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Futur Null

Nach dem Tod Aleksej Nawalnyjs ist die Lage in kremlkritischen Kreisen verzweifelt

Von Katja Woronina

Zu sehen ist das Grab Alexej Nawalnys, auf dem viele Blumen abgelegt wurden und ein Bild von Nawalny steht.
In den ersten drei Tagen nach Nawalnyjs Tod besuchten schätzungsweise 27.000 Menschen dessen Grab in Moskau. Foto: Katja Woronina

Das wunderbare Russland der Zukunft« – diese magische Formel hatte einst Aleksej Nawalnyj in das Vokabular der russischen Opposition eingeführt. Zu dem Zeitpunkt, 2017, wollte er für die Präsidentschaftswahlen kandidieren und seine optimistische Ansage geriet zum Slogan seiner Wahlkampagne. Am Ende kam alles anders: Nawalnyj durfte zur Wahl gar nicht erst antreten, überlebte 2020 eine Vergiftung mit dem Kampfstoff Nowitschok, um schließlich in einer Strafkolonie im eiskalten russischen Norden einen einsamen Tod zu sterben, an dem aus der Ferne ein Millionenpublik Anteil nahm. 

Seine Ermordung – allein die folterähnlichen Haftumstände dürften seiner Gesundheit erheblich zugesetzt haben, eine erneute Vergiftung ist zudem zumindest nicht ausgeschlossen – löste nicht nur bei seinen erklärten Anhänger*innen einen Schock aus. Viele Menschen empfanden die Nachricht als offene Kriegserklärung gegenüber der russischen Opposition, vergleichbar mit dem Beginn des großangelegten Militärangriffs auf die Ukraine. Nawalnyj diente als lebendige Projektionsfläche für Hoffnungen, die andere russische Politiker*innen per se nicht erfüllen konnten. Seine Person verkörperte das abstrakte Versprechen auf ein Ende des Putinschen Machtsystems mit all seinen bei zahlreichen Straßenprotesten angekreideten Facetten – Korruption, Ausschluss der Bevölkerung von politischer Teilhabe, Repression. 

In den Tagen zwischen der Todesnachricht vom 16. Februar und der Beerdigung, die zwei Wochen später stattfand, haben unzählige Menschen an Gedenkorten im ganzen Land Blumen niedergelegt – trotz des realen Risikos einer Festnahme. In den größeren Städten fotografierte die Polizei in der Regel alle, die sich durch ihr Erscheinen als Abtrünnige zu erkennen gaben. Dazu kommt die in Moskau perfektionierte Gesichtserkennung, die sich auf qualitativ immer hochwertigere Aufnahmen aus den überall aufgestellten Videoüberwachungskameras stützt. Ältere, aber insbesondere Vertreter*innen der jüngeren Generation, die Nawalnyj 2017 zu Massenprotesten mobilisiert hatte, erwiesen dem Oppositionellen trotzdem zuhauf die letzte Ehre. Es kamen sogar ganze Familien mit kleinen Kindern, nicht selten liefen den Leuten Tränen über die Wangen. 

Klaustrophobische Enge

In den ersten drei Tagen nach Nawalnyjs Beisetzung besuchten mindestens 27.000 Menschen sein Grab. Diese Zahl ergibt sich aus den Angaben der Moskauer Metro: 27.000 mehr Passagier*innen als gewöhnlich nutzten in dem Zeitraum die dem Friedhof nächstgelegene Metrostation. Bei der Trauerzeremonie am 1. März bildete sich eine kilometerlange Menschenschlange. Dieses lange in so einem immensen Ausmaß nicht mehr erlebte Gemeinschaftsgefühl – Demonstrationen sind de facto schon seit Jahren verboten – ermutigte so manche zu Sprechchören wie »Putin ist ein Mörder« oder »Gegen Krieg«. Wie eine Durchhalteparole klingt die immer wieder zu hörende Aussage »Wir haben keine Angst«. Das mag auf manche zutreffen, doch ist nicht zu übersehen, dass Menschen sich meist erst dann auf die Straße trauen, wenn es dafür einen »legitimen« Anlass gibt. Blumen niederzulegen, noch dazu im Trauerfall, gilt an sich als relativ unverfänglich, wenngleich diese Geste durchaus als politischer Akt verstanden werden kann.

Nach wie vor gibt es in Russland ein weitläufiges Netzwerk zur Unterstützung für Geflüchtete aus der Ukraine, das von jenen getragen wird, die den Krieg von Anfang an ablehnten.

Generell macht sich in kremlkritischen Kreisen seit Mitte Februar eine Mischung aus Wut und totaler Niedergeschlagenheit breit. Plötzlich äußerten auch jene Zweifel daran in Russland zu bleiben, die sich fest vorgenommen hatten, auf keinen Fall zu emigrieren. Doch in gewisser Hinsicht stellt sich die Lage wesentlich dramatischer dar als noch vor zwei Jahren, denn jetzt haben die bislang in Russland Verbliebenen eine weitaus bessere Vorstellung davon, welche Probleme mit dem dauerhaften Verlassen des Landes auf sie zukommen. Aus Erfahrungsberichten Emigrierter, von denen so manche zwischenzeitlich wieder nach Russland zurückgekehrt sind, lässt sich deutlich ablesen: Einen festen Aufenthaltstitel in einem anderen Land zu erlangen ist mit enormen Hürden verbunden, es ist mit erheblichen Einkommenseinbußen zu rechnen und Zusammenhänge russischer Emigrant*innen zur gegenseitigen Unterstützung funktionieren nur sehr eingeschränkt. 

