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|ak 691 | Feminismus

Keine faulen Äpfel

Sicherheit vor sexueller Gewalt entsteht nicht durch Strafe, sondern durch kollektives Handeln, sagt die Politikwissenschaftlerin Simin Jawabreh

Interview: Anastasia Tikhomirova

Aktivistinnen und Aktivisten hinter mit Bildern der Opfer von Hauanu und einem Plakat mit der Aufschrift "Erinnern heißt kämpfen – migrantischer und antifaschistischer Selbstschutz aufbauen – jetzt"
Migrantifa-Gruppen organisierten im Sommer 2020 landesweit zahlreiche Aktionen gegen Naziterror, Polizeigewalt und Rassismus. Foto: neukoellnbild / Umbruch Bildarchiv

Seit bald sechs Jahren existiert die MeToo-Bewegung, die zu mehr Sensibilität für sexuell übergriffiges Verhalten und neuen Gesetzen zum Schutz vor sexualisierter Gewalt führte. Gleichzeitig haben antifeministische Einstellungen in der Gesellschaft zugenommen. Wie bewertest du diese Entwicklung?

Simin Jawabreh: Einerseits als Erfolg, andererseits können wir daran gut sehen, dass ein vermehrter Rückgriff auf die Mittel des bürgerlichen Staates nicht zu weniger Gewalt an Frauen oder mehr Gerechtigkeit führt. Im Gegenteil – für viele, insbesondere Frauen ohne Dokumente, Migrantinnen oder Schwarze Frauen, bedeutet dieser Staat Repression statt Schutz. Die Stärkung seiner Mittel stellt eine Bedrohungslage für sie dar. Die Funktion des Strafens ist gesellschaftlich so angelegt, dass sie das System am Laufen erhält. Gestraft wird, dass entweder Ausbeutung generiert oder Menschen rechtlich zusätzlich verwundbar gemacht werden. Die häufigste Form des Freiheitsentzugs in Deutschland ist die Ersatzfreiheitsstrafe: Eine Haftstrafe für Menschen, die ihre vom Gericht auferlegten Geldstrafen, für beispielsweise Fahren ohne gültigen Fahrschein oder Diebstahl von geringen Lebensmittelmengen, nicht bezahlen können. Jährlich sind in Deutschland etwa 50.000 Menschen davon betroffen. Diese Systeme sind dazu da, Armut, die sie selbst erschaffen, zu bestrafen und damit aufrechtzuerhalten. Sich als Feminist*in auf Mittel des bürgerlichen Staates zu berufen ist nicht nur ambivalent, sondern stärkt den Status quo. Nicht nur die Funktion, auch die Verteilung von Strafe können wir hinterfragen. So werden aufgrund dieser Funktion reiche Menschen und hochrangige Politiker*innen kaum durch eine zum Beispiel aufgrund sexualisierter Gewalt anfallende Strafe tangiert. Sie können die Geldstrafe abbezahlen oder geraten gar nicht ins Visier der Staatsmacht. Arme Menschen in all ihrer Diversität schon. Insbesondere rassifizierte Menschen, denen qua Existenz eine »wilde Sexualität«, die es zu regulieren gelte, zugesprochen wird.

Jener Feminismus setzt sich auch für die Bestrafung von Catcalling ein. Ich bin dagegen, denn das würde mehr Polizei in unseren Kiezen, die sie als Gefahrengebiete ausgibt, und für viele mehr Gewalt und Repression im Alltag bedeuten. Die Gewalt an Frauen ist überall gleich verteilt, der bürgerliche Rechtsstaat verteilt seine Strafe aufgrund seiner genannten Funktion spezifisch – so wird Marginalisierung weitergetragen anstatt gegen sie anzukämpfen.

Gibt es in unserer Gesellschaft ein unhinterfragt hohes Strafbedürfnis? Besteht dieses auch in linken, feministischen Kreisen?

Gesellschaftlich ist es nicht nur unhinterfragt, es steigt an, wenn wir uns das Wachstum der Gefängnispopulationen anschauen bei gleichzeitigem Sinken der als »Kriminalität« deklarierten Fälle. Wenn wir Bestrafung vor allem als Personalisierung eines ganzen Menschen als »Gefahr« und seiner damit zusammenhängenden Isolierung aka Wegsperrung verstehen, dann haben wir das in der liberalen Linken zumindest stark.

