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|ak 695 | Ökologie

»Wir brauchen eine neue Art des Überflusses«

Der japanische Philosoph Kohei Saito über seine Verbindung von Degrowth, Marx und Kommunismus

Interview: Guido Speckmann

Ein Porträtfoto von Kohei Saito
Glaubt nicht an nachhaltiges Wachstum und grüne Deals: Kohei Saito. Foto: Young Yu Kim

Der Bestseller des japanischen Ökomarxisten Kohei Saito liegt nun in deutscher Sprache vor. Ob das Buch mit dem deutschen Titel »Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus« auch hierzulande reißenden Absatz findet, wird sich zeigen. Eines steht aber jetzt schon fest: Um eine Antwort auf die Klimakrise zu finden, wird die Linke über den Degrowth-Kommunismus diskutieren müssen.

Du schreibst in deinem Buch »Systemsturz«: »Degrowth mit Marx? Ist der denn noch bei Trost?« Ich kenne deine vorherigen Bücher, in denen du Marx ökologisch interpretierst. Dennoch stellte auch ich mir diese Frage. Wie kommst du zu deiner These des Degrowth-Kommunismus?

Kohei Saito: Ich bin mir durchaus bewusst, dass der Degrowth-Kommunismus kein sehr verbreitetes Verständnis von Marx’ Utopie des Sozialismus ist. Auch habe ich in der Vergangenheit nicht explizit über Degrowth geschrieben oder diese Idee akzeptiert, weil ich aus einer marxistischen Tradition komme. Ich hegte Sympathien für Green-New-Deal-Vorschläge, die darauf zielen, die Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiter*innenklasse mit Klimapolitik zu verbinden. Erst durch die Verschärfung der Klimakrise habe ich erkannt, wie ernst diese tatsächlich ist. Und ich war sehr beeindruckt von Greta Thunberg und sozialen Bewegungen wie Fridays for Future, Extinction Rebellion oder Just Stop Oil. Sie stehen für mehr als nur Investitionen in grüne Technologien und nachhaltiges Wachstum. Mir wurde klar: Die Klimakrise ist so gewaltig, dass wir ganz andere Lösungen brauchen als die, die selbst in der Linken für selbstverständlich gehalten werden. Auch dort glaubt man immer noch – siehe zum Beispiel die Zeitschrift Jacobin – an das Märchen vom ewigen Wachstum, das Thunberg immer wieder scharf kritisiert hat.

Zugespitzt formuliert: Ohne Thunberg und den Fridays also kein Degrowth-Kommunismus?

Sie waren ein Anstoß, und dann bin ich wieder zu Marx zurückgekehrt, habe seine Manuskripte und Notizbücher gelesen. Mir wurde klar, warum er nichtwestliche Gesellschaften studierte, warum er von den russischen Dorfgemeinschaften so fasziniert war. In meiner früheren Arbeit hatte ich mich nur mit seinen naturwissenschaftlichen Notizbüchern beschäftigt. Aber als ich diese beiden Themen miteinander verband, erkannte ich, dass Marx nicht so optimistisch war, was die technische Entwicklung und die Entwicklung der Produktivkräfte anging. Und er akzeptierte auch die Idee einer eher stationären Wirtschaft. Und so begann ich, die These des Degrowth-Kommunismus zu entwickeln.

Die Klimakrise ist so gewaltig, dass wir andere Lösungen brauchen als die, die selbst die Linke für selbstverständlich hält.

Ein Aspekt des Degrowth-Kommunismus ist, dass er Überfluss schafft, während der Kapitalismus für Knappheit sorgt. Könntest du das erläutern?

Die Befürworter*innen von keynesianischen Green New Deals sprechen von der Schaffung neuer Arbeitsplätze, neuer Technologien etc. Dadurch werde die Armut überwunden und der Lebensstandard für alle gesichert. Das klingt gut, ist aber eine sehr kapitalistische Art, über Entwicklung und Fortschritt nachzudenken. Wenn wir beides aus einer antikolonialen und antiimperialistischen Perspektive aus betrachten, dann bedeutet Fortschritt und Entwicklung auch mehr Ausbeutung von Arbeitskraft und natürlicher Ressourcen, dann geht sogenanntes grünes Wachstum mit Unterdrückung und Umweltzerstörung einher. So kam ich zu der Erkenntnis, dass wir tatsächlich eine neue Art von Überfluss brauchen.

Wie soll dieser aussehen?

