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|Thema in ak 679: Wahnsinn

Serotonin und Revolution

Zur Dialektik der Psychiatriekritik aus depressiv-kommunistischer Perspektive

Von David Ernesto García Doell

Die Illustration zu diesem ak-Thema sind von Maik Banks.

Um eine sinnvolle Kritik an der Psychiatrie in Deutschland aus depressiver Perspektive zu formulieren, ist es hilfreich, zwei gängige Fehlannahmen aufzuklären. Die erste ist, die Psychiatrie als pharmaindustriell-autoritäres Gefängnis zu begreifen. Das wäre in etwa eine autonome, antipsychiatrische Position. Die andere Fehlannahme würde ich eine bürgerlich-individualistische nennen: der Glaube, dass Depressive bloß in die Psychiatrie gehen müssten, um ihr Leiden kurieren zu lassen.

Beide konstruieren die Psychiatrie als etwas Äußeres. Einmal als Teil einer externen Feindmaschine, das andere Mal als Teil einer Auslagerung von Reproduktion auf einen Wunderheilungsort. Individuell geht es dabei vielleicht auch um die Abwehr des Leids der Kranken, das die eigene Sterblichkeit und Zerbrechlichkeit vergegenwärtigt. Die Psychiatrie ist aber vielmehr sowohl ein Überlebensort als auch ein Spiegel der Gesellschaft.

Klar, unter den Bedingungen kapitalistischer Reproduktion werden in immer warenförmigeren Krankenhäusern Menschen zu »kaputten und zu reparierenden Maschinen« gemacht. Und ja, wir sehen die Klassengesellschaft in den besser ausgestatteten Extrastationen für reiche Privatpatient*innen sowie den alltäglichen Ableismus, Rassismus und Heterosexismus im Krankenhausalltag. Wir sehen die Klassengesellschaft ebenfalls in den Verwahranstalten für sogenannte »Austherapierte«, die im Prinzip Armenhäuser sind.

Aber all das ist der Psychiatrie nicht spezifisch eigen, sondern ergibt sich aus gesamtgesellschaftlichen Re-Produktionsverhältnissen und ideologischer Machtorganisation. Dass widerständige Frauen mit der historischen Diagnose der »Hysterie« für irrational und krank erklärt wurden, ist eher ein Ausdruck, eine Steigerung der patriarchalen Verhältnisse – nicht deren Ursprung.

Mit Depressionen überleben

Es ist eine Anmaßung, anderen Depressiven zu sagen, was sie tun sollen. Aber die noch größere Anmaßung wäre vielleicht, es nicht zu versuchen angesichts des ungleich höheren Suizidrisikos depressiver Menschen. Ich denke, dass der vermeintlich private Bereich der psychischen Gesundheit ein Ort der gesellschaftlichen Auseinandersetzung ist. Wir müssen ihn auch als diesen verhandeln, ohne unangenehme Konflikte zu vermeiden. Ich war jahrelang suizidal und hätte mir gewünscht, dass mir jemand sagt, wie ich damit umgehen kann. Schlussendlich war das Wichtigste für mich, meine linke Gruppe zu verlassen und ein gutes Medikament einzustellen.

Es mag richtig sein, dass meine Depressionen letztlich trauma-sozial bedingt sind. Dass mir in meiner Familie schlimme Sachen passiert sind, wobei die Familie selbst eine Institution ist, die gesellschaftliche Gewalt wie den Lohnarbeitszwang, Heterosexismus und Rassismus vermittelt. Aber das ändert nichts daran, dass ich als biophysischer Körper mit einem Serotoninhaushalt existiere. Ein Antidepressivum kann weder den Lohnarbeitszwang mindern noch das Familientrauma auflösen, aber vielleicht doch meinen Handlungsspielraum durch einen höheren Serotoninspiegel vergrößern; mir sozusagen biophysisch die Chance geben, für mich selbst zu kämpfen.

Die Psychiatrie ist sowohl ein Überlebensort als auch ein Spiegel der Gesellschaft.

