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Ohne Zwangs-Hijab keine Islamische Republik

Nach dem staatlichen Mord an Zhina Amini erschüttern historische Proteste die Geschlechterordnung in Iran

Von Mina Khani

Verwackelte Aufnahme einer Menschenmenge auf einem Platz bei Nacht. Auf einem Stromkasten inmitten der Menge sitzt eine Frau und schneidet sich die Haare ab, Umstehende filmen die Szene mit ihren Mobiltelefonen
Auf einem Platz in der Stadt Kerman sitzt eine Frau auf einem Stromkasten und schneidet ihre Haare ab, 20. September 2022. Screenshot aus Video: cheshm_abi / Twitter

Gestern Abend erhielt ich eine Nachricht einer Freundin aus Iran, die an den Protesten teilgenommen hat und dabei verletzt wurde: »Mina, es war wie ein Krieg auf der Straße. Die Menschen sind sehr mutig, aber der Staat will das Internet wieder abschalten, um uns zu ermorden. Seid in dieser Zeit bitte unsere Stimme.« Es war ihre letzte Nachricht, seither ist das mobile Internet in Iran abgestellt, der Zugang zu Social-Media-Plattformen und Messengerdiensten eingeschränkt. Ein bedrohliches Zeichen. Als die Regierung im November 2019 das Internet abschaltete, um die rapide eskalierenden Proteste gegen Preiserhöhungen niederzuschlagen, ermordeten Sicherheitskräfte in den folgenden Tagen bis zu 1.500 Menschen.

Die Protestwelle, die sich nun als Reaktion auf den staatlichen Femizid an der 22-jährigen Kurdin Zhina (Mahsa) Amini durch die Sittenpolizei ausgebreitet hat, ist ein historisches Ereignis, auf das wir schon lange gewartet haben. Es ist ein Aufstand gegen die Zwangsverschleierung in Iran, ein Kampf gegen das gesamte patriarchale System.

Auf Videos in den sozialen Medien sind Menschen zu sehen, die sich gegen die Sicherheitskräfte zur Wehr setzen; Frauen, die ihre Hijabs verbrennen und Steine auf Polizeifahrzeuge schleudern.

Aus mehr als 50 Städten wurden Proteste berichtet. In den sozialen Medien zirkulieren Hunderte Bilder von der Wut der Iraner*innen: »Zhina Amini, das war Mord.« Auf Videos sind Menschen zu sehen, die sich gegen die Sicherheitskräfte zur Wehr setzen; Frauen, die die Straßenkämpfe anführen und ihre Hijabs verbrennen; Frauen und trans Personen, die ihre Haare abschneiden und Steine auf Polizeifahrzeuge schleudern. Äußerungen von den sichtbaren Teilen der iranischen LGBT-Community, die sich solidarisch erklären, und von Männern, die offener über Gendergerechtigkeit sprechen. Aktionen von Künstlerinnen aus Iran, die ihre Kopftücher aus Protest ablegen. Stellungnahmen von Künstlerinnen, die sich für ihre Arbeit unter den Regeln des Staates schämen. In mehreren Orten brannten Regierungsgebäude oder andere Symbole der Macht wie ein riesiges Banner für den toten Revolutionsgarden-General Soleimani in dessen Heimatstadt Kerman. Bislang sollen Sicherheitskräfte mindestens zehn Menschen bei den Protesten ermordet haben.

Der Femizid, der den Aufstand auslöste

Es ist das erste Mal in der iranischen Geschichte, dass ein staatlicher Femizid zur Durchsetzung der Zwangsverschleierung für so einen großen Aufstand sorgt. Es geht um die 22-jährige Zhina (Mahsa) Amini, die am 13. September von der Sittenpolizei in Teheran festgenommen wurde. Wenige Stunden nach ihrer Festnahme lag sie schon im Krankenhaus im Koma, am Freitag, den 16. September, verstarb sie dort.

