Es ist die Entropie, stupid!
Der kanadische Soziologe Éric Pineault enttäuscht Hoffnungen auf einen grünen Kapitalismus und weist den Marxismus auf eklatante Leerstellen hin
Von Guido Speckmann

Aus einem gefällten Baum können Kanthölzer gewonnen werden, aus denen ein Tischler einen Holztisch zimmern kann. Dabei geht ein Anteil des Holzes als Sägemehl sowie die aufgewendete Energie zur Formung der Tischplatte in Form von Wärme verloren. Das Ergebnis ist ein Tisch, der einer Familie über einen längeren Zeitraum hinweg als Esstisch dienen kann. Irgendwann wird er entsorgt und vielleicht auseinandergenommen, um aus den Teilen etwas anderes zu bauen oder sie zu verfeuern. Was jedoch nicht möglich ist: Aus dem Tisch kann weder ein Baum noch das ursprüngliche Kantholz entstehen.
Dieses Beispiel führt der kanadische Soziologe Éric Pineault in seinem Buch »Die soziale Ökologie des Kapitals« an, um einen zentralen Begriff seiner gleichnamigen Theorie zu illustrieren: den der Entropie. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, einem Bereich der Physik, der sich mit den Zusammenhängen von Energie, Arbeit und Temperatur beschäftigt, besagt, dass Energie und Materie, die für jeden wirtschaftlichen Prozess und damit für den Stoffwechsel des Menschen mit der Natur unabdingbar sind, irreversibel umgewandelt werden. Verfügbare Energie geht in den Zustand unverfügbarer Energie über (Abwärme, Emissionen). Die Entropie ist das Maß für Energie und Materie, die ihre Eigenschaft, Arbeit zu verrichten, verloren hat. Pineault knüpft mit dem Einbezug von Materie an die Interpretation des »Entropie-Ökonomen« und Vordenkers der Wachstumskritik Nicholas Georgescu-Roegen an (ak 672). Die entropische Sichtweise auf den Stoffwechselprozess menschlicher Gesellschaften hat weitreichende Konsequenzen, verweist sie doch auf die biophysikalischen Grenzen, an die Ökonomien mit einem so gigantischen Ressourcenverbrauch wie den derzeitigen zwangsläufig stoßen werden (Erschöpfung der Quellen) oder schon gestoßen sind (Aufnahmefähigkeit der Senken).
Versuche, ökologischen Krisen mit einer Kreislaufwirtschaft (FAQ ak 713), wie sie derzeit auf europäischer Ebene angestrebt wird, zu begegnen, sind schlichtweg illusionär. Es gebe, so Pineault, kein Entkommen vor den Gesetzen der Thermodynamik und keine Ausnahme von ihnen, zumindest nicht in diesem Universum. Das schließt ein, dass der Verlauf der Entropie durch neue Technologien nicht umgekehrt werden kann.
Was passiert mit den Waren nach dem Konsum?
Nun ist Politiker*innen des spätkapitalistischen Normalbetriebs ohnehin nicht zuzutrauen, dass sie an den Wurzeln der ökologischen Krisen ansetzen. Sie greifen Begriffe wie Kreislaufwirtschaft oder Nachhaltigkeit auf, um zu signalisieren, dass sie zumindest ein Trippelschrittchen in die richtige Richtung zur Lösung der Umweltkrisen gehen. (Ganz abgesehen davon, dass die angebliche Kreislaufwirtschaft auch deswegen vorangetrieben wird, um die Abhängigkeit von Rohstoffen zu minimieren.)
Von an Marx orientierten Strömungen indes könnte man erwarten, dass sie die Gesetze der Thermodynamik in ihre Analysen integrieren, schließlich nennen sie sich materialistisch. Doch auch das ist mit Ausnahme der randständigen ökomarxistischen Variante nicht der Fall. Ähnlich wie die bürgerliche Ökonomie ist die Marxsche durch eine Zwei-Stadien-Struktur geprägt. Über Produktion und Konsum, die durch den Geldfluss zusammengehalten werden, gibt es zahllose Abhandlungen. Darüber indes, wie die für die Produktion notwendigen Rohstoffe abgebaut werden und was mit dem dabei anfallenden Abraum und mit den Gebrauchsgegenständen passiert, wenn sich ihr Wert realisiert hat, liest man wenig.
Nur ein kleiner Teil von Pineaults Schlussfolgerungen steht auf der Agenda linker Parteien oder Bewegungen.
