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Vom Krisen- zum Kriegs­bonapartismus

Der Ukraine-Krieg hat Russland verändert. Je länger er anhält, desto mehr steigt die Repression

Von Felix Jaitner

Soldaten in Paradeuniformen mit russischer und roter Fahne marschieren vor einer anderen Reihe Soldaten und vor einem Plakat mit der Aufschrift "9 Mai 1945-2019"
Kann eine Regierung, die sich in der Tradition des antifaschistischen Kampfes sieht, wirklich faschistisch sein? Parade zum Tag des Sieges in Moskau 2019. Foto: Mil.ru / Wikimedia Commons , CC BY 4.0

Es ist unsere Pflicht, derer zu gedenken, die den Nationalsozialismus vernichtet haben … und alles zu tun, damit sich der Schrecken eines weltweiten Krieges nicht wiederholt.« Mit diesen eindringlichen Worten untermauerte Wladimir Putin die Feierlichkeiten am Tag des Sieges am 9. Mai in Moskau. Die Pflicht zum Gedenken, der Kampf gegen den Nationalsozialismus und das Verhindern neuer Kriege – dieser Teil der Rede des russischen Präsidenten liest sich wie ein Auszug aus dem Programm der deutschen Linkspartei.

Doch ausgerechnet die russische Regierung, die im Gegensatz zu den westlichen Siegermächten des Zweiten Weltkrieges das antifaschistische Erbe für sich klar und deutlich beansprucht, wird zunehmend als faschistisch beschrieben. Putin sei zwar kein Nazi, schreibt der Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Insomezew in einem Artikel für die Neue Zürcher Zeitung, doch repräsentiere er ein faschistisches Modell nach dem Vorbild Benito Mussolinis, das auf vier Säulen beruhe: einer expansiven Außenpolitik, einer Verdrängung des Privatkapitals durch den Staat, dem Einsatz staatlicher Gewaltapparate und systematischer Propaganda. Differenzierter äußert sich der Publizist Ilja Budraitskis. Dieser bezeichnet die Herrschaftsverhältnisse in Russland als »postfaschistisch«. Der Faschismus des 21. Jahrhunderts brauche weder Massenbewegungen noch eine kohärente Ideologie. Das Ziel bestehe vielmehr in der völligen Unterordnung der beherrschten Klassen unter den Machtblock. Während in der ersten Phase des Putinismus eine begrenzte Meinungsfreiheit, ein Wettstreit der institutionalisierten Oppositionsparteien im Rahmen der Vorgaben des Kremls und ein Recht auf Privatsphäre bestanden habe, verlange der Staat seit dem Angriff auf die Ukraine von allen Bürger*innen bedingungslose Zustimmung zum Krieg.

Die Stärke der Post-Faschismus-These liegt darin, den Zusammenhang zwischen der sich verschärfenden Repression und dem Krieg klar aufzuzeigen. Die ungeheuerliche Gewalt, mit der das russische Militär die ukrainische Zivilbevölkerung überzieht, richtet sich auch gegen die Menschen im eigenen Land: Landesweit 15.440 Festnahmen im Zusammenhang mit Antikriegsprotesten zählt die Moskauer Nichtregierungsorganisation OVD-Info seit dem russischen Überfall. Und die Liste wird von Tag zu Tag länger. Amnesty International spricht sogar seit Beginn des Angriffs von einer »kriegsähnlichen Zensur«. Überregionale und einflussreiche kritische Medien (Doschd, Echo Moskwy, Mediazona) werden blockiert, der Zugang zu Facebook und Twitter gesperrt. Die Verbreitung von »Falschinformationen« über die Aktivitäten der russischen Streitkräfte und deren Diskreditierung kann dank eines im März verabschiedeten Gesetzes mit bis zu 15 Jahren Haft geahndet werden.

Zudem häufen sich Vorwürfe von Folter durch die Polizei. Heimliche Mitschnitte belegen, wie Polizisten die Demonstrantin Alexandra Kaluschskaja während eines Verhörs schlugen und ankündigten, alle Volksfeinde umzubringen, denn Putin würde sie unterstützen. Trotz der Verschärfungen bleibt die Frage: Kann eine Regierung, die sich in der Tradition des antifaschistischen Kampfes sieht, wirklich faschistisch sein?

