»Ja, ich bin ein Gegner der Staatsführung«
Der Sozialist Oleg Schein über die Geschichte der russischen Linken, gewerkschaftliche Aktivitäten und seine Einstufung als »ausländischer Agent«
Interview: Ewgeniy Kasakow

Oleg Schein ist ein Urgestein der russischen Gewerkschaftsbewegung, ehemaliger Duma-Abgeordneter und Kriegsgegner. In den 2000er Jahren war das Institut für Kollektive Aktion, das Schein mit seiner damaligen Ehefrau, der französischen Soziologin Carine Clément, gründete und das diese leitete, eine wichtige Informations- und Vernetzungsplattform für soziale und gewerkschaftliche Proteste. Zuletzt engagierte er sich gegen Einschränkungen des Abtreibungsrechts in Russland und wandte sich immer wieder gegen den Angriffskrieg auf die Ukraine. Ende 2022 wurde Schein vom Justizministerium zum »ausländischen Agenten« erklärt. Mit ak sprach er über die Entwicklung der gewerkschaftlichen und sozialistischen Linken in Russland.
Was glauben Sie, warum das russische Justizministerium Sie am 22. November 2022 zum »ausländischen Agenten« erklärte?
Oleg Schein: Wegen meiner Ansichten. Eigentlich hat das Ministerium es direkt so formuliert. Sie beanstanden bei mir nicht »ausländische Finanzierung« oder Kontakte mit »unfreundlichen Staaten«. (1) Mir wird »Verbreitung von Informationen, die Handlungen der russländischen Regierungsorgane diskreditieren«, zur Last gelegt. Hier möchte ich nicht einmal widersprechen. Ich bin tatsächlich Gegner der Staatsführung, die Bürger*innen Russlands um ihre politischen Rechte brachte, soziale Errungenschaften des 20. Jahrhunderts zerstört und mit der atomaren Erpressung des ganzen Planeten spielt.
Sie sind seit 1989 politisch aktiv. Wie war Ihre Einstellung zur Sowjetunion, als die Perestrojka begann?
Als die Perestrojka begann, war ich 13. Dennoch habe ich recht früh begonnen, mich für Politik zu interessieren. Meine Eltern waren keine KPdSU-Mitglieder, aber sie vertraten sozialistische Ansichten. Meine Vorfahren hatten an den revolutionären Ereignissen teilgenommen; das war ein wichtiger Teil der Familiengeschichte. Mit 17 wurde ich politisch aktiv. Ich habe damals in einer Lokalzeitung einen Artikel veröffentlicht darüber, dass als Ergebnis der Privatisierung riesige Privatvermögen entstehen, für deren Eigentümer*innen die Demokratie gefährlich erscheinen wird, weswegen sie nach einem russischen Pinochet Ausschau halten werden. Auf der Suche nach Gleichgesinnten trat ich in die linke Vereinte Front der Werktätigen (OFT) ein (2), gründete eine regionale Organisation der OFT in Astrachan und fünf Jahre später wurde ich ins Regionalparlament gewählt und 1999 in die Staatsduma.

Oleg Schein
geboren 1972 in Astrachan, war bis 2024 Vize-Präsident des Gewerkschaftsverbandes Konföderation der Arbeit Russlands (KTR). Von 2000 bis 2021 war er Duma-Abgeordneter, erst für die Partei Rodina (Heimat), später für Gerechtes Russland.
Wie entstanden in den 1990er Jahren die neuen Gewerkschaften jenseits der Föderation der unabhängigen Gewerkschaften Russlands (FNPR), der Nachfolgestruktur des sowjetischen Gewerkschaftsverbandes WZSPS?
Man muss verstehen, dass es in der UdSSR faktisch keine Gewerkschaften gab. Es gab Organisationen, die so hießen und die unter den Beschäftigten soziale Hilfsmaßnahmen verteilten und im Auftrag der KPdSU die Betriebsdirektor*innen beaufsichtigten, aber das nur sehr zurückhaltend. Als das sowjetisches System zu bröckeln begann, wurden diese Organisationen nutzlos. Sie leisteten keinen Widerstand, weder gegen die Privatisierungen noch gegen die Massenentlassungen noch gegen die Lohnschulden der Arbeitgeber*innen.
Die ersten unabhängigen Gewerkschaften entstanden in den 1980ern als Reaktion auf diese Lücke. Aber als sie die Privatisierung der Betriebe forderten, verkleidet als Forderung nach »Selbstverwaltung« (3), machten diese Gewerkschaften de facto den Weg frei für die Formierung der besitzenden Klasse. Bei den Bergleuten, die als erste neue Gewerkschaften gegründet hatten, endete alles mit der Schließung der Schächte wegen mangelnder Rentabilität.