IIhr Bruder, der mit ihr unterwegs war, machte die Ereignisse öffentlich. »Ich habe ihnen (den Sittenpolizist*innen; MK) gesagt, dass wir Fremde in der Stadt sind und dass sie sie bitte freilassen sollten«, erzählt er. Die Verantwortlichen der Sittenpolizei haben auf offiziellen Kanälen den Fall so erklärt: »Sie ist wegen spontanen Herzversagens zusammengebrochen.« Später veröffentlichte das Krankenhaus Kasra in Teheran ebenfalls eine Erklärung: »Zhina Amini wurde schon hirntot ins Krankenhaus eingeliefert.« Wenig später wurde diese Erklärung vom Instagram-Kanal des Krankenhauses gelöscht. Trotzdem meldeten sich Ärzte dieses Krankenhauses bei Journalist*innen im Ausland und bestätigten, dass Zhina Amini schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht worden war.

Auch Augenzeuginnen, Frauen, die ebenso wie Zhina von der Sittenpolizei mitgenommen wurden, haben sich bei Journalist*innen gemeldet und berichtet, dass Zhina mehrmals mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen wurde. Auf einem Bild aus dem Krankenhaus, das in den sozialen Medien veröffentlicht wurde, ist zu sehen, wie Blut aus ihren Ohren fließt. Später wurden sogar die Scans ihres Gehirns veröffentlicht. Sie zeugen davon, dass Zhina Amini eine Hirnblutung erlitt.

Zhina hieß nur deshalb Mahsa, weil der iranische Staat Kurd*innen nicht erlaubt, sich kurdisch klingende Namen für ihre Kinder aussuchen.

Kurz nach ihrem Tod meldeten sich Angehörige von Zhina erneut zu Wort und erklärten, dass sie die Version des Staates nicht glauben. Wenig später erschienen die ersten Aufrufe der kurdischen Zivilgesellschaft zu Protesten und Streiks.

Es ist elementar wichtig zu wissen, dass Zhina nur deshalb Mahsa hieß, weil der iranische Staat Kurd*innen nicht erlaubt, sich kurdisch klingende Namen für ihre Kinder auszusuchen. Die Proteste in kurdischen Städten Irans waren daher auch die ersten. Davor gab es einen Versuch, sich vor dem Krankenhaus Kasra in Teheran zu versammeln. Die Versammlung war aber nicht sehr groß und wurde schnell durch die Polizei aufgelöst.

Nachdem die Proteste in Kurdistan begannen, ist das Einmalige in der iranischen Geschichte seit der Gründung des Islamischen Staates passiert. Frauen haben bei der Beerdigung von Zhina Amini kollektiv ihre Kopftücher abgelegt. Männer standen dabei und haben sie unterstützt. Sehr rasch danach haben sich weitere Städte den Protesten in Kurdistan angeschlossen. Frauen und weiblich gelesene Menschen stehen in diesem Kampf in der ersten Reihe. Kurz gesagt: Der Fall von Zhina Amini hat eine Explosion innerhalb der iranischen Gesellschaft ausgelöst.

Geschichte der Zwangsverschleierung im Iran

Das alles hängt mit der Geschichte der Revolution von 1979 zusammen. Kurz nach der Revolution rief Khomeini zur Zwangsverschleierung der Frauen im Iran auf. Frauen waren also die erste soziale Gruppe, deren Grundrecht direkt nach der Revolution vom religiösen Führer der meisten damaligen Revolutionäre in Frage gestellt wurde. Schon am 8. März 1979, dem ersten 8. März nach der Revolution, versammelten sich Frauen gegen diesen Aufruf auf der Straße. Tagelang protestierten sie. Ihre Parolen: »Wir haben nicht revoltiert, um zurückzukehren. Freiheit ist weder westlich noch östlich, Freiheit ist international. Die Freiheit der Gesellschaft ist ohne die Freiheit der Frauen nicht möglich.«

Die politischen Kräfte der damaligen Zeit haben diese Forderungen und den Widerstand der Frauen als belanglos eingestuft und die Proteste gegen den Aufruf zum Hijab-Zwang nicht unterstützt. Auch die iranische Mehrheitsgesellschaft sah die Angelegenheit der Frauen als unwichtig an. Viele, die diesen historischen Schritt nicht verstanden oder ins Lächerliche zogen, mussten später um ihre eigene Freiheit kämpfen. Darunter waren linke und liberale politische Kräfte, die den angeblich antiimperialsitischen Kurs von Khomeini für wichtiger hielten als die Freiheit der Hälfte der Gesellschaft.

