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Dass es so weitergeht, ist die Katastrophe

Während Corona weiter massenhaft versehrt und tötet, meint der Großteil der Linken, mit dem Virus leben zu können

Von Kim Posster

Eine Person in Lederjacke und Jeans und mit Regenschirm, der den Kopf verdeckt, sitzt an einem trüben Tag auf einer Bank und schaut aufs Wasser. Auf dem Geländer zum Wasser und auf dem Wegstück davor sitzen viele Tauben
Gemeinsame Schutzmaßnahmen, war da was? Besonders Vulnerable, aber auch alle anderen, die eine Corona-Infektion vermeiden möchten, sind auf sich allein gestellt, auch in der Linken. Foto: Matthias Berg

Corona hat mich verzweifelt und isoliert gemacht. Seit meiner ersten Infektion im Mai 2022 habe ich Post Covid. Ein Zustand, der mein Leben von Anfang an eingeschränkt hat und seitdem in Intervallen schlimmer geworden ist. Seit vier Monaten komme ich kaum noch aus dem Haus. Alltäglichkeiten wie Wäschewaschen, Einkaufen, selbst Essenszubereitung müssen andere für mich erledigen.

Damit bin ich ein relativ schwerer Fall, obwohl ich im Gegensatz zu vielen anderen weder unter Kognitionsproblemen noch einem voll ausgeprägtem ME/CFS leide, einer schweren post-viralen Pathologie, die oft verharmlosend als Erschöpfungssyndrom bezeichnet wird.

Ich habe mehr oder weniger gelernt zu akzeptieren, dass die meisten Menschen um mich herum ein Leben weiterleben, das für mich auf unabsehbare Zeit gestorben ist. Wirklich hoffnungslos und einsam macht mich aber, wie viele von ihnen einem Alltag nachgehen, in dem die Zustände, die nicht nur mein Leben zerstört haben, gar nicht zu existieren scheinen.

Denn gegen den Dauerzustand der neuen Corona-Normalität gibt es keine wahrnehmbare linke, kollektive Perspektive mehr. Stattdessen herrschen Verdrängung, Ignoranz und politische Apathie. Wie konnte es dazu kommen?

Das Leben mit dem Virus …

Nach einer Umfrage des deutschen Instituts für Altersvorsorge vom März 2023 leiden bereits 21 Prozent der mindestens einmal infizierten Menschen hierzulande an Corona-Spätfolgen (bei 18- bis 39-Jährigen sind es sogar 35 bis 40 Prozent). Jede Infektion hat eine etwa zehnprozentige Chance, Long Covid und seine chronifizierte Form Post Covid auszulösen. Das Risiko steigt mit jeder weiteren Ansteckung. Eine Modellierung des Epidemilogen David Steadson besagt, dass in fünf Jahren ein Großteil der Menschen in den Industrienationen Spätfolgen haben wird, die ihren Alltag bedeutend einschränken.

Studien zeigen, wie Corona die Organe schädigt und das Immunsystem dauerhaft angreift. Forscher*innen sprechen bereits von einem Mass Disabling Event.

Dabei geht es wohlgemerkt nur um Long Covid im engen Sinn. Es häufen sich Forschungsergebnisse, die zeigen, wie Corona die Organe schädigt, das Immunsystem dauerhaft angreift und neurodegenerativ wirkt. Deshalb erwarten Forscher*innen vielfältige Folgeerkrankungen von Herzinfarkt bis Parkinson und eine immer weiter ansteigende allgemeine Empfänglichkeit für andere Krankheiten. Viele bezeichnen die Pandemie mittlerweile als »Mass Disabling Event«.

Steadsons Prognose ist erschreckend. Doch der wirkliche Skandal ist, dass sie überhaupt so möglich ist. Denn seine Schätzung ist nur machbar, weil er auf die politischen Verhältnisse »vertrauen« kann und deshalb davon ausgeht, dass sich Menschen im Durchschnitt zweimal pro Jahr mit dem Virus infizieren werden.

Bekanntermaßen haben die kapitalistischen Staaten es spätestens Anfang 2023 aufgegeben, die Verbreitung von Covid-19 einzudämmen. Die aktuelle Welle, die in Deutschland in den letzten drei Monaten 378 Menschen pro Woche getötet und unzählige zu Spätfolgen verdammt hat, hat noch einmal gezeigt, dass der Kreislauf von immer neuen Mutationen und Infektionswellen nicht enden oder sich bedeutend abschwächen wird.

