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Fällt der Hijab-Zwang, stürzt das Regime

Iran erlebt eine Revolution, die das Fundament der religiösen Diktatur angreift: sexuelle Unterdrückung und Geschlechterungleichheit

Von Mina Khani

Eine Frau mit einem geflochtenen Zopf von hinten zeigt ein Victory Zeichen, in ihrer Blickrichtung gehen vier Polizisten in Kampfmontur
Keine Angst mehr: Seit Beginn der Proteste ignorieren immer mehr Frauen den Kopftuchzwang. Aufnahme von einem nicht näher bekannten Ort in Iran; das Bild zirkuliert seit dem 13. Oktober auf Social Media. Quelle: Twitter

Es begann mit dem staatlichen Femizid an einer kurdischen Frau, deren Name jetzt die ganze Welt kennt: Jîna Mahsa Amini. Vier Wochen später sind die Menschen in Iran immer noch auf der Straße – sie verlangen das Ende des Regimes. Die Proteste begannen vor dem Kasra Krankenhaus in Teheran, in dem Amini verstarb, dort wurden sie von der Polizei aufgelöst. Der Staat mag da noch geglaubt haben, dass er alles unter Kontrolle hat. Die Familie von Jîna Amini hat es nicht zugelassen.

Sie hat demonstriert, indem sie der Version des Staates, wie es zu diesem Tod gekommen ist, widersprach. Dann hat sich die kurdische Zivilgesellschaft zu Wort gemeldet und Proteste und Streiks in Kurdistan organisiert – mit dem Aufruf an die ganze iranische Gesellschaft: »Wehrt euch.« Sehr rasch haben sich die Proteste landesweit ausgebreitet und eine revolutionäre Phase in Iran eingeläutet.

Seit Wochen füllen sich die Straßen nun mit Frauen und jungen Menschen, die keine Angst zeigen. Schon Ende September schränkte der Staat das Internet massiv ein in der Hoffnung, die Bewegung so in den Griff zu bekommen – ohne Erfolg. Als die Proteste auf der Straße schwächer zu werden drohten, schalteten sich die Student*innen ein. Die Sharif Universität in Teheran, die bekannteste Universität des Landes, wurde infolge der Proteste auf dem Campus massiv von Einheiten des Staates angegriffen. Menschen wurden verletzt und verhaftet, einigen sogar ins Auge geschossen.

Doch auch das hat die Bewegung nicht gestoppt, im Gegenteil: Studierende an weiteren Universitäten schlossen sich an, Schüler*innen haben ebenfalls zu Streiks aufgerufen. Die Parolen an den Universitäten und auf der Straße wurden immer lauter. Die Namen der ermordeten jungen Frauen wurden genannt, der Staat hart angegriffen. »Das ist kein Protest, das ist der Beginn einer Revolution.« Schüler*innen haben ihre Kopftücher abgelegt. Sie haben Direktoren aus den Schulen geworfen.

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Student*innen haben den Mut der Schüler*innen mit weiteren Protesten beantwortet. Dann meldeten sich auch die Arbeiter*innen zu Wort. Erst waren es die Lehrer*innen, die zum landesweiten Streik aufriefen. Bei den Schüler*innen bedankten sie sich für ihre mutigen Aktionen. Ihre Proteste seien eine Lehre über »Mut, Leben, Emanzipation«, so der Slogan des Lehrer*innenverbandes.

Danach ist das passiert, worauf wir seit Jahren gewartet haben: Die Arbeiter*innenschaft der Petrochemie hat sich gemeldet, seit dem 10. Oktober ist auch sie im Streik. Ihre Aufrufe nehmen direkt Bezug auf die Straßenproteste. Im Statement der Arbeiter*innen in der petrochemischen Industrie ist keine Zurückhaltung zu erkennen: »Wir haben gesagt, dass wir nicht schweigen werden, wenn Menschen ermordet werden. Hiermit rufen wir alle Arbeitenden der Petrochemie, sowohl die Festangestellten als auch die Projektarbeiter*innen, auf: Schließt euch an.«