In den 1990ern begann eine neue Welle gewerkschaftlicher Aktivitäten als Reaktion auf vorenthaltene Löhne oder deren Entwertung durch die hohe Inflation. Diese Organisationen wurden als pragmatische Strukturen für den Schutz der Beschäftigtenrechte geschaffen. Besonderes erfolgreich waren sie im Transportsektor (Seeleute, Fluglotsen, Pilot*innen), aber es gab auch Beispiele im öffentlichen Sektor und in der Industrie. Die Gewerkschaft Saschita (Schutz), der ich bis vor kurzem vorstand, wurde in Gazprom-Betrieben gegründet und griff dann auf die Baubranche über. 2011 gründeten die freien Gewerkschaften einen eigenen Dachverband, die Konföderation der Arbeit Russlands (KTR), die neben der staatstragenden FNPR ständiges Mitglied in der dreiseitigen Kommission von Gewerkschaften, Arbeitgeber*innen und Regierung wurde und heute nach der FNPR der zweitgrößte Gewerkschaftsverband Russlands ist.
Sie haben sich lange der Parteipolitik verweigert. Warum entschieden Sie sich 1999, die Russländische Partei der Arbeit (RPT) zu gründen?
Zuerst ging ich davon aus, dass die Parteistrukturen zu eng seien und keine Möglichkeit für eine breitere Bewegung bieten. Aber Anfang der 2000er Jahre wurde klar, dass nicht mehr »100 Blumen blühen« werden in diesem Land, dass das politische System neu strukturiert wird. Ich wollte eine sozialistische Partei, deren Basis die Gewerkschaften bilden. Heute ist klar, dass dieses Ziel nicht erreichbar war, aber den Versuch war es wert. Ein Teil der RPT um den Vorsitzenden des damals drittgrößten Gewerkschaftsverbandes Sozprof, Sergei Charmow, ging zur KPRF-Abspaltung um den Unternehmer Gennadi Semigin, der die RPT in Patrioten Russlands umbenannte, ein anderer Teil, darunter ich, ein halbes Jahr später zur 2003 gegründeten Rodina-Partei.
Rodina hatte einen nationalistischen und einen sozialdemokratischen Flügel. Warum misslangen in Russland alle Versuche, eine linke Partei ohne Nationalismus zu gründen?
Russland ist das größte Land der Welt; was die Bevölkerung betrifft, ist es das größte in Europa, und es war eine der zwei Supermächte des 20. Jahrhunderts. Das hinterlässt einen kulturellen Abdruck. Nationalismus als Idee des russischen Auserwähltseins, der Überlegenheit der Russ*innen, funktioniert in der Wirklichkeit schlecht. Das ist ein marginales Feld des öffentlichen Diskurses, ungeachtet der offenen Sympathie der Staatsspitzen mit den russischen Nationalist*innen und deren großzügiger Finanzierung. Anders sieht es mit »Derschawnost«, der Großmachtidee, aus. Sie schafft einen riesigen öffentlichen Raum für Nostalgie, die verschiedene Richtungen einschlagen kann: von »Wir leben schlechter als unsere Nachbarn, wir müssen von ihnen lernen, dann schaffen wir es auch« bis zu »Wir holen uns historische Gebiete zurück«. Ersteres scheint schwieriger, denn es bedeutet einen Konflikt mit der Staatsführung, die als ineffektiv erkannt wird. Die zweite Richtung stimmt die Staatsführung durchaus zufrieden, denn sie ist eine ausgezeichnete Möglichkeit, die Unzufriedenheit des »kleinen Mannes« mit seinen Lebensbedingungen zu kanalisieren. Angesichts der Verengung des politischen Raumes ist es einfacher und sicherer, eine Agenda zu verfolgen, die nicht die eigene Staatsspitze, sondern Ukrainer*innen, Europäer*innen, Amerikaner*innen, Chines*innen und tadschikische Arbeiter*innen als Feinde markiert.
Umfragen zeigen, dass ungefähr die Hälfte der Bevölkerung Russlands sozialdemokratische Werte und liberale Ansichten teilt, während nationalistische Werte von etwa 15–20 Prozent geteilt werden. Die Mehrheit ist einfach frustriert und hat keine Möglichkeit, sich politisch auszudrücken.