… und die Apathie der Linken

Was Anlass zu Angst, Verzweiflung, aber auch Wut und Protest wäre, ist auch von Linken mit bemerkenswerter Apathie hingenommen worden. Wenn Corona überhaupt noch Thema im Alltag ist, fallen Sätze wie »Ich habe es bisher eigentlich gut überstanden und mache mir seitdem keine Sorgen mehr – auch wenn das natürlich nichts heißen muss«, die zum verständnisvollen Schweigen auffordern, obwohl sie förmlich herausschreien, dass auch mein Gegenüber weiß, dass es da etwas nicht wissen will.

Dieses Schweigen ist ein großer Grund für meine Einsamkeit, obwohl ich für das individuelle Verdrängungsbedürfnis ein gewisses Verständnis habe: Wer auch nur ein ansatzweise »normales« Sozial- und Arbeitsleben führen will bzw. muss, ist dem Virus fast vollständig ohnmächtig ausgeliefert. Darüber hinaus wirkt die aktuelle Pandemiepolitik realitätszerstörend durch eine Propaganda der Tatsache, wie Richard Schuberth in der Jungle World dargestellt hat: Selbst wenn man noch von den Gefahren des Virus hört; solange der politische Umgang dies nicht mal ansatzweise reflektiert, »fühlt« sich diese Gefahr einfach nicht real an. Umso unbegreiflicher ist mir deshalb, warum dieser falschen Realität nichts kollektiv entgegengesetzt wird.

Der Versuch der Linken, der staatlichen Seuchenpolitik zwischen 2020 bis 2021/22 etwas entgegenzusetzen, endete in einer Niederlage.

Linke Gruppen, Veranstaltungen und Räume haben spätestens im letzten Jahr nahezu komplett aufgehört, eine erkennbare Praxis oder auch nur Haltung zum Virus zu haben. Die Frage, ob zum Beispiel Tests, Masken, Luftfilter etc. eigentlich sinnvoll, notwendig oder solidarisch wären, wird gar nicht mehr gestellt. Im Großen werden solche Maßnahmen nicht erkämpft, für Vulnerable und all jene, die einfach eine (weitere) Infektion vermeiden wollen, werden sie im Kleinen nicht selbst organisiert. Gegenöffentlichkeit und Analysen, Agitation, gar Kampagnen? Seit spätestens 2023 kaum oder gar nicht mehr vorhanden.

Wie erfolgreich die Propaganda vom »Ende der Pandemie«, der mittlerweile sogar von der WHO widersprochen wird, und die Ideologie des »Lebens mit dem Virus« auch unter Linken war, hat vor kurzem auch diese Zeitung bewiesen: In der ak-Januarausgabe schrieb Jonathan Schmidt-Dominé über das Scheitern der Linken, eine solidarische Pandemiepolitik gegenüber dem Staat zu entwickeln. Für ihn eine Frage der Vergangenheit, die sich heute, »nach Corona« (gemeint ist der Ausnahmezustand um die staatliche Maßnahmenpolitik), gar nicht mehr zu stellen scheint. Der ehemalige Pressesprecher der #ZeroCovid-Kampagne steht so beispielhaft für die neue Normalität: Der Versuch der Linken, der staatlichen Seuchenpolitik zwischen 2020 bis 2021/22 etwas entgegenzusetzen, endete in einer Niederlage. Spätestens 2023 hat sie ganz aufgegeben.

Falsche Maßstäbe

Selbst als es noch nennenswerte (Strategie-)Debatten und Organisationsversuche gab, vor allem jene um die bereits benannte #ZeroCovid-Kampagne, orientierten diese sich fast ausschließlich an den staatlichen Eingriffen und ihrem Maßstab des Systemerhalts. Diese wurden entweder mit technokratischem Vertrauen unterstützt bzw. sollten »von links besetzt werden« – oder sie wurden mit vulgär-anarchistischem Furor verdammt. Die relevanten sozialen Kämpfe um Arbeitsschutz, Care, Commons, Gesundheit etc. und der Maßstab von vermeidbarem menschlichem Leid gerieten hingegen aus dem Blick.

Der sowieso meist nur rhetorisch versprochene Schutz von Alten und Vulnerablen konnte so staatlicherseits ohne große Widerstände fallen gelassen werden. Sie wurden der »trostlosen Hoffnung auf Normalität« für die Mehrheit geopfert, so wie es Kritiker*innen wie Thomas Ebermann schon 2020 kommen sahen. Und seitdem der Staat nicht mehr per Ausnahmezustand in den Alltag eingreift, sondern »nur noch« den Zwang umsetzt, sich für die Verwertung in Kita, Schule, Arbeitsstätte und öffentlicher Infrastruktur ständig einer hoch gefährlichen Krankheit auszuliefern, »macht« er ja nichts mehr. So verloren beide Seiten im linken Corona-Streit ihre Hauptbezugspunkte und wurden befriedet.

