich als Identitätskonflikt zwischen West- und Ost-Orientierung artikuliert. Dabei war die Öffnung des ukrainischen Marktes für EU-Kapital für seine Verfechter*innen auch ein Werkzeug, um den Einfluss der Oligarchen zurückzudrängen. Von der Regierung des proeuropäischen nationalistischen Oligarchen Petro Poroshenko (2014–2019) waren viele Euromaidan-Demonstrant*innen gleichwohl enttäuscht, weil sie die Korruption weitgehend laufen ließ. Das »prorussische Lager« wiederum wurde nach den Maidan-Protesten weiter geschwächt, weil durch Russlands Annexion der Krim und die Besetzung von Teilen des Donbass große Teile dieses Lagers aus der ukrainischen Politik herausfielen. Die Invasion 2022 diskreditierte den Weg einer stärkeren Anlehnung an Russland in der ukrainischen Gesellschaft weitgehend.
Selenskyjs Überraschungserfolg 2019 hatte damit zu tun, dass er ein »prowestliches« ökonomisches Programm (neoliberale Reformen, Kampf gegen Korruption und Oligarchenwillkür) mit dem Versprechen verband, den Krieg im Donbass zu beenden. Als unbelasteter Kandidat außerhalb des Establishments unterlief er alte politische Frontlinien teilweise und konnte sich als Hoffnungsträger für eine Erneuerung der politischen Kultur präsentieren.
Auch kritische Beobachter*innen merken an, dass Selenskyjs Antikorruptionsprogramm durchaus ernst gemeint gewesen sei – wenn auch nicht besonders erfolgreich. Der ukrainische Journalist Serhij Hus schrieb in der Jungle World: »Versuche, die Macht der sogenannten Oligarchen gesetzlich zu beschränken, wie sie Wolodymyr Selelnskyj unternommen hat, änderten wenig. Auch der Krieg hat zwar den Wohlstand einiger wichtiger Oligarchen stark gemindert. An deren Stelle treten jedoch neue Geschäftsleute mit guten Verbindungen zu den Machthabern.« Der Krieg habe, so Hus, »die Entwicklung des marktwirtschaftlichen Kapitalismus außerdem behindert, weil die Staatsausgaben sich im Vergleich zur Vorkriegszeit verdreifacht haben. Das schafft Möglichkeiten der Bereicherung.«
Dass für viele, die Ende Juli auf die Straße gingen, der Angriff auf die Antikorruptionsbehörden der Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen brachte – nicht etwa die Einschnitte ins Arbeitsrecht in den letzten Jahren – hat auch mit dieser Überformung des Klassenkonflikts zu tun. Gegen Willkür zu sein, bedeutet für viele angesichts der jüngeren ukrainischen Geschichte zunächst, sich gegen Korruption zu wenden – und die Regierung auf einen prowestlichen Kurs zu verpflichten.
Neben der Sorge vor Restauration der Oligarchenmacht und der Angst, im Verlauf des Krieges unter Putins Einfluss zu fallen, kommt hier auch das Fehlen sozialistischer Deutungsangebote zum Tragen. Linke Initiativen wie Sotsialniy Rukh versuchten, mit Slogans wie »Der Mindestlohn steigt nicht, weil oben jemand stiehlt« und »Oligarchen in die Schützengräben« in die Proteste zu intervenieren und den Zusammenhang zwischen Reichtumskonzentration, Korruption und Sozialabbau herauszustellen. Doch damit sind sie noch eine Minderheit.
Anmerkung:
1) Ausführlich erklären diesen Zusammenhang die ukrainischen Soziolog*innen Daria Saburova und Denys Gorbach in einem im März erschienenen Interview auf mouvements.info (englische Version bei peopleandnature.wordpress.com).