Einer der wichtigsten Erfolge Putins ist, dass die gesamte politische Klasse jeder noch so menschenverachtenden Entscheidung zustimmen muss.
Rodina ging nach der Abspaltung des nationalistischen Flügels 2006 zusammen mit anderen kleinen Parteien in der neuen Partei Gerechtes Russland, auf, einem Konkurrenzprojekt zur Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF), der größten Oppositionspartei, die aber Putins Regierung vor allem in außenpolitischen Fragen unterstützt. Wie war die Arbeit dort?
Gerechtes Russland war ein ganz anderer Fall als Rodina, die keine fest gefügte Partei, sondern von verschiedenen Zielen und Führungsfiguren zerrissen war und schließlich von den Nationalist*innen ins Chaos gestürzt wurde. Gerechtes Russland wurde von Anfang an als gemäßigt sozialdemokratische, betont antistalinistische und progressive Partei aufgebaut. Daher gestaltete sich die Arbeit dort anfänglich sehr komfortabel. Es war Arbeit mit Aktivist*innen vor Ort, die für soziale Veränderungen kämpften. Die Transformation der Partei zur einer komplett loyalen Kraft begann nach der Niederschlagung der Bolotnaja-Proteste 2011–2012 gegen die Rückkehr Putins in Präsidialamt und Wahlmanipulation, es war ein langsamer Prozess mit einigem Hin und Her. Der Parteivorsitzende Sergei Mironow trat sogar mit Symbolen des Protestes auf. Ende der 2010er Jahre war einer der Berater von Mironow der bekannte Marxist Boris Kagarlitzki, der heute wegen Antikriegsäußerungen hinter Gittern sitzt.
Gab es 2022 in den Reihen der Partei Kriegsgegner*innen? Wie reagierte man in der Partei darauf, dass Sie nun ein »ausländischer Agent« sind?
Man hat mich aus der Partei ausgeschlossen – eine halbe Stunde nach der Bekanntmachung des Justizministeriums. Was die Kriegsgegner*innen betrifft, die gibt es natürlich, und ich kenne viele von ihnen gut. Ein Teil dieser Menschen zog sich aus der Parteipolitik zurück, ein Teil wartet auf bessere Zeiten. Aber im Moment kann man als jemand in der Parteiführung auf friedliche und demokratische Veränderungen in Russland nur warten, wenn man gleichzeitig an der Vernichtung der Demokratie und an der aktiven Rechtfertigung des Krieges teilnimmt. Einer der wichtigsten Erfolge von Putins »Machtvertikale« besteht darin, dass die gesamte politische Klasse jeder noch so menschenverachtenden Entscheidung zustimmen muss. Ich erinnere mich noch, als in den ersten Kriegstagen einige Abgeordnete, die für die Anerkennung der »Volksrepubliken« durch Russland stimmten, öffentlich sagten, sie gingen davon aus, dass es bei der russischen Truppenpräsenz in Donezk und Luhansk zur Abschreckung bleiben werde und dass sie einen Krieg gerade damit verhindern würden. Später stimmten sie alle für weitere Kriegsmaßnahmen und Repressionen gegen Kriegsgegner*innen.
Wie ist die Lage der Gewerkschaften heute?
Es gibt in Russland Gewerkschaften, darunter auch echte, kämpferische. Aber sie verlieren ihre Druckmittel. Streiks werden verboten. Demonstrationen sind verboten. Mahnwachen sind verboten. Aus den Kämpfen der vorherigen Jahre gibt es noch eine Art »Gewohnheitsmacht«, die es ermöglicht, bei Verhandlungen Druck zu machen, und es gibt die geradezu irrationale Angst der Machtvertikale vor sozialer Unzufriedenheit. Aber es ist klar, dass unter diesen Umständen nicht von einer Verbesserung der gewerkschaftlichen Verhandlungsmacht die Rede sein kann, sondern nur davon, die Defensive etwas zurückzudrängen.
Anmerkungen:
1) Im Mai 2021 erstellte die Regierung Russlands eine Liste, die seitdem kontinuierlich erweitert wird.
2) Eine Initiative von Perestrojka-Gegner*innen, die von 1989 bis 1996 bestand.
3) Selbstverwaltung wurde damals synonym für Freiheit von staatlicher Kontrolle verwendet: Selbstverwaltung der Betriebe gegen die staatliche Planung. Es war aber der erste Schritt zur Privatisierung. Die Belegschaften wählten Direktor*innen und Manager*innen und stimmten dem Verkauf der Betriebe dann zu.