Es geht nicht darum, mehr Materialien zu verbrauchen, mehr Produkte zu konsumieren, nicht um mehr Geld. Es geht darum, gemeinschaftliches Kulturwissen zu bereichern, darum, etwas zu teilen; Menschen empfinden dann Freude und Glück. Neue Arten von Reichtum können auf Gemeinschaft und auf dem Teilen basieren, ich nenne es Commons, es ist der Reichtum des Gemeinwesens.

Das klingt abstrakt …

Konkret: Wir können uns entspannen oder neue Dinge lernen, wir können Bücher lesen oder Sport treiben. All das steigert unser Wohlbefinden. Zudem wird die Bindung zu anderen Menschen und das Gemeinschaftsgefühl verbessert, ohne den Planeten zu zerstören. Das ist die neue Art von Überfluss, nach der wir streben sollten.

Kohei Saito

ist Associate Professor für Philosophie an der Universität von Tokio. Er promovierte 2016 an der Berliner Humboldt-Universität mit einer Arbeit über »Marx’ Ökologie in seiner unvollendeten Kritik des Kapitalismus«. Saito ist Mitherausgeber der Marx-Engels-Gesamtausgabe; sein Buch »Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus« wurde in Japan mit einer halben Million verkaufter Exemplare ein großer Erfolg. Die deutsche Übersetzung (320 Seiten, 25 EUR) erscheint Mitte August bei dtv. Am 5. September (19 Uhr) wird Saito das Buch in Berlin bei der Rosa Luxemburg Stiftung vorstellen.

Wie unterscheidet sich dieser Überfluss vom alten, kapitalistischen?

Im Kapitalismus geht es darum, Dinge zu monopolisieren, für sich selbst und vielleicht noch für die Familie oder Freund*innen, aber im Grunde sehr individualistisch. Das führt zu Stress und Wettbewerb. Wir kaufen Dinge, wollen bald aber wieder neue haben, weil wir sie in der Werbung gesehen haben. Wir sind also nie zufrieden – und das ist schlecht für die Umwelt.

Du gehst in deinem Buch auf soziale Bewegungen ein, die »die Saat des Degrowth-Kommunismus in sich tragen«. Welche sind das?

Fridays for Future ist natürlich ein Beispiel. Aber auch die danach entstandenen radikaleren Bewegungen wie Extinction Rebellion. Sie plädiert für eine Dekarbonisierung bis 2025 und dafür, wirtschaftliche Aktivitäten zu stoppen, bis eine Versammlung abgehalten wird, wie diese Dekarbonisierung bis 2025 zu erreichen ist. Sie sagen nicht, dass wir nur in erneuerbare Energien investieren sollten – und alles ist gut. Vielmehr müssen gerade wir im Globalen Norden unsere derzeitige Lebensweise radikal ändern. Und das ist kompatibel mit Degrowth-Ideen. Die Saat des Degrowth-Kommunismus tragen auch die Menschen in sich, die sich in Großbritannien bei Just Stop Oil oder in Frankreich gegen den Bau von industriellen Wasserspeichern engagieren. Das sind meist radikale Ökolog*innen, die den Übergang vom kapitalistischen System des ewigen Wachstums hin zu einer ökologischeren Gesellschaft fordern, die tatsächlich auf Degrowth basiert. In Deutschland sehe ich Beispiele bei Ende Gelände oder bei Klimaaktivist*innen, die die Reifen von SUVs zerstören.

Aber brauchen wir nicht auch Investitionen in Solar- und Windenergie?

Natürlich brauchen wir Investitionen in grüne Energien und Elektrofahrzeuge, aber gleichzeitig sollten wir unsere imperiale Lebensweise viel radikaler infrage stellen. Wir sollten große Autos, kurze Inlandsflüge und den individuellen Autoverkehr in Städten verbieten. Das ist mit Degrowth vereinbar und auch antikapitalistisch. Marxist*innen sollten von diesen Bewegungen lernen und sich mit der Degrowth-Tradition auseinandersetzen, anstatt zu argumentieren, dass mehr Entwicklung gut für die Arbeiter*innenklasse sei.

Du unterscheidest zwischen einer alten und einer neuen Degrowth-Bewegung. Was sind die Differenzen?

