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Durchhalten, bis die Regierung strauchelt

Können die Proteste in Frankreich die Rücknahme der Rentenreform erzwingen?

Von Lea Fauth

Eine Menschenmenge, Rauchschwaden, mehrere Leuten halten Kameras oder Plpakate. Auf einem steht: "Strike. Just do it"
Wenig Bock, zwei Jahre länger zu arbeiten: Demonstrant*innen am 28. März in Paris. Foto: Jules* / Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

Für einen Moment stand am 13. April, dem letzten großen Streiktag, eine Barrikade aus Mülltonnen und allerlei Abfall vor dem Verfassungsrat in Paris. Kurz darauf wurde die Straße gesperrt und ein 36-stündiges Demonstrationsverbot verhängt. Am Abend des 14. April entschied der Verfassungsrat, das französische Verfassungsgericht, dann über die Rentenreform, die seit Januar mit heftigen Streiks und Protesten bekämpft wird.

Alle wesentlichen Aspekte des Gesetzes billigte das Gericht; den Vorschlag eines Referendums über die Reform wies es zurück. Gekippt hat es zudem ausgerechnet eher soziale Aspekte, etwa solche, die ältere Beschäftigte geschützt hätten. Die Hoffnung des Gewerkschaftsbündnisses Intersyndicale, dass zentrale Teile der Reform als verfassungswidrig zurückgenommen werden müssen, erfüllte sich somit nicht.

Wie geht es nach diesem Rückschlag weiter? Eine Befürchtung: Die Entscheidung könnte für einige der acht Gewerkschaften, die sich in der Intersyndicale zusammengeschlossen haben, Anlass sein, den Rückzug von der monatelangen Mobilisierung anzutreten. »Es ist klar, dass die CFDT nicht sechs Monate streiken wird«, hatte Laurent Berger, Vorsitzender der katholischen CFDT, der größten französischen Gewerkschaft, im Vorfeld erklärt. Entschlossener klang Sophie Binet. Dass Präsident Emmanuel Macron nun ein Treffen mit den Gewerkschaften in Aussicht stellte, quittierte die neue Vorsitzende der großen linken Gewerkschaft CGT mit den Worten: »Da würde ich sagen: Lol.« Das Problem sei das Thema des Treffens. »Auf unserer Tagesordnung steht der Rückzug der Rentenreform«, so Binet. Über etwas anderes brauche nicht gesprochen werden. In einer am Abend des Urteils veröffentlichten gemeinsamen Erklärung kritisierten die Gewerkschaften den Richter*innenspruch und riefen für den 1. Mai zu einem neuen landesweiten Protesttag auf. In zahlreichen Städten gab es am selben Abend große spontane Demonstrationen. Am Samstagmorgen setzte Frankreichs Staatspräsident die Reform umgehend in Kraft.

Doch es bleibt schwer vorherzusehen, ob die Proteste nun abebben werden oder im Gegenteil neu Fahrt aufnehmen. So war es Mitte März gewesen, als die Reform mit Hilfe des Paragrafen 49-3 ohne parlamentarische Abstimmung verabschiedet wurde: Die Regierung Macron hatte wohl gehofft, Fakten zu schaffen und der Protestbewegung damit den Wind aus den Segeln zu nehmen. Das Gegenteil war der Fall: In der darauf folgenden Woche waren die Demonstrationen nicht nur besser besucht denn je, sondern zusätzlich flankiert von abendlichen Ausschreitungen und brennenden Barrikaden in mehreren Städten.

Hält das Gewerkschaftsbündnis?

Durchzuhalten – das ist nun der strategische Drahtseilakt und die Zerreißprobe für das Gewerkschaftsbündnis. Einerseits gibt es im linken Gewerkschaftsspektrum die Überzeugung, dass es einen »richtigen« Generalstreik brauche, wo nicht nur punktuell Ölraffinerien, Windparks oder Gasterminals stillgelegt werden, sondern alles gleichzeitig und für längere Zeit. Nur so könne ausreichend wirtschaftlicher Druck aufgebaut werden, um eine Rücknahme der Reform zu erzwingen. Auf der anderen Seite gibt es viele Menschen, die finanzielle Einbußen fürchten müssen. Und solche, die über die Wochen und Monate den Mut verloren haben. So wurden die Blockaden der Ölraffinerien in der ersten Aprilwoche schrittweise aufgelöst. Man sei verdrossen über eine Regierung, »die sich um Benzinknappheit nicht schert«, sagte der CGT-Generalsekretär der Normandie, Germinal Lancelin.

