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Kassensturz für Klassenkampf

Im Umfeld der Linkspartei ist eine Strategiedebatte entbrannt – auch zur Bilanz des Konzepts der verbindenden Klassenpolitik

Von Sebastian Bähr

Ein Mann in gelber Warnweste bläst in eine Trillerpfeife, dahinter weitere Demonstrant*innen mit Warnweste unter einer Autobahnbrücke
Die Krankenhausbewegung gilt als ein gelungenes Beispiel für »verbindende Klassenpolitik«. Aber reicht das? Streikdemo in der Tarifrunde Öffentlicher Dienst im März 2023 in Berlin. Foto: Aktion Lohnrettung / Twitter

Während die Ampelregierung mit einer verheerenden Sparpolitik wütet, soziale Bewegungen nur schwach mobilisieren können und die AfD massiv von einer diffusen gesellschaftlichen Frustration profitiert, ist im Umfeld der Linkspartei und in Teilen der radikalen Linken eine Strategiedebatte entbrannt. Unter dem Eindruck neuer geopolitischer Konfliktlinien, einer wahrscheinlich gewordenen Parteigründung des Wagenknecht-Lagers sowie ausbleibender linkspolitischer Erfolge wird vor allem in der Zeitschrift Luxemburg der Rosa-Luxemburg-Stiftung versucht, eine Zeitdiagnose zu formulieren und erfolgversprechende Handlungsschritte zu identifizieren. Auch auf einer Konferenz der Linken-Strömung Bewegungslinke Anfang September wurde die Frage nach einer zeitgemäßen linken Programmatik aufgegriffen.

In der Debatte wird nun auch eine Bewertung des rund zehn Jahre alten Konzepts der »verbindenden Klassenpolitik« gefordert – also der bewussten Verbindung von Klassenkämpfen mit antirassistischen, feministischen und ökologischen Kämpfen. Die Mehrheit der Linken-Spitze sowie der Organizing-affine Teil der radikalen Linken dürfte sich grob an dieser Prämisse orientieren, auch wenn das genaue Verständnis im Einzelnen unterschiedlich sein mag. Die Berliner Kampagne Deutsche Wohnen & Co enteignen, die Kämpfe der Krankenhaus- und Pflegebewegung, die Zusammenarbeit von Teilen von Fridays for Future mit ver.di und die Konferenzen zur gewerkschaftlichen Erneuerung der Rosa-Luxemburg-Stiftung etwa stehen für einen solchen Politikansatz. Doch wie fällt die konkrete Bilanz aus? Welche Lehren lassen sich aus den bisherigen Erfahrungen ziehen?

Eine neue Organisierungsdebatte

Ein Aspekt betrifft zuvorderst die Frage der Verzahnung und Schwerpunktsetzung. »Die verbindende Klassenpolitik war in der Theorie immer richtig, aber in der Praxis blieben gesellschaftliche Kämpfe nebeneinander stehen«, kritisiert die Journalistin und Kandidatin für die Linksparteiliste zur Europawahl, Ines Schwerdtner, gegenüber ak. Die Linke sei zudem bisher stark auf den Dienstleistungsbereich fokussiert gewesen, entsprechende Leuchtturmprojekte wie die Krankenhausbewegung hätten wiederum wenig in die Partei ausgestrahlt. Um die »Breite der arbeitenden Klasse« abzubilden, müssten auch der Industriebereich, prekär Beschäftigte sowie Menschen in Armut stärker berücksichtigt werden, glaubt Schwerdtner.

Fanny Zeise, Referentin für gewerkschaftliche Erneuerung bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung und zuständig für die gleichnamigen Konferenzen, betont indes das Potenzial der Krankenhaus- und Pflegebewegung. »Nach meiner Erfahrung haben Erfolge verbindender Klassenpolitik – wie in den Kliniken – große Ausstrahlung, viele in den Gewerkschaften und darüber hinaus wollen davon lernen. Dafür braucht es Dokumentationen, Schulungen, aber vor allem Orte wie die Streikkonferenzen, wo sich Menschen austauschen, kennenlernen und Kämpfe verbinden können.«

Das Fehlen konkreter Orte für Diskussionen und Organisierungsversuche wird aktuell in mehreren Beiträgen als Problem bezeichnet. Weniger um den Mangel an physischen Räumen geht es dabei, sondern stärker um eine bestimmte politische Praxis und Organisationen, die Verantwortung übernehmen. Jana Seppelt, Gewerkschaftssekretärin bei ver.di und stellvertretende Vorsitzende der Linkspartei, verwies auf der Konferenz der Bewegungslinken auf das Beispiel der Lausitz, wo für den Kohleausstieg und ebenso für gute Arbeitsbedingungen und Perspektiven der Kumpel gekämpft werden müsse. Damit es nicht nur bei leeren Worten bleibt, brauche es diesen vermittelnden Raum, wo der Konflikt zwischen Klimabewegung und Gewerkschaften konstruktiv ausgetragen werden könne.

