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»Die national­­istische Rechte ist die laut­­stärkste Opposition«

Die russische Führung hat ihr Schicksal an den Ausgang des Krieges geknüpft – der Einfluss der progressiven Kräfte ist gering, erklärt Felix Jaitner

Interview: Sebastian Bähr

Putin steht zwischen Uniformierten an einem Rednerpult und schaut ernst drein
Hat Wagner-Chef Prigoschin ihn einen »Opa« und »Vollidioten« genannt? Putin auf der Siegesparade am 9. Mai in Moskau. Foto: kremlin.ru, CC BY 4.0

Der Politikwissenschaftler Felix Jaitner seziert in seinem neuen Buch »Russlands Kapitalismus. Die Zukunft des System Putin« das Regime in Russland. Im Interview erklärt er, wie es um linke progressive Kräfte in dem Land steht, wie sich das Verhältnis von Rechten zur Regierung zwischen Einbindung und Konflikt bewegt und was nach einem Kriegsende in Russland blühen könnte.

Du hast vor einem Jahr in ak geschrieben, dass die Fortdauer des Krieges in der Ukraine eine Verschärfung der Repression in Russland zur Folge haben dürfte. Über welchen Spielraum verfügt die Opposition noch nach mehr als einem Jahr intensiver Kampfhandlungen?

Felix Jaitner: Das Ausmaß der Repression hat wie erwartet weiter zugenommen. Davon zeugen etwa das staatliche Vorgehen gegen die Anti-Kriegsbewegung, die Auflösung von NGOs beziehungsweise die Erklärung von internationalen NGOs zu »unerwünschten Organisationen« oder die Haftstrafen für Vertreter*innen der Opposition, wie jüngst für den rechtsliberalen Wladimir Kara-Mursa. Oppositionelle Kräfte verfügen entsprechend kaum noch über die Möglichkeit, ihre Positionen in den öffentlichen Diskurs zu bringen, geschweige denn auf die staatliche Politik Einfluss zu nehmen.

Wie ist die Lage der linken Kräfte im Land?

Die Lage progressiver Kräfte im Land ist sehr schwierig. Schon vor dem Krieg war die russische Linke einerseits in ein staatszentriertes-patriotisches und andererseits in ein staatskritisches Lager gespalten. Seit dem russischen Überfall hat sich diese Entwicklung weiter verschärft. Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation und ein Teil der außerparlamentarischen Bewegung um den Aktivisten Sergej Udalzow unterstützen mehrheitlich den Kurs der Regierung, während Kräfte wie die Russische Sozialistische Bewegung oder anarchistische Gruppen von Anfang an klar gegen den Krieg Stellung bezogen haben. Öffentlicher Protest gegen den russischen Angriff wird jedoch so repressiv verfolgt, dass sich die verbliebenen kritischen Organisationen vor allem auf regionale Stadtteilarbeit und Vernetzung konzentrieren. Insgesamt ist die Linke relativ stark isoliert und noch schwächer als vor Beginn des Krieges.

Titelseite des Sonderhefts. Titel: Ukraine-Krieg. Unterzeile: Russlands Invasion und die Debatte um Imperialismus und Internationalismus

ak Sonderheft zum Ukraine-Krieg

Wie verändert Russlands Angriff auf die Ukraine die internationale Politik und das linke Verständnis von Imperialismus und Internationalismus?

Wie hat sich das Verhältnis zwischen der Regierung und den nationalistischen Kräften entwickelt?

Das Verhältnis der russischen Regierung zu den Rechten ist widersprüchlich. Während linke und liberale Kräfte stärker und systematischer von Repression betroffen sind, ist es speziell seit den Massenprotesten der Jahre 2011 bis 2013 zu einer Integration national-konservativer Kräfte in den Machtblock gekommen. Aktuell ist die nationalistische Rechte die lautstärkste Opposition. Ihre Vertreter wie Iwan Girkin, einer der militärischen Führer der separatistischen Volksrepublik Donzek und ehemaliger Geheimdienstmitarbeiter, kritisieren die Regierung öffentlich für ihre vermeintlich lasche Kriegsführung und fordern die Ausrichtung auf eine Kriegswirtschaft. Dennoch verfügt die Rechte kaum über eigenständige Strukturen. Demonstrationen zur Unterstützung des Krieges hat die Regierung sogar wiederholt verboten. Die wenigen öffentlichen Veranstaltungen wie im März vergangenen Jahres im Moskauer Luzhniki-Stadion wurden von der Regierung selbst organisiert.

