Der Frosch im Kochtopf
Viele systemkritische Russ*innen mussten seit dem Überfall auf die Ukraine fliehen – im Äppelwoi Komitee unterstützen sie sich gegenseitig im Exil
Von Merlin Ferox

Als ihn Anfang 2022 eine Nachricht seines Chefs erreicht, in der steht »Es ist Zeit zu verreisen« weiß Maxim*, dass es schnell gehen muss. »Ich war bereit. All meine Freund*innen, die schnell abgehauen sind, sind rausgekommen. Viele Andere, die nicht so schnell reagiert haben, sind jetzt im Knast.« Maxim kommt aus Russland und lebt inzwischen im Exil in Deutschland. In den letzten Tagen des Hochsommers 2025 sitzt er mit mir auf einem verborgenen Waldgrundstück und erzählt von seiner Flucht.
Hier feiert das Äppelwoi Komitee (Ä.W.K) sein zweijähriges Jubiläum. Wer zu den Treffen kommen wird, weiß nur der harte Kern des Orgateams: »Normalerweise sagen wir auch nicht genau, wo es sein wird. Manchmal ist es zu spontan, vielleicht aber auch aus alten Gewohnheiten«, erklärt Maxim. Er ist Journalist, so wie viele der anderen Russ*innen im Exil, die 2023 das Äppelwoi Komitee gegründet haben. Äppelwoi, so wie der Apfelwein, den die Aktivist*innen in einer hessischen Geflüchtetenunterkunft kennengelernt haben. Ein absichtlich humoristisch gewählter Name – im Exil gibt es ja sonst nicht so viel zu Lachen.
Die zunehmenden Repressionen gegen Aktivist*innen in Russland sind seit Jahren international bekannt. Geprägt von Folter und hohen Gefängnisstrafen verschärft sich auch die gesetzliche Grundlage für das brutale Vorgehen: NGOs können seit einiger Zeit als »ausländische Agenten« und Menschen aus dem LGBTQ-Spektrum als »Terroristen« behandelt werden.
Das Komitee, das zu Beginn als sozialer Austauschraum für russischsprachige Aktivist*innen geschaffen wurde, wuchs schnell zu einer regelmäßigen Struktur für gegenseitige Hilfe, Workshops zur Exilbewältigung und migrantischer Diskussionskultur heran. »Bei unserem ersten Treffen waren wir nur fünf Russen und fünf Deutsche. Bei der letzten Zusammenkunft waren wir 60 Menschen aus Frankreich, Polen, Litauen, Lettland, Tschechien und Österreich«, erzählt Maxim. Er sagt, dass soziale Kontakte die Grundlage für ein Überleben im Exil seien: »Deswegen erzählen wir in unseren Workshops, dass du mindestens eine Person finden musst, weil du ohne Sozialkontakte wahnsinnig wirst. Leider kenne ich einige Menschen, die mentale Probleme entwickelt haben.« Die Trennung von Familie und Freund*innen, die isolierte Situation in den Unterkünften und die neue Umgebung gepaart mit politischem Pessimismus: »Allein überstehen das die Wenigsten«, so Maxim. Das Äppelwoi Komitee ist ein Angebot, gesund zu bleiben, der Vereinzelung zu entkommen und wieder politisch handlungsfähig zu werden. Über das Ä.W.K erfahren die Teilnehmer*innen beispielsweise von Freund*innen. So wie Andrej*: »Ich habe das erste halbe Jahr in Deutschland in einer Geflüchtetenunterkunft verbracht. Das war echt hart, ich fühlte mich isoliert und ganz schön einsam.«
Im Knast wegen Minecraft
Die gemeinsamen Wochenenden des Komitees umfassen feste Programme mit Inputs, Workshops, Kunstausstellungen und Strukturtreffen. Am ersten Nachmittag dieses Wochenendes im Hochsommer wird die Fotoausstellung eines belarussischen Anarchisten aufgehängt. Seine beeindruckenden Bilder vermitteln die generelle Palette des Ä.W.K: Hier kommen Bewegungserfahrung und Leidenschaft mit politischem Stoizismus als emotionalem Verarbeiten der bestehenden Welt zusammen.
In den Gesprächen bekomme ich immer wieder das Gefühl, dass meine Interviewpartner*innen ihre Flucht beinahe herunterspielen. Manche betonen, dass sie noch nicht in unmittelbarer Gefahr gewesen seien. Im Kontrast dazu: Die Erzählungen über all die Aktivist*innen, die es nicht rechtzeitig rausgeschafft haben. Jene, die für fabrizierte Anschuldigungen nun im Gefängnis sitzen, auf unbestimmte Zeit; oder zumindest bis zum erhofften Systemwechsel.
Das Komitee ist ein Angebot, gesund zu bleiben, der Vereinzelung zu entkommen und wieder politisch handlungsfähig zu werden.
In der aufkommenden Dämmerung des ersten Abends leitet uns ein Aktivist durch eine Slideshow mit Gesichtern politischer Gefangener, viele von ihnen Anarchist*innen. Ein Bild der Präsentation zeigt Nikita Uvarov. Er wirkt kindlich, sein rundes Gesicht lässt Babyspeck erkennen. Uvarov und zwei seiner Freunde wurden mit nur 14 Jahren das erste Mal für das Aufhängen politischer Plakate festgenommen. Kurze Zeit später wurden sie als die »Minecraft Gefangenen von Kansk« bekannt, beschuldigt, für einen terroristischen Anschlag trainiert zu haben. Grund dafür war der Nachbau eines FSB-ähnlichen Gebäudes im Videospiel Minecraft. 2022 bekam der dann 16-Jährige eine fünfjährige Gefängnisstrafe aufgebrummt. Russlands Kinder sitzen im Knast.