Antifaschismus als Legitimationsgrundlage

Es ist die Inanspruchnahme des antifaschistischen Erbes durch den russischen Staat, die viele Menschen – gerade in der deutschsprachigen Linken – über bedenkliche Entwicklungen hat hinwegsehen lassen. Die Auflösung von Menschenrechtsorganisationen wie Memorial im Dezember 2021, die Verhaftung des rechten Antikorruptionsaktivisten Alexej Nawalnyj und das systematische Vorgehen gegen dessen Bewegung im selben Jahr stießen in der deutschsprachigen Linken kaum auf Resonanz. Dabei symbolisieren sie eine Verschärfung des repressiven Kurses im Innern. Der im März erfolgte Austritt aus dem Europarat ist ein weiterer bedenklicher Meilenstein in diese Richtung, denn er macht deutlich, dass die russische Regierung sich mittlerweile nicht mehr an internationale Menschenrechtsstandards gebunden fühlt.

Die Inanspruchnahme des antifaschistischen Erbes durch den russischen Staat hat Linke über bedenkliche Entwicklungen hinwegsehen lassen.

Was es dabei jedoch zu bedenken gilt: Die sich radikalisierende autoritäre Herrschaft in Russland ist Ausdruck eines Konfliktes innerhalb der Herrschenden um die künftige Ausrichtung des Landes. Hintergrund dieser Auseinandersetzung ist die tiefe Legitimationskrise, in der sich das Regime seit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 befindet.

Während die 1990er Jahre – die Phase des Übergangs von sozialistischer Plan- zur kapitalistischen Marktwirtschaft – einen beispiellosen ökonomischen Niedergang einläuteten, fielen die ersten beiden Amtszeiten Putins (2000–2008) mit einem wirtschaftlichen Aufschwung zusammen, der im Wesentlichen von zwei Faktoren getragen wurde: dem hohen Ölpreis und dem Putinschen Stabilitätsversprechen. So verlangte die russische Regierung von ihrer Bevölkerung politische Passivität und garantierte dafür im Gegenzug hohes Wirtschaftswachstum. Voraussetzungen für Stabilität und »Ruhe« waren die Zerschlagung separatistischer Bestrebungen und die Integration der aus dem Transformationsprozess hervorgegangenen Bourgeoisie, den sogenannten Oligarchen, in die neue Herrschaftsordnung. Folgerichtig bestand eine der ersten Amtshandlungen Putins in der Wiederaufnahme der Kampfhandlungen in Tschetschenien. Damit kündigte er das Friedensabkommen zwischen den Separatisten und der Föderalregierung von 1996 einseitig auf. Der Einsatz staatlicher Gewaltapparate (Armee, Polizei, Geheimdienste) begünstigte eine Militarisierung der Innenpolitik, die demokratische Institutionen und Kräfte weiter schwächte.

Die Rückkehr der Wirtschaftskrise 2008 gefährdete das Stabilitätsversprechen der Regierung. Als Präsident Dmitrij Medwedew seinen Verzicht auf eine erneute Kandidatur zugunsten Putins öffentlich verkünden musste, kam es zu Protesten, die das Land fast eineinhalb Jahre in Atem hielten. Die Besonderheit der Proteste bestanden in ihrer expliziten Ablehnung der Institutionen und Repräsentant*innen des unter Putin etablierten Systems. Interessanterweise gestanden die Protestierenden auch den öffentlich bekannten und im Westen populären Vertreter*innen der liberalen Opposition keine Führungsrolle zu und forderten stattdessen eine eigenständige Organisation und Vertretung. Zugleich verorteten sie sich in der zeitgenössischen globalen Protestwelle der Jahre 2010 bis 2013, die mit dem Arabischen Frühling ihren Anfang nahm und durch die Occupy-Bewegung und die Proteste gegen die Austeritätspolitik in Europa eine globale Dimension erhielten. Davon zeugt die Besetzung eines öffentlichen Platzes im Moskauer Stadtzentrum und die Errichtung eines dauerhaften Zeltlagers, Occupy Abai, im Mai 2012.