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Doch warum fällt es so schwer, diese Praxis umzusetzen? Weil viele Linke am Ende doch eine andere strategische Orientierung haben? Wären bundesweite Aktivenkreise mit Unterstützer*innen aus Bewegungen, Gewerkschaften, der radikalen Linken und linken Parteien zur Pflege eines solchen Austauschs sinnvoll? Für Fanny Zeise ist zumindest klar, dass ein entsprechender Austausch unumgänglich ist: »Auch wenn aktuell etwa in der Automobilindustrie keine Kämpfe absehbar sind, die ökologische Fragen einbeziehen und damit Klasseninteressen verbinden, bedeutet dieser Ansatz, die Anliegen der Beschäftigten ernst zu nehmen, sie zu politisieren, über Lösungen zu diskutieren und Kontakte etwa zur Klimabewegung aufzubauen«, so die Referentin. »Diese Arbeit ist langwierig und nicht einfach, aber notwendig, weil eine ökologische und soziale Transformation der Industrie ohne die Arbeiter*innen und ihre Streikmacht nicht durchsetzbar sein wird.«

Wo setzt man nun hier am besten an? Vielleicht fehlt es derzeit nicht nur an den Orten, an denen etwas »verbunden« werden muss, sondern auch an gemeinsamer Kampfpraxis und Vision. Warum nicht zum Beispiel dafür streiken, dass mit jeder Lohnerhöhung vom Arbeitgeber auch Extrageld gezahlt werden muss für den ökologischen Umbau der Wohnung und Fortbewegungsmittel?

Beim Sprechen über Orte der Klassenpolitik verweist Ines Schwerdtner darauf, dass es ebenso wichtig wäre, Räume zu schaffen, in denen die »Beschäftigten im Zentrum stehen« und wo die Linke mit Betrieben verbunden ist – »etwa durch Betriebsgruppen«. Grundsätzlich sei aber eine andere Kultur notwendig: »Jede Äußerung der Partei, jede Aktion und jede Forderung vertritt die Interessen der arbeitenden Klasse als gelebte Praxis«, fordert sie. Dafür müsse sich die Partei so ändern, dass arbeitende Menschen in ihr eine politische Heimat sehen: etwa durch Aktionen und Redebeiträge von Beschäftigten statt Funktionär*innen, eine Arbeiter*innenquote auf Rede- und Wahllisten, eine Gehaltsbegrenzung bei Mandatsträger*innen, mehr mündliche Beiträge statt langer Sitzungen mit Texten, mehr gemeinsame Feste statt Dauerplena.

Bloß niemanden vor den Kopf stoßen

Schwerdtners Punkt verweist auch auf die wichtige Frage der Repräsentation: Es braucht Gesichter, die die Inhalte verbindender Klassenpolitik glaubwürdig nach außen tragen. In der Regel kommen in der politisch-medialen Öffentlichkeit in Deutschland Menschen aus körperlichen Berufen als Akteur*innen schlicht nicht vor. Dass etwa die Kampagne Genug ist Genug letzten Herbst Streikenden verschiedener Branchen und Aktiven von #armutsbetroffen eine Plattform bot, war positiv. Ebenso ist positiv, dass zwei Aktive aus der Krankenhausbewegung, Ellen Ost und Dana Lützkendorf, mittlerweile im Parteivorstand der Linkspartei sind. Dies müsste aber noch konsequenter Teil linker Organisierung werden – nicht nur in der Partei, auch in der radikalen Linken.

Es gibt kein relevantes linkes Medium für Nichtakademiker*innen in Deutschland – mit Ausnahme des Youtube-Kanals von Sahra Wagenknecht.

Die Repräsentation betrifft dabei ebenso die Medienfrage. Es gibt kein relevantes linkes Medium für Nichtakademiker*innen in Deutschland – mit Ausnahme des Youtube-Kanals von Sahra Wagenknecht. Der Aufbau eines Online-Fernsehsenders mag vielleicht aktuell die vorhandenen Ressourcen übersteigen – der klug genutzte Einsatz von Plattformen wie Youtube ist dagegen machbar. Die beste Plattform nützt indes nichts, wenn politische Aussagen zum Klassenkampf vage und vorsichtig bleiben. Bernie Sanders schaffte es, pointiert einen Gegensatz zwischen »corporate greed« und »hard working americans« aufzubauen – ungeachtet ihrer Herkunft und sexuellen Orientierung. Vertreter*innen der Linkspartei scheinen dagegen vor allem darauf bedacht, niemanden vor den Kopf zu stoßen.