Daher geht Pineault von einem »Vier-Stadien-Prozess« aus: Extraktion, Produktion, Konsum und Dissipation. Letzteres ist der Fachbegriff dafür, dass Abfälle in Senken entsorgt werden. CO2 zum Beispiel, dass durch die Verbrennung von Kohle, Gas und Öl entsteht und von der Atmosphäre, von Mooren oder Wäldern aufgenommen wird. Pineault spricht vom starken Kontrast der »Reversibilität der kapitalistischen Wertform« und der »thermodynamischen Irreversibilität des zugrunde liegenden Prozesses eines materiellen Durchsatzes« während der Produktion: »Wenn für den Kapitalisten der Wert als Geld ordentlich in seine Kassen zurückfließt, so ist der Weg des Outputs in Bezug auf den Stoffwechsel noch längst nicht abgeschlossen: Von der Ware auf dem Markt über die Nutzung bis hin zur Entsorgung und zum Abfall unterliegt der Output einer Reihe von linearen und irreversiblen – aber sozial (und kapitalistisch) bedingten – materiellen Metamorphosen, die nicht damit enden, dass die Materie ihre ursprüngliche Form und ihre ursprünglichen Möglichkeiten zurückhält.«
Ein weiterer zentraler Begriff in Pineaults Theorie ist der Durchsatz. Damit meint er den Strom von nichtmetallischen Mineralien, organischen Erzeugnissen, Erze und fossilen Brennstoffen, die von der Quelle durch die Wirtschaft fließen, um schließlich in Senken zu landen. Er greift dabei auf Arbeiten der sogenannten Material- und Energieflussanalyse zurück, die den materiellen Verbrauch von Ländern im Zeitverlauf in Gigatonnen und Gigajoule quantifiziert. Eine wichtige Erkenntnis, die Pineault auch in anschaulichen Grafiken illustriert, ist hierbei: Die Materialströme, die als Durchsatz zusammenkommen, sind viel größer als der sichtbare materielle Output des Wirtschaftsprozesses.
Und der Durchsatz ist seit den 1950er Jahren regelrecht explodiert. Weswegen Pineault die Zeit der »Großen Beschleunigung« als größere Zäsur als die industrielle Revolution ansieht. Diese Erkenntnis enttäuscht Hoffnungen auf eine Entkopplung von Wirtschaftsleistung, gemessen in monetären Werten und aggregiert im Bruttoinlandsprodukt, und Ressourcenverbrauch – und damit auf einen grünen Kapitalismus.
So hat sich zwar zum Beispiel in Deutschland die Extraktion verringert, berücksichtigt man jedoch den Materialverbrauch, der durch importierte Konsumgüter entsteht, ist das nicht der Fall. Mehr denn je seien die Akkumulation des Kapitals und der Anstieg des Konsums in Deutschland von der Extraktion des materiellen Durchsatzes an anderen Orten abhängig, schreibt Pineault. Nur so könne die imperiale Lebensweise Deutschlands wie anderer Staaten aufrechterhalten werden.
Materialfluss- plus Kapitalismusanalyse
Das Verdienst von Pineault ist es, die eher naturwissenschaftlich, denn gesellschaftskritisch orientierte Energie- und Materialflussanalyse mit einer differenzierten Kapitalismusanalyse zusammenzubringen. Höchst interessant wird das etwa dann, wenn er als ökonomischen Mechanismus für die Unmöglichkeit der Entkopplung neben den Rebound-Effekten (ak 642) auch die Kapitalisierung der Extraktion anführt. Was bedeutet das? Im fortgeschrittenen Kapitalismus benötigen die Firmen hohe Investitionen in den Abbau und Transport von Rohstoffen. Schon lange genügt es nicht mehr, ein Loch in Boden zu bohren und siehe da – das Öl sprudelt hervor. Es muss viel tiefer gebohrt und aufwendigere Techniken wie Fracking angewendet werden, weil die leicht zugänglichen Reserven weitgehend erschöpft sind. Doch, so Pineaults Argument, je schwieriger die biophysikalischen Bedingungen der Extraktion sind, desto mehr wird der Prozess kapitalisiert und desto größer muss der Warenstrom sein, um die Kosten decken zu können.
Pineault leitet aus alldem weitreichende Schlussfolgerungen ab. Nicht nur die Konzernstrukturen, das kapitalistische Eigentum und die Produktionsverhältnisse im Allgemeinen müssten aufgebrochen und aufgelöst werden. Auch ein Großteil des als Maschinen und fossile Infrastrukturen akkumulierten Kapitals müsse demontiert werden. Darüber hinaus müssten auch die Lebens- und Arbeitsweisen, materielle Erwartungen und Konsumkulturen infrage gestellt und transformiert werden. Weitreichende Schlussfolgerungen, von denen allerhöchstens ein kleiner Teil auf der Agenda linker Parteien oder Bewegungen steht.
Die umfassendste Antwort im Sinne einer sozialen Emanzipation darauf versuche die Degrowth-Debatte zu geben, bemerkt Pineault. Die Arbeiterklasse oder linke Parteien kommen bei ihm nur als Teil einer Wachstumskoalition von Staat, Kapital und Gewerkschaften vor, die ein höheres Wachstum befürworten, weil es Verteilungskonflikte befriedet. Dass er die Frage des politischen Subjekts ausklammert, kann man Pineault aber nicht vorwerfen. Er versteht seine Theorie der sozialen Ökologie des Kapitals als vorgeordnet, die politischen Schlussfolgerungen schließen sich daran an. Der Wert von Pineaults Buch ist nicht zu überschätzen. Es liefert fundierte Argumente gegen die Entkopplungs-These, weist den Marxismus auf seine biophysikalischen Grenzen hin, nimmt aber zugleich die Kapitalismuskritik auf und führt sie mit der Materialflussanalyse zusammen. Das alles liest sich nicht besonders locker, Beispiele wie das eingangs erwähnte sind selten, der Abstraktionsgrad recht hoch. Doch die Mühe wird belohnt mit vielen, neuen oder vertiefenden Erkenntnissen über den Zusammenhang von Gesellschaft und seinen stofflich-energetischen Voraussetzungen.
Éric Pineault: Die soziale Ökologie des Kapitals. Dietz Verlag, Berlin 2025. 190 Seiten, 25 EUR.