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Keine Gerechtigkeit, kein Frieden

Der Aufstand im Iran ist Teil eines längeren Protestzyklus

Von Hamid Mohseni

Eine Benzinpreiserhöhung war es, die Mitte November im Iran heftige soziale Proteste auslöste und die seit Jahrzehnten angespannte Situation in dem krisengebeutelten Land erneut zum Eskalieren brachte. Der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen, aber er manifestiert einen irreparablen und größer werdenden Riss zwischen der Bevölkerung und dem herrschenden Machtblock, und er reiht sich ein in einen immer heftiger werdenden antisystemischen Protestzyklus im Land.

Die Einschränkung der Mobilität (Preise für Benzin bzw. für den öffentlichen Nahverkehr) scheint im neoliberalen Kapitalismus des 21. Jahrhundert ein Türöffner für umfassende systemkritische Revolten und Aufstände von Arbeiter*innen und Prekarisierten zu sein. Nach Mexiko, Haiti, Frankreich und Chile gesellt sich nun mit dem Iran ein weiteres Land in diese Reihe.

Was war passiert? In der Nacht zum 15. November machte der Präsident der Islamischen Republik Iran, Hassan Rohani, eine verhängnisvolle Ankündigung: Ab sofort würden landesweit die Subventionen auf Benzinpreise wegfallen, wodurch sich der Preis für den Liter Benzin verdoppeln bzw. verdreifachen sollte. Nur wenige Stunden nach der Ankündigung gab es bereits in mehreren Städten wütende und militante Proteste, die sich Tag für Tag weiter ausbreiteten. Mit Kundgebungen, Demonstrationen, Straßenblockaden, Barrikaden, direkten Aktionen und Straßenschlachten brachten viele Hunderttausend Menschen in rund 100 Orten im ganzen Land ihren Unmut zum Ausdruck. Zwischenzeitlich streikten auch die Händler*innen des wichtigen und symbolträchtigen Bazar in Teheran aus Solidarität mit den Protesten. Das ist hervorzuheben, weil der Teheraner Bazar traditionell als sozialer Knotenpunkt der Hauptstadt und politischer Seismograph gilt.

Dystopische Bilder

Die Heftigkeit und Radikalität der Proteste brachte in den ersten Tagen Unsicherheiten und Widersprüche im Machtblock zum Vorschein. Berichten zufolge zog es die Regierung Rohani (sie gilt als reformorientiert) in Erwägung, die Benzinpreiserhöhung rückgängig zu machen. Nach einer Ansprache des Revolutionsführers Ali Khamenei, der diesen Schritt als Notwendigkeit gegen die ökonomische Rezession guthieß und die Demonstrant*innen als »Hooligans« und »Agents Provocateurs« denunzierte, war die Maßnahme jedoch in Stein gemeißelt. Kurz darauf wurden Internet und Mobilfunknetz quasi abgeschaltet. Damit wurde einerseits die Kommunikation unter den dezentral organisierten Protestierenden gekappt, andererseits nutzten die Sicherheitskräfte der Islamischen Republik die Abschottung von der einzigen zuverlässigen Informationsquelle – dem Internet bzw. den sozialen Medien -, um zu einem konzentrierten Gegenschlag auszuholen. Dystopische Videos – einige wenige, die es doch ins Netz schafften – zeigen neben ausgebrannten Gebäuden vor allem marodierende Schergen der Islamischen Republik, die auf offener Straße Demonstrant*innen verprügeln und erschießen. Die Bilanz: mindestens 400 Tote, mehrere Tausend Verletzte und rund 10.000 Festnahmen.

Der Staatsapparat demonstriert mit dieser Null-Toleranz-Politik Stärke, Einheit und Überlegenheit. Doch das selbst für den Iran maßlose Vorgehen wird auch als Zeichen von Nervosität oder gar Furcht vor einem nachhaltigen revolutionären Spirit bei den Protestierenden interpretiert. Schon bei den sehr ähnlichen Protesten im Dezember 2017 offenbarte sich nämlich, was der November 2019 erneut bestätigt: Der Riss zwischen dem Staat und einer immer größer werdenden Schicht der Bevölkerung – Arbeiter*innen, Prekarisierte, ethnische und religiöse Minderheiten in den Provinzen, Teile der in Elend absinkenden Mittelschicht in Verbund mit der fortschrittlichen Frauenbewegung und den Studierenden – vergrößert sich. Seit Jahren intensiviert sich ein mitunter radikaler Protestzyklus im Iran, in dem Wut und Frust über die schwer erträglichen Lebensverhältnisse sichtbar werden: ökonomische Rezession, ausbleibende Löhne, Einschnitte in Sozialleistungen, ein autoritärer Zugriff auf den Alltag, wachsende Repression, Korruption, kriegerisches Säbelrasseln. Was im November 2019 hohe globale Aufmerksamkeit auf sich zog, ist nur eine Explosion dieser fortwährenden Perspektivlosigkeit. Und die nächste Explosion wird kommen.

»Konservative und Reformer – das Spiel ist aus«

Dabei geht es längst nicht mehr um die einzelnen Lager der Islamischen Republik Iran, die ein politisch differenziertes Spektrum eines autoritären Regimes simulieren. Das verdeutlichten bereits im Dezember 2017gerufene und nun wiederholte, teils radikal zugespitzte Parolen wie »Konservative und Reformer – das Spiel ist aus« oder eindeutige, mit der Todesstrafe ahndbare Ausrufe wie »Wir wollen keine Islamische Republik« oder »Nieder mit Khamenei«. In anderen Parolen kritisieren die Demonstrant*innen die millionenschweren staatlichen Unterstützungen für die regionalen ideologischen Verbündeten, etwa im Libanon, in Syrien oder Gaza, während die eigene Bevölkerung verhungert und immer weiter ins Elend abrutscht.