Gleichzeitig tun sich in Russland derzeit keinerlei realistische Handlungsoptionen zur Überwindung der vom Machtapparat über das vergangene Vierteljahrhundert zielgerichtet umgesetzten Strategie der Vereinzelung auf. Das heißt jedoch keineswegs, dass alle völlig untätig bleiben. Nach wie vor gibt es in Russland, neben mit staatlichen Behörden kooperierenden Gruppen, ein weitläufiges unabhängiges Netzwerk zur Unterstützung für Geflüchtete aus der Ukraine, das im Wesentlichen von jenen getragen wird, die den Krieg von Anfang an ablehnten. Feministinnen und queere Menschen, die dem Generalverdacht unterliegen, der seit dem 1. März als »extremistisch« verbotenen »Internationalen LGBT-Bewegung« anzugehören, betreiben weiterhin Bibliotheken, unabhängige Buchläden vertreiben Literatur, die inzwischen aus den großen Ketten und dem Onlinehandel verbannt wurde. Künstler*innen versuchen sich darin, verbliebene Möglichkeiten für kritische Reflexionen zu nutzen, Räume dafür verbleiben indes nicht mehr allzu viele. Infolgedessen stellt sich ein regelrecht klaustrophobisches Gefühl ein.   

Eine nach einjähriger Abwesenheit zurückgekehrte Bekannte merkte an, dass selbst langjährige Freund*innen ihr regelrecht aus dem Weg gingen. Jene, die sich früher durchaus gegen die gesellschaftspolitischen Missstände engagiert hätten, hätten sich praktisch vollständig ins Privatleben zurückgezogen. Ein anderer berichtet, an seinem Arbeitsplatz hätte die Nachricht von Nawalnyjs Tod die einen Kolleg*innen zum Weinen gebracht, während andere schlichtweg mit Unverständnis reagierten: Schließlich sei nichts Weltbewegendes vorgefallen. 

Verlust des Sprachvermögens

Die Abgründe zwischen diesen beiden Gruppen sind so tief, dass eine verbale Annäherung unrealistisch erscheint. Der staatliche Propagandaapparat hat in Verbindung mit einem extrem repressiven Ansatz der Strafverfolgung dafür gesorgt, dass das offene Artikulieren von Meinungen und Sachverhalten nur im von oben sanktionierten Neusprech erfolgen kann. Konsument*innen russischer Exil-Medien wiederum können die dort gepflegte Ausdrucksweise in ihrem Alltag nicht anwenden oder höchstens in einem überschaubaren Kreis. Viel berichtet wird über die Angst vor Denunziation. Obwohl nicht von der Hand zu weisen ist, dass es etliche Fälle gibt, bei denen Denunziationen zu Strafermittlungen geführt haben, behindert nicht so sehr die Angst vor dem Verrat die Kommunikation im Alltag oder auf der Arbeitsstelle. Vielmehr haben sich Vertreter*innen aus dem jeweils anderen Lager schlichtweg nichts mehr zu sagen und tun sich leichter damit, die Meinung des Gegenübers einfach zu übergehen. 

Über den Krieg und die Gräueltaten des russischen Militärs in der Ukraine zu sprechen wird dadurch praktisch unterbunden – nicht nur im öffentlichen Raum, sondern auch innerhalb von Familien. Mascha (Name geändert), Anfang zwanzig, ist gegen den Krieg. Ihre Mutter schien zu Beginn noch recht indifferent bis sie das in Russland häufig anzutreffende Argument aufgriff, ein Kampfeinsatz lasse unerfahrene Jünglinge zu »echten Männern« reifen. Doch diese Phase hat sie längst überwunden. Die eigentlich als Psychologin arbeitende ausgebildete Krankenschwester hat vor einiger Zeit angefangen, auf ehrenamtlicher Basis verwundete russische Soldaten zu pflegen. Hätte sie Zugang zu verwundeten ukrainischen Soldaten, würde sie sich auch um diese kümmern. Ihrer Mutter, so Mascha, ginge der andauernde Krieg emotional sehr nahe und verursache bei ihr eine regelrechte Identitätskrise. Miteinander sprechen könnten sie darüber jedoch nicht.  

Im Verlust des Sprachvermögens manifestiert sich besonders deutlich, wie sehr der Krieg die russische Gesellschaft in der Hand hat. Die Parole von Russlands »wunderbarer Zukunft« hat vorerst wohl ausgedient. Bestenfalls bleibt sie noch in einigen Köpfen präsent, um irgendwie bis Kriegsende durchzuhalten. Selbst in Wladimir Putins Reden kommt die Zukunft genau genommen nicht vor oder nur in Form einer nicht enden wollenden »militärischen Spezialoperation«. 

Rein äußerlich betrachtet nimmt das Leben in Russland einfach seinen Gang. Weder bricht die Wirtschaft zusammen, noch kündigen sich politische Veränderungen an. Dass Mitte März Präsidentschaftswahlen stattfinden, ist nur deshalb nicht zu übersehen, weil überall Plakate darauf hinweisen. Lebhaftes Interesse weckt das Ereignis nicht, dafür steigt der Druck auf Beschäftigte im öffentlichen Sektor, in jedem Fall ihre Stimme abzugeben. Kontrollmöglichkeiten existieren dafür zur Genüge. Nawalnyjs Antikorruptionsfonds FBK ruft Putin-Gegner*innen dazu auf, am Sonntag, den 17. März um 12 Uhr ihr jeweiliges Wahllokal aufzusuchen und somit nicht nur auf dem Papier, sondern auch symbolisch gegen den ewigen Präsidenten zu stimmen. Und gegen den Krieg. Einige bekannte Oppositionelle wie Ex-Oligarch Michail Chodorkowskij tragen die Idee mit, andere, wie Ex-Schachgroßmeister Garry Kasparow, ignorieren den Aufruf demonstrativ.

Katja Woronina

ist Journalistin und lebt in Moskau.