Entgegen der Vorstellung, dass kapitalistische Krankenhäuser in Deutschland primär pharmaindustrielle Interessen vertreten und leichthin Medikamente verabreichen, musste ich lange dafür kämpfen, dass ich auf Medikamente eingestellt wurde. Ich wurde verhaltenstherapeutisch dazu angehalten, »einfach zu funktionieren«, während erst die Erhöhung des Serotoninspiegels die Suizidgedanken veränderte.

Nach meiner Erfahrung ist die Pharmakologie keine Wissenschaft, sondern eine Kunst. Und die meisten Psychiater*innen, die ich kennengelernt habe, waren dilettantisch bis fahrlässig darin. In einer schweren suizidalen Krise verweigerte mir ein Psychiater zunächst beispielsweise die Einstellung eines Medikaments. Als ich schließlich doch dieses Antidepressivum bekam, meinte er, dass er nicht an dessen Wirksamkeit glaube. Etwa drei Wochen später hatte ich zum ersten Mal seit vielen Jahren fast gar keine Suizidgedanken mehr. Wie kann ich diese Psychiater*innen noch ernst nehmen?

Mittlerweile nehme ich drei Antidepressiva. Während Fluoxetin, Citalopram und Escitalopram alleine kaum halfen, hatte ich mit der Kombination aus Bupropion, Escitalopram und Doxepin Erfolg. Ich bin wieder ein ganz anderer Mensch.

Was soll Therapie leisten?

Es ist tragisch, dass sich schwer depressive Menschen kaum genug konzentrieren können, um sich pharmakologisches Wissen anzueignen. Aber gerade das ist meines Erachtens wichtig: gemeinsam ein Depressionswissen herzustellen, welche Medikamente wie helfen können. Gute Psychiater*innen zu finden, ist dabei kein Widerspruch, sondern in bestehenden Verhältnissen wahrscheinlich der klügste, wenn auch wegen langer Wartelisten langwierige Weg.

Neben Medikamenten und Psychotherapie sollte es so etwas wie ein »therapeutisches Milieu«, ein Kollektiv depressiver Menschen, geben. »Anonyme Depressive«, die analog zu den »Anonymen Alkoholiker*innen« gemeinsam daran arbeiten, ihre Leben zu retten.

Die dystopische Vorstellung einer vollständig instrumentellen Verhaltenstherapie, die Patient*innen nur als Arbeitsmaschinen wieder ausbeutbar macht, ist zumindest in Deutschland nicht in Sicht. Das Problem ist viel eher die Frage, wer in der ableistischen, heterosexistischen und rassistischen Klassengesellschaft überhaupt Zugang zu Therapie hat. Warum bekommen reiche weiße Neurotiker*innen Therapie, aber rassifizierte Personen ohne Pass, die sie dringender bräuchten, keine?

Es ist natürlich ein Privileg, von vorrangig weißen Ärzt*innen und Securities nicht rassistisch behandelt oder gar totgeschlagen zu werden. 2019 wurde beispielsweise William Tonou-Mbobda in Hamburg von Ärzt*innen und Securities rassistisch ermordet, die den am Boden liegenden Mann immer weiter mit dem Knie traktierten. Eine Ärztin verabreichte ein Beruhigungsmittel, wodurch Tonou-Mbobda sein Bewusstsein verlor und in ein Koma fiel, aus dem er nicht mehr erwachte.

Antiableistischer Kommunismus

Gegen meine Position lässt sich leicht der Vorwurf des Eskapismus erheben. Auch wenn ich auf einer theoretischen Ebene die Ursachen von Depressionen letztlich in kapitalistischen, ableistischen, rassistischen und heterosexistischen Reproduktionsverhältnissen verorte, rufe ich nicht dazu auf, die Psychiatrien niederzubrennen. Viel eher vertrete ich die bescheidene Position, dass sich Depressive um sich selbst kümmern sollen. Der Grund dafür liegt in der Schwierigkeit des depressiven Lebens im Hier und Jetzt und dem Unverständnis der Mehrheitsgesellschaft für das depressive Leben.