Öffnung nach Rechts

Die Regierung antwortete auf die Proteste mit verstärkter Repression und einer politischen Öffnung nach Rechts. Davon zeugen der Eintritt bekannter nationalistischer Politiker wie Dmitrij Rogosin in die Regierung oder der Aufstieg des Ökonomen Sergej Glazjew zum Präsidentschaftsberater. Den Einflussgewinn national-konservativer Kräfte verdeutlicht ein Blick auf die konkrete Regierungspolitik seit dem Jahr 2012.

Flankiert von zunehmend hysterischen Warnungen vor Einmischung ausländischer Mächte und der Gefahr einer von außen gesteuerten Farbenrevolution schränkte die Putin-Administration den Spielraum für zivilgesellschaftliche Organisationen systematisch ein. Gesetze über das Verbot homosexueller Propaganda oder die Internierung von Migrant*innen in Lagern gehen mit einer reaktionären Kultur- und Geschichtspolitik einher. Es werden Feiertage zum »Tag der Einheit des Volkes« geschaffen und Präsident Wladimir Putin in eine Reihe mit den russischen »Gründervätern« wie Iwan dem Großen, Peter dem Großen oder Josef Stalin gerückt. In diesem Zusammenhang erhält auch der Zweite Weltkrieg eine neue Bedeutung, der nun als russischer Befreiungskrieg interpretiert wird. Damit einher gehen die Beschwörung des eigenen Großmachtstatus sowie eine Glorifizierung der Armee – eine rechte Politik, die insgesamt als »Krim-Konsens« bezeichnet wird.

Im Zuge der sich verschärfenden Konfrontation mit dem Westen wächst dabei auch der Einfluss national-konservativer Kräfte auf die Außenpolitik. Der aggressive, großrussische Nationalismus untermauert die eigenen Hegemonialansprüche im postsowjetischen Raum und stabilisiert zumindest temporär die Verhältnisse im Innern. Als charismatischer »Bonaparte« steht Putin nicht nur für Stabilität in ökonomischen Krisenzeiten, er verkörpert die Rückkehr Russlands auf die Weltbühne. Die gegenwärtige Radikalisierung autoritärer Herrschaft im Innern beschleunigt daher Entwicklungen, die bereits in den Jahren zuvor angelegt waren.

Paradoxerweise wird der staatliche Antifaschismus zur Legitimationsgrundlage nationalistischer und imperialer propagandistischer Ziele. So kursiert in Russland seit einigen Jahren auf den Gedenkfeiern während des 9. Mais die Losung »1941–1945: Wir können es wiederholen«. Die Botschaft bezieht sich weniger auf die Vergangenheit als auf die Gegenwart: Sollte ein Land uns angreifen, stehen wir bereit – und werden selbstverständlich wieder gewinnen.

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Der vorläufige Höhepunkt dieser Entwicklung ist der Angriff auf die Ukraine. Die expansive Außenpolitik und die großrussisch-imperiale Ideologie verdeutlichen die Schwäche der Oligarchie, die im Zuge des Transformationsprozesses entstandenen Herrschaftsverhältnisse durch ein hegemoniales Gesellschaftsprojekt abzusichern. Vor diesem Hintergrund wird der antifaschistische Kampf seines progressiven Kerns beraubt und verwandelt sich von einer radikal-demokratischen Praxis zur Grundlage für einen vermeintlichen Präventivkrieg. Frei nach Immanuel Kant ist der Antifaschismus nicht das Ziel, sondern das Mittel.

Die Zukunft Russlands ist eng mit dem weiteren Kriegsverlauf verknüpft. Die immer umfangreicheren westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine verdeutlichen den Strategieschwenk der Nato. Am Tag des russischen Angriffs verweigerte FDP-Finanzminister Christian Lindner dem ukrainischen Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, angeblich militärische Unterstützung mit dem Argument, die Ukraine werde nur wenige Tage Stand halten. Nun soll Russland in einen langfristigen, verlustreichen Krieg gezogen werden. Doch die Strategie ist hochriskant. Nicht nur weil sie gewaltige Opfer und Zerstörung mit sich bringt, worunter in erster Linie die Menschen in der Ukraine zu leiden haben. Eine Verlängerung der Gewalt dürfte unweigerlich eine weitere Verschärfung der Repression in Russland zur Folge haben.

Felix Jaitner

hat an der Universität Wien zu Entwicklungskonflikten im russischen Machtblock promoviert und leitet den Bereich Kima und Umwelt des DRA e. V. in Berlin .