Die übertriebene Vorsicht zeigt sich auch darin, dass es bisher kaum gelungen ist, Konflikte öffentlich zuzuspitzen und in der politischen Praxis eine konkrete Gegner*innenschaft herzustellen. Als beispielsweise klar wurde, dass die Berliner SPD selbst nach dem gewonnenen Volksentscheid von Deutsche Wohnen & Co enteignen dessen Umsetzung verweigert, hätte die Linksparteispitze im Berliner Senat stärker eskalieren und den Konflikt öffentlich schüren können. Wie der Mietenaktivist und Gewerkschafter Kalle Kunkel auf der Konferenz der Bewegungslinken erläuterte, wurde der Protest stattdessen den Linke-Abgeordneten überlassen, die der Enteignungsbewegung nahestanden.

Dass ein Teil der Linken-Parteispitze sich mögliche Koalitionen und damit die Regierungsfähigkeit nicht verbauen will, führt nicht nur in Berlin immer wieder dazu, dass Konfliktpotenziale nicht ausgeschöpft werden – damit wird auch die Chance vertan, Auseinandersetzungen weiter zu politisieren. Warum werden staatliche Spielregeln kaum kreativ ausgelegt, wo die Linke über Machtressourcen verfügt? Und auch, wo sie nicht über diese verfügt: Warum versucht die Linke nicht, einen politischen Streik zu organisieren – etwa, wenn, wie im März 2023, ver.di gezielt den Klimastreiktag für einen eigenen Ausstand wählt – und damit sowohl das Streikrecht zu erweitern als auch einen Bezugspunkt für verschiedene soziale Kämpfe zu schaffen?

Chancen im neuen Jahr

Mögliche Anknüpfungspunkte für eine revitalisierte Klassenpolitik gibt es demnächst einige. »Ein Projekt, das bei der Streikkonferenz in Bochum besonders im Fokus stand, ist die bevorstehende Tarifrunde Nahverkehr Anfang 2024«, sagt Fanny Zeise. »Ziel ist, die Streikmacht der Gewerkschaften mit der Aktivität der jungen Klimaaktiven und der Aufmerksamkeit für ihre Klimastreiks zu verknüpfen.« Im Bereich der Gesundheitspolitik wäre es für »größere Siege und deutliche Verbesserungen auf Bundesebene« wiederum notwendig, die Kämpfe um Personalbemessung endlich auch im Flächentarifvertrag und im Rahmen einer bundesweiten gesellschaftlichen Auseinandersetzung zu führen, so Zeise.

Generell gilt: Unter den rund 100.000 Gewerkschaftsmitgliedern, die dieses Jahr im Zuge kämpferischer Mobilisierungen – mit teilweise ernüchternden Abschlüssen – neu eingetreten sind, dürfte es einige geben, die für eine Zusammenarbeit zu gewinnen sind. Auch auf die entstandenen Organizing-Strukturen lässt sich aufbauen. Wenn es erneut zu einem »Megastreik« wie im März 2023 mit Arbeitsniederlegungen in Bereichen der kritischen Infrastruktur sowie dem Zusammenlaufen unterschiedlicher Tarifauseinandersetzungen kommt, könnte eine stärkere solidarische Begleitung und Zuspitzung durch die radikale Linke ebenso ein wichtiger Faktor sein. Die Kämpfe für Personalbemessung auf weitere Branchen zu übertragen, könnte wiederum gesellschaftliches Interesse wecken.

Gleichzeitig wäre es ein Fehler, die linken Bemühungen einzig auf den politisch bereits aktiven Teil der Beschäftigten und Aktivist*innen auszurichten. 80 Prozent der Beschäftigten haben noch nie gestreikt, 85 Prozent sind in keiner Gewerkschaft. Der Großteil der arbeitenden Klasse identifiziert sich weder mit dem Wort »Klasse« noch »Arbeiter«, die politische Resignation ist groß. Es gibt Überlegungen in der Rest-Linkspartei für eine Nichtwähler*innenstrategie, auch in der außerparlamentarischen Linken gibt es einzelne Versuche, etwa über aufsuchendes Stadtteil-Organizing, Menschen wieder zu erreichen und zu ermächtigen. Entsprechende Erfahrungen in diesen Bereichen müssten ebenso einem »Kassensturz« unterzogen werden.

Sebastian Bähr

ist Journalist. Bis Ende 2021 war er Redakteur der Tageszeitung neues deutschland.

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