Auch die Ziele der Aktionen und die Aktionsformen sprechen eine eindeutige Sprache: Mehrere hundert Banken wurden niedergebrannt. Allein in Teheran waren 300 Banken nach den Protesten nicht nutzbar, in 15 weiteren Städten gab es zwischenzeitlich keine intakte Filiale. Ähnlich verhält es sich mit Polizeistationen und klerikalen Autoritätssymbolen wie den Konterfeis der Revolutionsführer. Aber auch große Supermarktketten wurden zum Ziel der Protestierenden. Was von Regierungsseite als wahllose Zerstörungswut und Vandalismus bezeichnet wird, lässt schnell einen gemeinsamen Feind erkennen: Sowohl die meisten Bankfilialen wie auch die betroffenen Supermarktketten sind im Besitz der iranischen Revolutionsgarden, dem wirtschaftlich-politisch-militärischen Machtblock des Iran. Diese Ziele haben, ebenso wie die außergewöhnlich radikalen Parolen, einen klaren Adressaten: das System als solches, nicht einzelne Vertreter*innen.

Genau das ist es, wovor sich die Vertreter der Islamischen Republik fürchten. Schließlich ist dieser Staat selbst aus einer Massenrevolution gegen den Schah (und einer anschließenden blutigen Konterrevolution der Islamisten) hervorgegangen. Die Regierenden wissen: Am Ende entscheidet die Straße. Der Moment, als die Truppen des Schah 1979 auf die Revolutionär*innen schossen und diese danach trotzdem weitermarschierten, gilt als ein zentrales Symbol für den Untergang des Monarchen. Die Parallelen zu heute sind auffällig, doch ist ein solcher Moment noch nicht erreicht. Aber dass er erreicht werden kann, ist seit dem November 2019 denkbarer als je zuvor.

Anders als 2009

Was sind die Perspektiven für die Zukunft? Die regierenden Islamist*innen spielen ein einfaches Spiel: Do or die. Wenn sie – in welcher Weise auch immer – aus dem Land gejagt würden, könnten sie nirgends hin. Denn überall, wo sie in der Region offen oder unter der Hand operieren (Syrien, Libanon, Irak, Jemen, Gaza etc.), herrscht Instabilität, Krieg, und/ oder es gibt ebenfalls aufstrebende Aufstandsbewegungen, die die alte Ordnung zum Teufel jagen möchten und daher sicherlich Ayatollahs im Exil nicht mit offenen Armen empfangen. Dass Ende November Demonstrant*innen das iranische Konsulat in Bagdad niederbrannten, hat dies eindrucksvoll bewiesen. So resümiert ein ranghoher Ayatollah in Bezug auf die eigene Protestbewegung fast schon folgerichtig: Wenn wir gehen, verlassen wir verbrannte Erde.

Vor einiger Zeit sagten die Iraner*innen noch stolz, dass sie alle 30 Jahre eine Revolution oder zumindest eine große politisch-soziale Bewegung lostreten. Vor kurzem korrigierte man den Abstand auf zehn Jahre – nun erschüttern alle zwei Jahre gesellschaftliche Erdbeben das Land.

Was folgt daraus für die Aufstandsbewegung? Im Kern genau das: Zwischen ihr und dem Regime wird kein Frieden mehr gemacht. Gewiss, der Staat ist hochgerüstet und ideologisch – noch – gefestigt. Das verhindert eine weitergehende Organisierung zu einer sozialen Bewegung im klassischen Sinne – mit Forderungen, einem Manifest, Führungspersonal usw. Ist das ein Manko? 2009 fand genau das statt: Das reformistische Lager um Mir Hossein Mousavi lancierte rund um die Präsidentschaftswahl eine solche auf Teheran fokussierte Bewegung – und wurde niedergeschlagen. Das iranische Regime sperrte ihren Anführer ein und gewann dann nach und nach die militärische Oberhand über die Schauplätze des Protests – damals vor allem urbane Zentren im Kernland. Das ist heute nicht möglich. Die Bewegung hat keine Anführer*innen, kommuniziert über soziale Medien und Messengerprogramme, sie ist dezentral und explizit nicht aufs Zentrum der Macht fokussiert, sondern auf Außengebiete und Hochburgen von Minderheiten, und sie reguliert sich selbst. Gewiss, jeder niedergeschlagene Aufstand kostet Menschenleben, bedeutet Folter, Gefängnisstrafen, Traumatisierungen und Flucht. Gleichzeitig vergrößert er den Hass gegen die gesamte Ordnung noch mehr.

Die Aufstandsbewegung verhält sich wie die mythologische Figur der vielköpfigen Hydra. Schlägt man ihr einen Kopf ab, wachsen an derselben Stelle zwei neue nach. Und das Tempo steigt; vor einiger Zeit sagten die Iraner*innen noch stolz, dass sie alle 30 Jahre eine Revolution oder zumindest eine große politisch-soziale Bewegung lostreten. Vor kurzem korrigierte man den Abstand solcher Bewegungen auf zehn Jahre – nun erschüttern alle zwei Jahre gesellschaftliche Erdbeben das Land der Mullahs. Fragt sich nur noch, wie lange die Mullahs den Herrschaftsanspruch halten können.

Hamid Mohseni

ist in Iran geboren und in Deutschland aufgewachsen. Er verfolgt die Proteste gegen die Islamische Republik seit 2009. Er ist freier Journalist und lebt in Berlin.