Doch grade an Post Covid zeigt sich, dass diese sozialdarwinistisch getönte Ignoranz der Linken, die herrschendes Unrecht hinnimmt, wenn es »nur« Alte und »Schwache« gesellschaftlich ausschließt und existenziell bedroht, doppelt unangemessen ist. Sie ist nicht nur zynisch, sie ist falsch.

Corona als Normalität ist nicht einfach nur kapitalistischer Realismus mit einer individualisierten Krankheit mehr, sondern, wie Julia Doubleday kürzlich in The Gauntlet argumentierte, eine beispiellose Zerstörung von öffentlicher Gesundheit als erkämpftem sozialen Standard: Als müssten Einzelne versuchen, sich vor Cholera zu schützen in einer Welt ohne sauberes Wasser.

Ebenso doppelt falsch ist es deshalb, sich mit pseudo-marxistischer Abgeklärtheit darauf zu verlassen, dass der Staat als ideeller Gesamtkapitalist schon wissen wird, was er tut. Sein bestimmender Widerspruch aus kurzfristiger Notwendigkeit zur Verwertung und langfristiger Sicherung der Verwertungsgrundlagen hat sich fast unlösbar zugespitzt, gerade weil das staatliche Handeln und seine Ideologie stets nur auf den unmittelbaren Systemerhalt und die brutale Durchsetzung von »Normalität« gesetzt haben.

Die immer neuen Rekorde beim Krankenstand, Schulen als Seuchenhorte und Krankenhäuser als Todesfallen zeigen, dass das benötigte Reservoir an verwertbarem Menschenmaterial schon mittelfristig ernsthaft in Gefahr ist. Diese Situation führt jetzt schon zu Absurditäten wie der, dass weitsichtigere Vertreter*innen des Kapitals progressiver in der Sache und kämpferischer im Ton werden als die meisten Gewerkschaften und Kommunist*innen. So heißt es in einem international beachteten Artikel des Harvard Business Manager: »Unternehmen müssen sich entscheiden: Wollen sie dem ›Mass Disabling Event‹ in der arbeitenden Bevölkerung weiter zuschauen?« Obwohl sie »durchaus das Wissen und die Mittel besäßen, Arbeitsplätze weitgehend Corona-sicher zu machen«?

Sprachloses Leid

Was offensichtlich fehlt, ist das Äquivalent einer ökosozialistischen Position und Bewegung, die weiß, dass sie für eine kollektive Aneignung der Mittel zum Leben nicht nur gegen die Interessen von Staat und Kapital, sondern auch gegen die Verdrängung der hoffnungslos Ausgelieferten und die Ignoranz der autoritär Zugerichteten angehen muss. Eine, die der Zerstörung der menschlichen Lebensgrundlagen, hier der öffentlichen Gesundheit, auch im Kleinen etwas entgegensetzt, ohne sich mit Elendsverwaltung zu begnügen, und die auf der Notwendigkeit von solidarischem Handeln besteht, ohne in moralistische Kritik zu verfallen. Eher bürgerliche Kampagnen, wie BildungAberSicher oder die beständige Agitationsarbeit der World Socialist Website könnten hierfür Inspirationen sein.

Es geht dabei um mehr als nur ein weiteres politisches Kampffeld. Es geht um den Erhalt des grundlegendsten materialistischen Impulses: den kategorischen Imperativ, dass Menschen nicht siechen, darben oder sterben sollen, obwohl es anders sein könnte und deshalb müsste.

Eine Linke, die die Augen vor der tödlich-zerstörerischen Gegenwart verschließt, die hinnimmt, dass die Kranken, Vulnerablen oder auch nur Vorsichtigen immer weiter verschwinden werden, und sich damit beruhigt, dass die Toten tot sind und in der Vergangenheit bleiben, hat diesen Impuls verloren. Sie tut nicht nur nichts, um dieses Leid zu beenden, sie kann es nicht mal mehr zur Sprache bringen. So bleiben nicht nur ich, sondern auch unzählige andere selbst noch in ihrer Isolation und Verzweiflung allein.

Kim Posster

war an mehreren Versuchen der organisierten Reflexion von Männlichkeit beteiligt, die er mittlerweile als gescheitert betrachtet. Sein Buch »Männlichkeit verraten!« ist 2023 bei Neofelis erschienen.

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