Das Menschenrechtszentrum Memorial hat Ende 2024 mehr als 700 politische Gefangene in Russland registriert. Die Dunkelziffer wird weitaus höher geschätzt, da Angehörige potenziell weitere Betroffene aus Angst vor dem Staat nicht an NGOs melden.
Am Morgen des zweiten Tages brennt uns die Sonne im Nacken, während sich die Teilnehmenden für ein Strukturtreffen auf einer kleinen Lichtung zusammenfinden. Bevor Texte vorgelesen werden und die Diskussionen beginnen, werden alle dazu aufgefordert, eine Sache zu nennen, die sie an der antiautoritären Bewegung schätzen. Viele Teilnehmenden heben dabei den Aspekt der exilen Gegenwartsbewältigung als anziehenden Kern des Ä.W.K hervor. Sie rücken Themen, die sich mit dem Hier und Jetzt befassen, in den Vordergrund. Theorie und Debatten über den Krieg sind eher zweitrangig, diskutiert wird stattdessen, worüber das Komitee tatsächlich Kontrolle hat. »Wir haben manchmal nicht genug Kapazitäten, um darüber zu reden, wer den Abwasch macht, aber wir tun so, als wenn wir über die Ordnung Russlands nach dem Krieg sprechen könnten«, kommentiert Maxim.
»Komm zurück, wenn du schon tot bist«
Das Komitee lebt von gegenseitiger Unterstützung. »Solidarität bedeutet, jemandem die Hand zu reichen, wenn er ertrinkt«, sagt einer der Anarchisten. Die Genossin, die für mich übersetzt, kommt nicht ganz hinterher, es wird hitzig: Wie wollen wir Leute auffangen, und wen wollen wir auffangen? Wie gehen wir mit Drogenkonsum um? Wie formen wir sichere Netzwerke, um denen, die in den Unterkünften ankommen, überhaupt eine Hand anbieten zu können?
Während das Ä.W.K versucht, nachhaltige Auffangstrukturen aufzubauen, werden die Erfolge vom Rechtdruck in der Migrationspolitik überschattet. So setzte Deutschland Ende Juli 2025 humanitäre Visa aus, was die Sicherheit vieler systemkritischer Russ*innen gefährdet. Auch für Menschen, die ihren Antrag auf Asyl in Deutschland bereits stellen konnten, ist die Zukunft nicht immer sicher: »Als Aktivist hatte ich drei Optionen: Ins Gefängnis gehen, Schweigen und damit den russischen Faschismus unterstützen oder fliehen. Ich habe mich für das letztere entschieden«, erzählt mir Jakow* in einem Chat nach dem Treffen. Nach seiner Flucht nach Deutschland macht er weiter Politik gegen Putins Regime. Er macht seine politische Haltung öffentlich, auf seinem Instagram Account zeigt er sein Gesicht.
Doch sein Antrag auf politisches Asyl wurde jüngst abgelehnt: »Ich habe eine Ablehnung erhalten, da das BAMF veraltete Informationen über russische Methoden benutzt und das Prinzip zu sein scheint: ›Komm zurück, wenn du schon tot bist‹. Ich kann und will nicht der russischen Polizei und Pro-Putin-Aktivisten eine solche Freude machen. Ich habe nur ein Leben.« Die Begründung des BAMF lautet, dass die Behörden Jakows Leben und Gesundheit in Russland nicht ernsthaft bedroht sehen. Wie es nun für ihn weitergehen wird, ist unklar.
Denkt nicht, es sei nur Russland
»Wir haben eine Metapher über einen Frosch im heißen Wasser«, erklärt Maxim, »die Temperatur steigt schleichend, so dass der Frosch es nicht bemerkt. Russland wird immer als dieses autoritäre Land verstanden, aber es war nicht immer so. Die Menschen in Deutschland sollten nicht glauben, dass solche Gefahren fern sind. Die Situation kann sich schnell ändern. Denkt nicht, dass es nur Russland ist, dass es nur die Türkei ist.« Maxims Warnungen erinnern mich an die ersten großen Wahlerfolge der AfD, als meine Freund*innen und ich uns fragten, ob wir morgen wirklich einfach wieder zur Arbeit gehen sollten.
Maxim beginnt im Kreise des Komitees einen von ihm verfassten Text vorzulesen: »Ich glaube, wir sind nicht bereit. Und ich beginne mit Selbstkritik: Ich bin nicht bereit. Vielleicht war ich es auch nie. Was werden wir tun, wenn die AfD an die Macht kommt? Wenn es keine Visa mehr gibt? Ich sage: Wenn, nicht falls. Aber das ist kein Urteil. Jedes Gespräch, jede Schulter an unserer Seite ist schon ein Schritt nach vorne. Ja, wir sind müde. Ja, wir machen Fehler. Aber wir können immer noch lernen, einander zu unterstützen und weiterzumachen. Und darin liegt unsere Stärke. Darum jetzt zum nächsten Schritt…« Maxim blickt von seinem Text auf in die Runde. Eine weitere Diskussion hatte begonnen.
* Name geändert