Wenn die Zwangsverschleierung endlich gestoppt wird, wird der Islamische Staat in Iran stürzen.

Obwohl Frauen bei der Revolution 1979 eine äußerst wichtige Rolle gespielt hatten, war die Stimmung in den politischen Gruppierungen und Parteien beeinflusst von den patriarchalen Gesellschaftsstrukturen. Männer bestimmten die politische Hauptlinie der Organisationen. Davon berichtete später die linke Historikerin Homa Nategh. Sie sagte Jahre später in einem Interview, als sie mit ihrem Mann bereits in Frankreich im Exil lebte, dass linke Männer sie damals unter Druck gesetzt hätten, zu den Frauenprotesten zu gehen, um zu verkünden: »In diesem Moment ist der Antiimperialismus wichtiger als ein Tuch auf den Köpfen von Frauen.« In dem Interview bezeichnete sie ihre Aktion als »die Scheiße, die ich gefressen habe«.

Nichtdestotrotzes haben die iranischen Frauen, anders als es in den westlichen Medien ebenso wie in den staatlichen Medien im Iran meist dargestellt wird, den Hijab-Zwang nicht sofort akzeptiert. Erst während des Iran-Irak-Krieges wurde er gesetzlich durchgesetzt.

Eine Diktatur, aufgebaut auf sexueller Unterdrückung

Der selbsternannte Islamische Staat hat nach seiner Gründung also so schnell wie möglich eine reaktionäre Geschlechterordnung errichtet. Was damals viele nicht verstanden haben: Wer mit der Kontrolle der Frauen und weiblich gelesenen Menschen anfängt, bleibt nicht dort stehen. Politische und religiöse Säuberungen, ethnische Unterdrückung insbesondere in kurdischen und arabisch bewohnten Gebieten sowie eine scharfe Einschränkung der politischen Rechte und der Meinungsfreiheit folgten, schließlich die systematische Ermordung der Tausenden links orientierten politischen Gefangenen in den 1980er Jahren. In dieser Zeit hat sich der Staat innenpolitisch wie außenpolitisch immer stärker militarisiert.

Man kann also sagen, dass die gesamte religiöse Diktatur in Iran auf sexueller Unterdrückung aufbaut. Wobei der Staat nicht nur Frauen unterdrückt, sondern mit den Zwangsverschleierungsmaßnahmen ein strikt binäres Geschlechtssystem definiert. Die Kriminalisierung der Kleiderwahl von Frauen und weiblich gelesenen Menschen, die Kriminalisierung gleichgeschlechtlicher Beziehungen, die Kriminalisierung des freien Ausdrucks der Genderidentität in Bezug auf trans Personen und so weiter. Das Ganze dient einer Diktatur, die, ausgehend von der sexuellen Kontrolle der Gesellschaft, die komplette Gesellschaft unterwirft und entfremdet.

Diese auf sexueller Unterdrückung und Geschlechterungleichheit basierte Entfremdung der Gesellschaft hat jahrzehntelang als Hauptstütze des Systems für die systematische Unterdrückung der Iraner*innen funktioniert. Wenn die Zwangsverschleierung endlich gestoppt wird, wird der Islamische Staat in Iran stürzen. Womit der Staat nicht gerechnet hat, ist, dass der Kampf um Geschlechtergerechtigkeit noch einmal zurückkehrt – und dieses Mal richtig.

Mina Khani

ist iranische Publizistin und linke Feministin. Sie lebt in Berlin.

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