Bei entsprechenden Veranstaltungen betont Wladimir Putin die Erfolglosigkeit westlicher Sanktionen. Welche Auswirkungen haben diese auf die russische Wirtschaft?

Die westlichen Sanktionen haben der russischen Wirtschaft zweifellos geschadet, allerdings bei Weitem nicht in dem Maße wie gedacht. Zum einen hat das westliche Embargo die Preise für Öl und Gas in die Höhe schnellen lassen, wodurch der Staat über hohe und konstante Einnahmen verfügt. Zum anderen importieren inzwischen die Türkei, Indien und China einen Großteil der russischen Energielieferungen. Damit beschleunigt sich im Krieg eine Entwicklung, die bereits seit 2014 und 2015 – dem Beginn der Ukraine-Krise – immer deutlicher wird: die Ausrichtung der russischen Wirtschaft nach Südostasien. Damit wächst aber auch die Abhängigkeit von der Region und insbesondere von China.

Foto: privat

Felix Jaitner

hat an der Universität Wien zu Entwicklungskonflikten im russischen Machtblock promoviert und leitet den Bereich Klima und Umwelt des Austausch e. V. in Berlin. Kürzlich erschien sein Buch »Russlands Kapitalismus. Die Zukunft des System Putin« beim VSA-Verlag.

Gelingt es der russischen Regierung auch, westliche Hochtechnologie-Importe zu ersetzen?

Die Putin-Administration setzt immer stärker auf eine Strategie der Importsubstitution. Sie versucht also, die westlichen Importe – üblicherweise Hochtechnologiegüter wie Maschinen und Autos – zunehmend durch eigene Produktion zu ersetzen. Die westlichen Sanktionen könnten laut dem Ökonomen und langjährigen Wirtschaftsberater Putins, Sergej Glaziew, eine existenzielle Bedrohung für Russland darstellen, wenn es nicht gelinge, die einheimische Industrie zu stärken. Diese national-konservativen Kräfte im russischen Machtblock stehen übrigens in einem deutlich konfrontativeren Verhältnis zum Westen. Sie tragen den aggressiven außenpolitischen Kurs mit, da sie sich langfristig ökonomische Vorteile versprechen.

Stichwort aggressiver außenpolitischer Kurs: Es scheint derzeit, als ob ein langer Zermürbungskrieg in der Ukraine droht. Wie lange kann dieser Status aus russischer Sicht anhalten?

Die russische Regierung knüpft ihr Schicksal immer enger an den Ausgang des Krieges. Durch die Teilmobilisierung und die Wirtschaftskrise wird der Krieg auch für immer größere Bevölkerungsschichten unmittelbar spürbar. Ein baldiges Ende des Krieges ist aufgrund des ukrainischen Widerstands jedoch nicht absehbar, sodass die russischen Verluste und die finanziellen Kosten weiter steigen werden. Vor diesem Hintergrund dürfte sich die staatliche Repression noch verschärfen. Die langfristige gesellschaftliche Entwicklung Russlands hängt ebenfalls stark von dem Ausgang des Krieges ab.

Inwiefern?

Ein Sieg über die Ukraine würde das Putin-Regime nicht nur stabilisieren, sondern auch die national-konservativen, aggressiv-reaktionären Kräfte im Machtblock stärken. Die Folge wäre weniger eine größere militärische Bedrohung für die osteuropäischen Nato-Staaten, sondern eine weitere Destabilisierung des postsowjetischen Raums. Die Region ist geprägt von einer Vielzahl von Konflikten, zum Beispiel zwischen Armenien und Aserbaidschan oder Kirgistan und Tadschikistan, aber auch Bürgerkriegen. Zur Absicherung ihrer hegemonialen Ansprüche dürften die national-konservativen Kräfte nach einem Sieg über die Ukraine versuchen, ihre Stellung im postsowjetischen Raum weiter zu stärken und in entsprechende Konflikte zu intervenieren.