Hinzu kommt, dass eine Streikoffensive mit der konservativen CFDT kaum zu machen ist. Die steht eher für Mäßigung und Demonstrationen an Wochenendtagen, statt wirklich die Konfrontation zu suchen. Die konfliktfreudigeren Organisationen im Bündnis können die CFDT aber schwer übergehen – denn es hängt viel an der Einigkeit der Gewerkschaften. Nur im Zusammenschluss als Intersyndicale bleibt der Streik in Frankreich eine Massenbewegung mit breiter Unterstützung. Sowohl in der Mobilisierung als auch in der öffentlichen Wahrnehmung spielt die Einigkeit eine fundamentale Rolle. Ein Alleingang radikaler Kräfte aus dem Gewerkschaftsbündnis würde in der jetzigen Situation wohl nicht weit führen.

Rentenreform – worum geht’s?

Der zentrale Punkt der Rentenreform ist die Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre ab 2030 – das ist das Alter, ab dem man frühestens die volle Rente erhält. Ausnahmen gibt es zwar für Personen mit bescheinigte Krankheiten oder für einzelne Berufsgruppen und Unternehmen, doch auch einige dieser Sonderregeln soll die Reform abschaffen. Die Rente ab 62 (künftig: 64) bedeutet aber nicht unbedingt, dass es ab diesem Alter eine Rente ohne Abschläge gäbe. Die erhält auch dann nur, wer 41,5 Beitragsjahre vorweisen kann, in Zukunft sollen 43 Beitragsjahre nötig sein. Für jedes fehlende Beitragsjahr gibt es einen Abzug von fünf Prozent auf die Rente. Ein voller Rentenanspruch für alle besteht dann ab 67 Jahren, das soll auch so bleiben. Zum Vergleich: In Deutschland wird das Renteneintrittsalter gerade schrittweise auf 67 Jahre angehoben (bis 2029). Außerdem sind 45 Beitragsjahre notwendig, pro fehlendem Beitragsjahr werden 3,6 Prozent abgezogen. Die Erhöhung des Eintrittsalters und der Beitragsjahre in Frankreich bedeutet, dass insbesondere jene, die früh angefangen haben zu arbeiten, für die volle Rente länger arbeiten müssen. Wer mit 20 zu arbeiten begonnen hat und ohne Unterbrechung beschäftigt war, konnte bisher mit 62 Jahren ohne Abzüge in Rente gehen, in Zukunft eben erst mit 64. Vor allem für jene, die nicht die volle Beitragszeit vorweisen können, bedeutet es außerdem deutliche Abzüge. Die Rentenreform wird dementsprechend von einer großen Mehrheit in Frankreich als Angriff auf den Lebensabend verstanden: »Zwei Jahre mehr arbeiten, heißt zwei Jahre weniger leben«, lautet eine Parole auf den Demonstrationen.

Sophie Binet von der linken CGT betont dementsprechend beides: dass man weiter kämpfen wolle – aber gemeinsam. »Seit drei Monaten sagt man uns: ›Die Intersyndicale wird einknicken‹«, sagte Binet im Interview mit Radio France. »Aber sie knickt nie ein! Weil alle Gewerkschaften geeint sind durch dieselbe Entschlossenheit zu gewinnen.«