Es gibt keine Einheit der Linken, die Rücksicht auf (teil-)privatisierte Probleme wie psychische Gesundheit und Ableismus nimmt. Linke politische Gruppen gleichen zum Teil, wie zuletzt die postautonome Antifa Wien in ihrer Auflösungserklärung feststellt, neoliberalen Kampangen-Start-ups: »Polemisch ausgedrückt war und ist, wer die Organisierungsform in der autonomen antifa [w] erfolgreich überstanden hat, für den Arbeitsmarkt perfekt vorbereitet: Angeeignet wurden sich Konkurrenzfähigkeit, Durchsetzungsvermögen, Teamfähigkeit, Organisierungskompetenz, Leistungsfähigkeit, projektförmiges Arbeiten (Kampagnenarbeit), Kreativität, die Akzeptanz einer nicht vorhandenen Trennung von Arbeit und Freizeit sowie das in Kauf nehmen schlechter (keiner) Bezahlung.«

Alex Klages Beitrag in diesem Themenschwerpunkt beschreibt dieses Problem ausführlicher. Auch mich interessiert, was mit den Personen passiert, die diese Gruppen nicht »erfolgreich überstehen«. Weil das strukturell öfter marginalisierte Personen sind, ist eine anti-ableistische Selbstorganisation sinnvoll. Das bedeutet nicht, einen kategorischen Separatismus zu vertreten oder eine postmoderne Identitätspolitik, sondern einfach nur, den realen Reproduktionsverhältnissen, die Menschen je nach Klasse, Race, Geschlecht und Behinderung eben anders betreffen, Rechnung zu tragen.

Nach fünf Jahren linker »Debatte« über »Identitätspolitik« und unter anderem auch in der ak über »neue Klassenpolitik« kann ich den Spott und die Häme der pseudo-objektiven Antideutschen und Klassenreduktionist*innen nicht mehr hören. Identitätspolitik gilt als postmoderne Verrücktheit und wird als »Beißreflex« von »skurrilen Minderheiten« diffamiert. Unterschiede in der Betroffenheit von Gewalt und in Zugängen zu Versorgung, Geld, Macht werden in dieser Gesellschaft als nebensächlich abgetan. Stattdessen solle sich die Linke wieder mehr für den deutschen Stahlarbeiter interessieren, der sich zwischen all den »Triggerwarnungen« nicht mehr heimisch fühlt.

Dieser Diskurs ist meines Erachtens verloren und je nach eigenen psychosozialen Ressourcen zu meiden. Ich habe länger versucht, eine historisch-materialistische Position für eine revolutionäre Identitätspolitik gegenüber Klassenreduktionist*innen zu vertreten, was allerdings überhaupt keinen diskursiven Fortschritt brachte. Aus einer reformistischen Arbeitspolitik der Gewerkschaften würde niemand schließen, dass wir Arbeitskämpfe grundsätzlich aufgeben müssen. Beim Thema Identitätspolitik gilt jedoch jede noch so liberale Position als Beweis, dass identitätspolitische Kämpfe regressiv sein müssen.

Für mich folgt daraus, dass wir eine depressive revolutionäre Politik entwickeln müssen, die sowohl identitätspolitisch für die Relevanz von psychischer Gesundheit und die Minderung der Suizidrate kämpft, als auch klassenpolitisch allgemein auf andere Reproduktionsverhältnisse drängt.

Die Bedingung für eine dialektische Psychiatriekritik besteht für mich persönlich darin, ehrlich festzustellen, dass ich in meiner linken Gruppe suizidal wurde, während mich die Psychiatrie am Leben erhalten hat. Und darin, dass in einer kommunistischen Gesellschaft die Reproduktionsverhältnisse allgemein solidarischer gestaltet werden könnten. Dass es erstens einen Rückbau der Hilfsinstitution in die »normalen« sozialen Milieus gäbe, der den Bedarf an psychiatrischer Behandlung deutlich verringern würde. Und dass zweitens die kommunistisch aufgehobene Psychiatrie eine anti-ableistische, feministische und antirassistische Psychiatrie wäre. Auch im Kommunismus gibt es ein Leiden der Seele, aber es wird vielleicht nicht mehr so häufig, so schrecklich und so einsam erlitten werden.