Liberalismus, der aktuell vor allem ein Rechtsliberalismus ist, bezieht sich auf die Vorstellung von Rechten, die durch den Staat gewährt werden würden. Gleichzeitig übernimmt er auch seine Mittel. Oftmals bringt die Isolierung der gewaltausübenden Person weder Gerechtigkeit noch Heilung für die von Gewalt betroffene Person. Dass das nicht nachhaltig die Struktur angreift, ist leider auch klar. An erster Stelle gilt es dennoch, die betroffene Person zu schützen, das kann kurzfristige Ausschlüsse bedeuten oder ähnliches. Nicht zu strafen, bedeutet nicht, dass auf Taten keine Konsequenzen folgen, im Gegenteil.

Simin Jawabreh

Jawabreh studiert und arbeitet an der Humboldt Universität Berlin im Lehrbereich Theorie der Politik, in der politischen Bildungsarbeit und ist antirassistisch organisiert. Sie beschäftigt sich mit abolitionistischen Theorien und Marxismus.

Zahlreiche linke Gruppen versuchen, auf Polizei und Justiz zu verzichten und entwickeln mit Outcalling und Ausschluss von Tätern selbst Formen des Strafens. Kritiker*innen sehen das als Cancel Culture und Umkehrung der Unschuldsvermutung. Welche Probleme können hierbei entstehen?

Selbst nach bürgerlicher Messung kommt es zu drei Prozent Falschaussagen, deshalb würde ich immer an der Seite der Gewalt beklagenden Person stehen. Das Problem fängt für mich nicht da an, ob Gewalt passiert ist, sondern an anderen Stellen, zum Beispiel in der Benennung. Können wir eine sexistische Beleidigung gleichsetzen mit einem körperlichen Übergriff? Nein, gleichzeitig steht letzteres meistens in Kontinuität zu ersterem, auch ersteres kann als sexualisierte Gewalt beschrieben werden. Hier fehlt uns also oftmals die Sprache. »Deutungsmacht« müssen wir so denken, dass die Deutung darüber, dass Gewalt passiert ist, nie infrage gestellt wird – das heißt aber nicht, dass jedes von der Betroffenen gewünschte Mittel in der Bekämpfung dessen hilfreich sein muss. Auch gewaltbetroffene Personen können Vergeltung, permanente Isolierung des Täters und seine Bestrafung wollen. Ist das sinnvoll für eine Bewegung, die es mit strukturellen Problemen zu tun hat, welche die Massen prägen, in die sie intervenieren möchte? Nein. Cancel Culture ist ein rechtes Narrativ, es bezieht sich nur auf berühmte Personen in der Öffentlichkeit – diese werden nie tatsächlich gecancelt. Mittel wie Canceln, die wir aber nach oben anwenden wollen – wo sie offenkundig ins Leere laufen, weil das System im Interesse der gewaltausübenden Person ist –, dürfen wir nicht gegeneinander in der Bewegung verwenden. Denn hier können sie tatsächliche »Früchte tragen« im negativen Sinne. Die Unschuldsvermutung ist liberale Ideologie, es gibt keinen »schuldigen« oder »unschuldigen« Menschen, jede*r handelt mal mehr oder weniger gewaltvoll. Die Binarität von Schuld und Unschuld ist letztlich dafür da, das System aufrechtzuerhalten und damit den Klassenantagonismus: Es hat seine Gründe, warum das organisierte Sterbenlassen an den EU-Außengrenzen nicht mit »Schuld« geahndet wird, das Fliehen dieser Menschen vor Krieg aber schon. »Schuld« als Moralvorstellung kommt nicht zufällig, wie Nietzsche etymologisch nachzeichnete, vom finanziellen Tauschgeschäft.

Das Spannungsfeld, in dem wir uns als Linke bewegen müssen, ist einerseits Deutungsmacht und Betroffenenzentrierung zu haben, im Sinne eines Schutzes, gleichzeitig aber Menschen, die Gewalt ausgeübt haben und die bereit sind, diese aufzuarbeiten, nicht zu isolieren, sodass ihnen Veränderung verunmöglicht wird. Hier stehen wir in kollektiver Verantwortung zueinander.

Gewalt an Frauen ist überall gleich verteilt, der bürgerliche Rechtsstaat hingegen verteilt seine Strafe spezifisch.

Simin Jawabreh

Wie begünstigen wir besseren Opferschutz und effektive Täterarbeit?