Was wären dagegen die Folgen einer militärischen Niederlage?

Anders als viele westliche Russland-Expert*innen prophezeien, folgt auf eine Niederlage Russlands keinesfalls automatisch eine Demokratisierung des Landes. Im Gegenteil: Eine bürgerlich-demokratische Entwicklung halte ich für das unwahrscheinlichste Szenario. Realistischer erscheinen mir eher eine Machtübernahme der nationalistischen Kräfte, möglicherweise im Bündnis mit neoliberalen Fraktionen des Machtblocks, sowie eine gewaltsame Eskalation der eingefrorenen Konflikte im Nordkaukasus. In einem solchen Szenario ist ein Zerfall Russlands nicht auszuschließen.

Anders als viele westliche Russland-Expert*innen prophezeien, folgt auf eine Niederlage Russlands keinesfalls automatisch eine Demokratisierung. Im Gegenteil.

Was wären Voraussetzungen für eine positive Entwicklung in der Region?

Die Auflösung der Sowjetunion und die neoliberale Schocktherapie sind wichtige Erklärungsfaktoren für den Aufstieg Wladimir Putins. Nur wenn wir endlich die Bedeutung der 1990er Jahre für die gesellschaftliche Entwicklung Russlands – und des gesamten postsowjetischen Raums – berücksichtigen, wird es möglich sein, die Entwicklung in der Region zu stabilisieren und den Ländern eine Perspektive zu geben. Diese muss über ein Wirtschaftsmodell von Rohstoffexporten und finanzmarktgetriebener Spekulation hinausgehen. Dieser Krieg ist schließlich auch eine Niederlage für den Westen und seiner gescheiterten Politik.

Was meinst du damit?

Der russische Angriff auf die Ukraine ist auch das Resultat der ausgebliebenen Annäherung zwischen Russland und dem Westen. Anders als die westlichen Staaten – allen voran Deutschland – konnte Russland viel weniger von dem Ende des Kalten Krieges profitieren. Stattdessen wurde es als globaler Rohstofflieferant in den Weltmarkt integriert. Der linke Historiker Boris Kagarlitzkij beschreibt Russland daher als peripheres Imperium. Denn trotz seiner ökonomischen Schwäche bleibt es aufgrund seines militärischen Potenzials und der geografischen Lage ein wichtiger internationaler Akteur, auch wenn der Westen diese Bedeutung oft ignorierte und viele militärische Interventionen wie in Jugoslawien, Irak oder die Bombardierung Libyens gegen den Widerstand der russischen Regierung durchführte. Dies stärkte früh revanchistische Kräfte, was unter anderem an den hegemonialen Ansprüchen Russlands im postsowjetischen Raum deutlich wird.

Wie können die progressiven Kräfte in Russland gestärkt werden?

Die Repression, der progressive Kräfte in Russland ausgesetzt sind, muss im öffentlichen Diskurs hierzulande mehr Aufmerksamkeit erhalten. Diesbezüglich ist es auch wichtig, der selektiven Visavergabe der Bundesregierung entgegenzutreten, die nur einzelne bekannte Gesichter der Opposition oder des öffentlichen Lebens begünstigt. Stattdessen braucht es ein vereinfachtes Verfahren, mit dem alle Menschen das Land bei drohender Strafverfolgung leichter verlassen können. Grundsätzlich sollten linke Kräfte aus Deutschland den Diskurs mit russischen Aktivist*innen intensivieren und sich stärker mit Russland auseinandersetzen. Beides gibt es bis heute kaum. Die Dämonisierung Russlands sowie eine dadurch bedingte Abgrenzung halte ich für eine gefährliche Entwicklung. Sie führt zu mangelnder Differenzierung und vertieft die Gräben zwischen den progressiven Kräften und Kriegsgegner*innen auf beiden Seiten. Davon profitieren nur die Kriegstreiber.

Sebastian Bähr

ist Journalist. Bis Ende 2021 war er Redakteur der Tageszeitung neues deutschland.