Es wird einsam um Macron

Doch ist ein solcher »Sieg« – also die Rücknahme der Rentenreform – überhaupt möglich? Zumindest gibt es einen Präzedenzfall von 2006: Unter dem damaligen Präsidenten Jacques Chirac verabschiedete die Regierung ein Arbeitsgesetz (CPE, Contrat Première Embauche), das die Bedingungen für eine Erstanstellung drastisch prekarisierte. Auch damals waren die Proteste im Vorhinein enorm, auch damals setzte die Regierung den berühmten Paragrafen 49-3 ein, um das Gesetz ohne parlamentarische Abstimmung durchzubringen. Und auch damals verließen fünf Gewerkschaften abrupt ein Treffen mit einem Premierminister, der das Gesetz nicht zurückziehen wollte. 20 Tage nach Verabschiedung rief Präsident Chirac selbst die Arbeitgeber dazu auf, das Gesetz vorerst nicht anzuwenden. Es folgten noch weitere heftige Streiks, bevor die neue Arbeitsregelung endgültig zurückgenommen wurde.

Es waren aber nicht nur die Proteste, die damals zum Erfolg führten, sondern auch die Intervention des größten Arbeitgeberverbands Frankreichs (Medef), der das Gesetz nicht unterstützte. So ist die Frage, ob es aktuell in Frankreich einen ähnlich wichtigen Akteur gibt, der Macron die Unterstützung entziehen könnte. Und ob der sich davon überhaupt noch beeindrucken lassen würde. Denn die Beharrlichkeit, mit der sich der Präsident trotz aller Widrigkeiten, Peinlichkeiten und bröckelnder Unterstützung selbst im eigenen Lager an sein Vorhaben und an das Amt klammert, ist erstaunlich. Andere wären in einer solchen Lage vermutlich längst zurückgetreten.

Denn der Widerspruch, der Emmanuel Macron entgegenschlägt, ist massiv. Zu einem Besuch in der kleinen südfranzösischen Gemeinde Savines le Lac ließ der französische Präsident sich Ende März mit dem Hubschrauber bringen – das Risiko, dass die drei Zufahrtsstraßen blockiert wären und unschöne, demütigende Bilder entstehen könnten, war offensichtlich zu hoch. Kurz zuvor hatte Macron auch einen geplanten Stadionbesuch für das Fußballländerspiel gegen die Niederlande abgesagt – und ersparte sich damit tatsächlich das, was in Minute 49:03 passierte: »Macron, démission« – »Macron, Rücktritt« riefen die Menschen im Stadion. Der Zeitpunkt spielte auf den Paragrafen an, mit dem die Regierung das Gesetz durchgedrückt hatte. Denselben Spruch riefen die Zuschauer*innen in der Konzerthalle Olympia, als die norwegische Sängerin Girl in Red darum bat, einen Satz auf französisch zu lernen. Dem britischen König Charles wurde Ende März der Frankreichbesuch abgesagt, weil unangenehme Situationen vorprogrammiert waren. Solche wie in Den Haag, wo am 11. April Macrons europapolitische Rede von mehreren Banneraktionen gestört wurde, unter anderem mit der Aufschrift: »Präsident der Gewalt und Heuchelei«.

Die Regierung eskaliert die Gewalt

Stichwort Gewalt: Die Regierung agiert nicht nur zunehmend nervös, sie greift auch mit aller Härte durch. Für Aufsehen sorgte der Fall einer 56-jährigen Frau mit dem Vornamen Valérie, die den Präsidenten auf Facebook als »Abfall« bezeichnet hatte. Polizist*innen nahmen sie deshalb fest und hielten sie neun Stunden in Untersuchungshaft. Im Juni wird wegen Beleidigung ein Prozess gegen die Frau stattfinden.

Die schlimmsten Gewaltausbrüche finden derweil auf der Straße statt. Tränengasgranaten vom Typ GM2L, die offiziell als Kriegswaffen gelten, werden massiv eingesetzt, um Demonstrationen aufzulösen. Genau wie Gummigeschosse werden sie von der Polizei oft auf verbotene Art angewandt: Statt die Granaten erst in die Luft zu schießen, damit sie dort explodieren und das Gas langsam auf die Menschenmenge heruntersinkt, feuern Polizist*innen mit solchen Granaten oftmals direkt auf Menschen – so dass die Explosion in Körperhöhe stattfindet, was zu schweren Verletzungen wie zerfetzten Händen führt. Ein Demonstrant verlor sein Auge beim Einsatz von Hartgummigeschossen am 23. März. Einem am Boden liegenden 19-Jährigen fuhren Polizist*innen über das Bein.