Die Strategie der Spaltung scheitert bisher

Der iranische Staat hat unterschiedliche Strategien probiert, um die Proteste aufzulösen. Er hat junge Menschen brutal auf der Straße ermordet. Die Zentrale der kurdischen Parteien in Erbil (Kurdistan/Irak) wurde angegriffen. Es gab ein Massaker in Zahedan, der Hauptstadt der Provinz Belutschistan ganz im Osten Irans, wo Belutschis massenhaft ermordet wurden. Dann wurde die Sharif Universität angegriffen, nun sind wieder kurdische Städte dran. In Sanandaj leistet die Bevölkerung (Stand: 13. Oktober) seit Tagen Widerstand gegen massive Angriffe des Militärs.

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Auch das ist Strategie: Der Staat attackiert punktuell bestimmte Orte und soziale Gruppen, um die Proteste zu spalten. Bisher sind all diese Versuche gescheitert, auch wenn die iranische Bevölkerung sehr unter den heftigen Angriffen leidet. Was alle sozialen Gruppen, die angegriffen wurden – sowohl die Kurd*nnen als auch die Belutschis als auch die Student*innen als auch die junge Frauen –, dieses Mal gemacht haben: Sie haben sich alle an die gesamte iranische Gesellschaft gewandt. Mit einer klaren Forderung: »Lasst uns nicht allein, kommt auf die Straße, solidarisiert euch, indem ihr die Kraft des Repressionsapparats strapaziert.« Jedes Mal sind andere Menschen dieser Forderung nachgekommen.

Nicht nur alle Iraner*innen kennen nun die Parole »Frau, Leben, Freiheit«, die ursprünglich aus dem kurdischen Widerstand kommt. Die ganze Welt ruft sie, und es kommen immer neue Versionen auf: »Trans, Leben, Freiheit«, »Queer, Leben, Freiheit«, »Lesbian/Gay, Leben, Freiheit«. Auch wenn die queere Community auf den Straßen Irans kaum sichtbar ist, werden diese Versionen in den sozialen Medien von ihr aufgegriffen. Auch in Berlin wird sie von iranischen, queeren Menschen gerufen. All diese Parolen richten sich gegen das patriarchale Fundament der religiösen Diktatur in Iran.

Wie wurde das patriarchale Zwangssystem errichtet?

Der selbsternannte Islamische Staat hat nach seiner Gründung 1979 so schnell wie möglich eine reaktionäre Geschlechterordnung errichtet. Was damals viele nicht verstanden haben: Wer mit der Kontrolle der Frauen und weiblich gelesenen Menschen anfängt, bleibt nicht dort stehen. Politische und religiöse Säuberungen, ethnische Unterdrückung, insbesondere in kurdischen und arabisch bewohnten Gebieten, sowie eine scharfe Einschränkung der politischen Rechte und der Meinungsfreiheit folgten.

Der Iran-Irak-Krieg war ein weiterer Katalysator für diese Entwicklung. Der Hijab-Zwang konnte erst während des Krieges gesetzlich durchgesetzt werden. Khomeini selbst bezeichnete den Krieg als »Segen für die Nation«. Die iranische Gesellschaft wurde militarisiert, der Krieg für Säuberungen in »Kunst und Politik« genutzt. Auch die systematische Ermordung der links orientierten politischen Gefangenen und Kurd*innen in den 1980er Jahren fiel in diese Zeit. Tausende weitere Linke wurden allein im Sommer 1988 ermordet, kurz bevor der Krieg endete. Arbeiter*innenverbände und Gewerkschaften wurden illegalisiert.

Als der Krieg vorbei war, waren wir, die erste nach der Revolution geborene Generation, gerade erst in der Schule und mussten dort die Propaganda des Staates lernen und wiedergeben. Im Alter von sieben wurden wir durch binäre Geschlechtszuweisungen in der Schule von unseren Freunden getrennt; alle, die zu »Frauen« erklärt wurden, erlebten von diesem Alter an den Hijab-Zwang.