Wenn ich von der alten Wachstumskritik spreche, meine ich hauptsächlich den Franzosen Serge Latouche. Er hat viele Verdienste, aber das Problem ist: Er spricht nicht ausdrücklich von der Überwindung des Kapitalismus. Herman Daly, ein weiterer »alter« Wachstumskritiker, schreibt zwar von einer »steady state economy«, aber nicht davon, das Marktsystem infrage zu stellen. Das hat auch damit zu tun, dass insbesondere nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre die sozialistische Perspektive sehr unpopulär war. Daher vermied es die Wachstumskritik, von Sozialismus oder Kommunismus zu sprechen. Das hat sich jedoch etwas geändert, insbesondere bei »jüngeren« Degrowth-Vertreter*innen wie Giorgos Kallis oder Jason Hickel. Sie kritisieren explizit den Kapitalismus, Kallis spricht neuerdings von ökosozialistischem Degrowth. Und auch die genannten Bewegungen fordern eine Wachstumsrücknahme und sind eher antikapitalistisch. In der Realität gibt es also eine Verschmelzung von kommunistisch-sozialistischer und Degrowth-Tradition. Und das versuche ich zu verbinden.

Lass uns über das marxistische Spektrum sprechen. Wie wird dort über Degrowth gedacht?

Generell ist der Marxismus immer noch sehr produktivistisch und technikoptimistisch. Viele Marxist*innen glauben, dass Degrowth und die Interessen der Arbeiter*innenklasse unvereinbar sind. Aber die Radikalisierung der Umweltbewegungen zwingt den Marxismus dazu, diese Annahmen zu überdenken. Und die Linke interessiert sich in der Tat mehr für Wachstumskritik. Jüngstes Beispiel ist die Ausgabe der marxistischen US-Zeitschrift Monthly Review zum Degrowth.

Du argumentierst, dass der Ökosozialismus keine ausreichende Option zur Bewältigung der Klimakrise ist. Warum?

Ökosozialismus ist ein Sammelbegriff, unter den ich auch den Degrowth-Kommunismus fassen würde. Das Problem ist, dass es Ökosozialist*innen wie David Schwartzman gibt, die für einen Solarkommunismus plädieren. Die Idee dahinter: Wenn wir ausreichend in Solarenergie investieren, können wir kostenlosen Strom von der Natur bekommen. Wir können also auf sozialistische Art und Weise massiv wachsen. Diese Ökosozialist*innen interessieren sich für ökologische Fragen und kritisieren auch den Kapitalismus. Aber das Problem ist, dass sie zu optimistisch sind, was das Potenzial der Technologie angeht. Sie gehen davon aus, dass, sobald der Kapitalismus überwunden und alles vergesellschaftet ist, die Technologie frei und für alle zugänglich wird. Dann wäre nachhaltiges Wachstum möglich. Ich glaube nicht daran.

Marxist*innen sollen also von der Wachstumskritik lernen. Aber sie allein reicht nicht aus, lautet dein Argument. Wir bräuchten Marx. Warum?

Seine Kapitalismuskritik liefert uns nicht nur eine solide Grundlage dafür, warum der Kapitalismus schlecht ist, warum er nicht grün sein kann, sondern Marx zeigt auch, welche Art von Gesellschaft wir anstreben sollten. Der gegenseitige Dialog und Lernprozess von Degrowth und Marxismus kann also sehr fruchtbar und produktiv sein.

Letzte Frage: Wieso ist Degrowth auch im Interesse der Arbeiter*innenklasse?

Wir müssen, wie eingangs erläutert, den Überfluss neu definieren und zum Beispiel kürzere Arbeitszeiten fordern. Das ist nicht nur gut für die Umwelt, sondern auch für die Arbeitenden, denn gerade in Ländern wie Japan machen die Beschäftigten Überstunden ohne Ende. Wir müssen neu definieren, was sozialistische Politik fordern sollte. Dazu müssen wir aber zunächst von der Wachstumskritik lernen. Wir müssen unser stereotypes, negatives Bild von Degrowth ändern. Es geht eben nicht darum, arm zu werden oder unsere Bedürfnisse einzuschränken. Deshalb bin ich froh, dass immer mehr Menschen versuchen, ein breiteres Bündnis von sozialen und ökologischen Bewegungen aufzubauen, weil wir keine Zeit haben, innerhalb des kleinen marxistischen Kreises zu diskutieren und uns zu kritisieren. Und ich hoffe, dass sich die Arbeiter*innenklasse dem Bündnis anschließen wird. Dann wird es eine neue sozialistische Bewegung im 21. Jahrhundert geben.

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