Sowohl in der Mobilisierung wie in der öffentlichen Wahrnehmung spielt die Einigkeit der Gewerkschaften eine zentrale Rolle. Doch die könnte jetzt ins Wackeln kommen.

Parallel zu den Protesten gegen die Rentenreform fand auch eine Umweltaktion in Sainte-Soline in der Region Nouvelle Aquitaine statt. Mit dem Thema Renten hatte das – eigentlich – nichts zu tun. Hier eskalierte die Polizeigewalt aber so extrem, der zeitliche Zusammenhang zu den Angriffen auf die Streiks war so greifbar, dass das harte Vorgehen in Sainte-Soline als Einschüchterungssignal verstanden wurde. 4.000 Granaten wurden gegen Demonstrant*innen abgefeuert, zwei Menschen liegen nach wie vor im Koma. Die Polizei verhinderte Erste Hilfe durch einen Krankenwagen. In Sainte-Soline gab es außerdem einen Versuch der »chemischen Markierung«: Demonstrant*innen werden ohne ihr Wissen mit einer unsichtbaren Substanz beschossen, die später unter UV-Strahlen sichtbar ist. Damit soll die Teilnahme an Ausschreitungen »nachgewiesen« werden. Bei den Protesten in Sainte-Soline brachte der Einsatz dieser Markierungen unter anderem einem Journalisten einen 28-stündigen Aufenthalt im Polizeigewahrsam ein.

Frankreich hat ein Demokratieproblem

Der rechtskonservative Innenminister Gerald Darmanin reagierte auf die scharfe Kritik an der exzessiven Polizeigewalt mit der Ankündigung, die Ökogruppe Soulèvement de la terre aufzulösen. Darmanin und die Premierministerin Élisabeth Borne stellen außerdem die öffentliche Finanzierung der Liga für Menschenrechte (LDH) in Frage, die die Polizeigewalt zuletzt scharf kritisiert hatte. Die Liga für Menschenrechte existiert seit 1898 – die öffentlichen Gelder wurden der Organisation bisher nur ein Mal gestrichen, unter Nazi-Kollaborateur Philippe Pétain.

Dass Frankreich ein Demokratieproblem hat, unterstrichen Mitte April Enthüllungen des Investigativmagazins Médiapart. Es geht dabei um einen Fonds, der 2020 nach dem islamistisch motivierten Mord an dem Lehrer Samuel Paty gegründet worden war, um »Separatismus« zu bekämpfen, insbesondere bei jungen Leuten auf Social Media. Nun stellte sich heraus, dass Hunderttausende Euro aus diesem Fonds verwendet wurden, um Macrons parlamentarische Gegner*innen in den sozialen Medien zu verunglimpfen.

Für die Bewegung wird es nach der monatelangen Anstrengung, dem steinernen Aussitzen der Proteste durch Macron und angesichts der harten Repression eine Herausforderung, zu neuem Elan zu finden, schwierig, aber nicht unmöglich. Zwar wackelt die Gewerkschaftseinheit, und nachdem sich die Arbeiter*innen der Ölraffinerien vorerst aus dem Streik zurückgezogen haben, fehlt aktuell ein wichtiges Druckmittel. Andere Sektoren, etwa die Müllabfuhren, nahmen den Streik Mitte April nach einer Pause aber wieder auf. Auch die Wut auf der Straße ist in ihrer Wirkung nicht zu unterschätzen. Dass innerhalb weniger Tage erst die Blackrock-Zentrale in Paris von Demonstrant*innen mit Pyrotechnik und Gesängen gestürmt wurde und dann das börsennotierte Unternehmen LMVH, sind nicht bloß Nadelstiche. Das Armdrücken geht weiter.

Lea Fauth

ist Redakteurin bei der taz und freie Journalistin für Print und Hörfunk. Sie hat Philosophie und Literatur in Frankreich, Brasilien und Portugal studiert.