Es muss feste Strukturen für den Umgang damit geben, um Gewalt nicht zu privatisieren: Supportteams für betroffene Personen oder Menschen, die in die Aufarbeitung mit der gewaltausübenden Person gehen. Natürlich müssen diese Programme graduell offen sein, damit sie angepasst werden können. Zudem die Möglichkeit von Ausschlüssen, wenn das bedeutet, dass damit mehr Menschen geschützt werden. Es ist wichtig, dass Betroffene festmachen können, in welcher Kontaktform sie danach noch zur gewaltausübenden Person stehen können und dass das von der Bewegung unterstützt wird. Sie haben aber nicht die Autorität über das Leben von jemand anderem. Wir können gewaltausübende Personen nicht einfach »wegschicken« – wir stehen auch in Verantwortung für diese und brauchen Mittel, die die ausgeübte Gewalt tatsächlich bearbeiten und Veränderung beim Menschen einleiten können. Das bedeutet, die geschehene Gewalt nicht zu individualisieren, sondern zu schauen, welche Dynamiken innerhalb eigener Bewegungen welches Verhalten begünstigen. Sich frei in seiner Bewegung artikulieren, organisieren zu können und gemeinsam in Praxis zu stehen, heißt immer, meine Genoss*innen zu respektieren und ihnen Menschlichkeit zuzusprechen. Das klingt banal, aber heißt, sowohl gesellschaftlich erlernte Gewalt so wenig wie möglich weiterzutragen, als auch ihr so zu begegnen, dass Verantwortung übernommen werden kann.

Ist es möglich, Gewalt ohne Strafe zu bekämpfen? Kann Gerechtigkeit und Wiedergutmachung ohne Polizei und Justiz hergestellt werden?

Das impliziert, Strafe könne Gewalt bekämpfen. Wie wir aber gesehen haben, besteht »Strafe« gesellschaftlich zur Aufrechterhaltung systemischer Gewalt. Dass alle 13 Sekunden ein Kind an Hunger stirbt oder der Zugang zu Wasser durch Privatisierungen von Unternehmen verwehrt wird, ist kein Strafbestand, dafür der stattfindende Diebstahl jener Lebensmittel. Die Frage »Kann Gewalt ohne Strafe bekämpft werden?« setzt bürgerliche Ideologie voraus. Gerechtigkeit und Wiedergutmachung entstehen nicht durch Polizei und Justiz, die entweder im Nachgang strafend reagieren oder bereits selbst im Vorfeld Akteure der Gewalt darstellen. Anstatt krampfhaft zu denken, wir müssten etwas »ersetzen«, geht es darum, überhaupt einen Umgang mit Gewalt zu finden. Allein das Abschaffen strafender Institutionen würde uns per se sicherer machen.

Interpersonelle Gewalt wird genauso wenig mit Bestrafung bekämpft: eine Person, die Gewalt als erfolgreiche soziale Verhaltensweise erlernt hat, gerät durch die »Bestrafung« in einen weiteren Strudel der Gewalt. Hier wird Gewalt individualisiert und als »fauler Apfel« behandelt, als selbstverschuldetes Verhalten, aber nicht im größeren Sinne systemisch wie auch sozial verortet. Anstatt aber Gewalt rein strukturell oder personell zu betrachten, muss es uns um ihre Beziehungsweise gehen.

Wir reden hier nur über einen kleinen Ausschnitt dessen, was wir als Bewegung nach innen stemmen können und was nicht. Feminismus ist ein materieller Kampf, der nicht nur in der eigenen Bewegung ausgetragen wird, sondern gesamtgesellschaftlich. Dafür braucht es Mittel des Umgangs, die einen gemeinsamen Kampf ermöglichen. Es ist der Aufbau einer Bewegung, die den jetzigen Zustand aufzuheben vermag. Wenn wir uns die Frage stellen, was uns wirklich sicher macht, dann brauchen wir festen Wohnraum, gleichen Lohn, Bleiberecht für alle, körperliche Selbstbestimmung etc., um uns nicht zusätzlicher Gewalt ausgesetzt zu sehen. Der versperrte Zugang zu Ressourcen wie die Vulnerabilisierung von Frauen und Queers ist systemisch angelegt. Konkret heißt Feminismus vor allem Klassenkampf.

Anastasia Tikhomirova

ist freie Journalistin und Kulturwissenschaftlerin. Sie war kürzlich als Gastredakteurin bei der russischen oppositionellen Zeitung Novaya Gazeta in Moskau im Rahmen eines IJP-Stipendiums.