Was wir gerade erleben, ist eine Revolution. Dieses Mal sollte es eine feministische Revolution bleiben.

Man kann sagen, dass die gesamte religiöse Diktatur in Iran auf geschlechtlicher und sexueller Unterdrückung aufbaut. Wobei der Staat nicht nur Frauen unterdrückt, sondern mit der Zwangsverschleierung ein strikt binäres Geschlechtersystem definiert. Die Kriminalisierung der Kleiderwahl von Frauen und weiblich gelesenen Menschen, die Kriminalisierung gleichgeschlechtlicher Beziehungen bis zur Todesstrafe, die Kriminalisierung des freien Ausdrucks der Genderidentität in Bezug auf trans Personen – all das dient einer Diktatur, die, ausgehend von der sexuellen Kontrolle, die gesamte Gesellschaft unterwirft.

Nun rufen fast alle sozialen Gruppen, die von den faschistoiden Repressionen des Staates betroffen sind, »Frau, Leben, Freiheit«. Die Zentralität feministischer Parolen auf der Straße ist neu, obwohl Frauen nicht nur eine große Rolle in der Revolution 1979 spielten, sondern auch zu den ersten gehörten, die sich gegen das neue Zwangssystem auflehnten. Schon am 8. März 1979, dem ersten 8. März nach der Revolution, versammelten sich Frauen gegen Khomeinis Aufruf zur Zwangsverschleierung auf der Straße. Tagelang protestierten sie. Ihre Parolen: »Wir haben nicht revoltiert, um zurückzukehren. Freiheit ist weder westlich noch östlich, Freiheit ist international. Die Freiheit der Gesellschaft ist ohne die Freiheit der Frauen nicht möglich.«

Die Ignoranz der Linken

Die politischen Kräfte der damaligen Zeit haben diese Forderungen und den Widerstand der Frauen nicht unterstützt. Auch die iranische Mehrheitsgesellschaft sah die Angelegenheit als unwichtig an. Viele, die diesen historischen Einschnittt nicht verstanden oder lächerlich machten, mussten später selbst um ihre Freiheit kämpfen. Darunter linke und liberale politische Kräfte, die den angeblich antiimperialsitischen Kurs von Khomeini für wichtiger hielten als die Freiheit der Hälfte der Gesellschaft.

Auch die Linke in der westlichen Welt hat die Situation in Iran jahrelang nur aus einer eurozentristischen Perspektive betrachtet – das heißt nur in Bezug auf die außenpolitischen Debatten über Sanktionen, Atomverhandlungen, die USA und Israel. Diese Ignoranz hat dazu geführt, dass viele Iraner*innen der Linken gegenüber misstrauisch sind. Die Linke in der Welt, inklusive der iranischen Linken, sollte sich daher mit Ratschlägen an die Bewegung zurückhalten. Sie muss ihre alten Perspektiven überwinden und zunächst analysieren, warum sie von einem Kampf überrascht ist, den die iranischen Frauen seit Jahren führen.

Die auf sexueller Unterdrückung und Geschlechterungleichheit basierte Entfremdung der Gesellschaft hat jahrzehntelang als Hauptstütze des Systems zur systematischen Unterdrückung der Iraner*innen funktioniert. Mit seinen Maßnahmen zur Kontrolle der Gesellschaft durch die Kontrolle der Frau hat der Staat eine Maschinerie des Todes erschaffen und das Leben an sich kriminalisiert. Wenn die Zwangsverschleierung endlich gestoppt wird, wird der Islamische Staat in Iran stürzen. Auch deshalb ist das, was wir gerade erleben, eine Revolution. Dieses Mal sollte es eine feministische Revolution bleiben.

Mina Khani

ist iranische Publizistin und linke Feministin. Sie lebt in Berlin.

Der Artikel wurde zuletzt am 13. Oktober aktualisiert, neuere Entwicklungen sind nicht berücksichtigt.

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