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Wie geht es uns denn heute?

Die Frage, ob die Psyche unter Corona leidet, wirft ein Schlaglicht auf linke Debatten um Psychiatrie und Care-Arbeit

Von Bilke Schnibbe

Eine schwarz-weiße, abstrakte Abbildung eines Gehirns. Die Hirnstrukturen bestehen aus Geldscheinen.
Das psychiatrische System ist nicht darauf ausgerichtet, psychisch Kranke nach wissenschaftlichen und moralischen Standards gut zu versorgen. Foto: Morgan Housel / unsplash

Was macht es mit Leuten, wenn sich eine Gesellschaft über Wochen in einen Lockdown begibt? Welche Auswirkungen hat es auf die psychische Gesundheit, wenn eine lang andauernde, kollektive Gesundheitskrise den eigenen Alltag komplett über den Haufen wirft? Diese Fragen werden seit Beginn der Coronakrise mal mehr, mal weniger intensiv, in den Medien besprochen. Dabei entsteht ein verwirrendes Bild: Hier wird zitiert, wie viel schlechter es den Leuten ginge, wohingegen dort Studien herangezogen werden, die nur wenig Unterschied in der psychischen Gesundheit der Menschen finden. Woran liegt das? Und wie ist eine solche Debatte aus linker Perspektive zu bewerten?

Die sogenannte psychische Gesundheit von Menschen zu untersuchen, ist etwas, das schon lange von links kritisiert wird. Die in den 1970er Jahren entstandene Antipsychiatrie-Bewegung kritisierte dementsprechend, dass Menschen mithilfe psychischer Diagnosen als »abnormal« einsortiert und dann in Psychiatrien und Heimen weggesperrt würden. Anstatt dass an der krankmachenden Gesellschaft etwas geändert werde, würden einzelne Menschen als Problembären identifiziert und »behandelt«, so die Logik. Auf diese Weise entstehe der Eindruck, dass eben nicht das Elend unterdrückerischer und ungerechter Verhältnisse die Menschen in den Wahnsinn treibe, sondern dass einzelne eben – leider – krank seien. Es ist dabei tatsächlich kein Zufall, wer besonders häufig dem Zugriff staatlicher und psychiatrischer Zwangsmaßnahmen (wie Zwangsmedikation, Zwangseinweisungen, Entmündigung oder Entzug des Sorgerechts für Minderjährige) ausgesetzt ist. Alte Menschen, arme Menschen, queere Personen, rassifizierte und be_hinderte Menschen laufen, in unterschiedlichem Ausmaß, besonders Gefahr, im psychiatrischen Apparat Gewalt zu erleben. Das heißt: So krude manche Teile der antipsychiatrischen Bewegung aus heutiger Perspektive auch scheinen, die zentrale Kritik bleibt bestehen – ja, sie ist eine, die aktuell eine erstaunlich kleine Rolle in linken Debatten spielt.

In der Linken wird ein privatisierender und individualisierender Umgang mit psychischen Problemen gepflegt, der Betroffene aus Zusammenhängen herausdrängt.

Momentan gibt es nur noch kleine Teile aktivistischer antipsychiatrischer oder ähnlicher Bemühungen in Deutschland. Die kritische Auseinandersetzung mit der Institution Psychiatrie erfolgt aus linker Perspektive aktuell vor allem indirekt in Form von Kritik am Gesundheitssystem als Ganzes. Und das ist nicht falsch, weil zum Beispiel die Unterordnung der Versorgung psychisch Kranker unter Profitinteressen natürlich massive Verschlechterungen in der Versorgung mit sich bringt. Psychisch Kranke, die ins Krankenhaus gehen, werden teilweise zum Beispiel später entlassen als nötig, weil die Krankenhäuser pro Tag an ihnen verdienen. Eine volle Bude (bei weniger Personal) lohnt sich also.

Plötzliches Interesse

In konkreten Fällen im eigenen Umfeld sind Linke zusätzlich oftmals überfordert, weil kaum eine Idee und aktuell kaum die Möglichkeit eines »guten Umgangs« mit psychischen Problemen existiert. Man möchte Menschen verständlicherweise nicht in Institutionen drängen, in denen ihnen möglicherweise Zwangsbehandlung widerfährt. Gleichzeitig brauchen Menschen gelegentlich Hilfe, die sich vom sozialen Umfeld der Leute nicht stemmen lässt. Besonders schwierig und widersprüchlich wird die Situation, wenn die betreffende Person mit Nachdruck dazu gebracht werden müsste, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ein klassisches Beispiel aus linken Kontexten hierfür ist die substanzabhängige Person, die zwar Ärger macht und möglicherweise körperliche Schäden vom Konsum davonträgt, die man aber gewähren lässt. Statt zu intervenieren, passiert oftmals nichts, was die Problemlage ironischerweise individualisiert: Man lässt eine hilfsbedürftige Person allein, vordergründig, weil man sie nicht bevormunden will. Die Linke versäumt es, auf solche Missstände zu reagieren, nicht nur im Bereich Suchtkrankheiten oder bei psychischen Problemen. Weil die Politisierung und Kollektivierung von Care-Arbeit behäbige Unterfangen sind, wundert es nicht, dass die Unterstützung psychisch Kranker als eine Form von Care-Arbeit in linken Kämpfen nicht den besten Stand hat. Diesem Mechanismus spielt auch das allgemeine und linke Desinteresse am Thema Ableismus in die Hände. Ob und wie von psychischen Problemen die Rede ist, hängt ebenfalls (auch in linken Zusammenhängen) davon ab, wie stark die kapitalistische »Verwertbarkeit« einer Person eingeschränkt ist oder erscheint.

Auch wenn die antipsychiatrische Bewegung mittlerweile vorbei ist, ist es richtig, darauf zu verweisen, dass das deutsche Gesundheitssystem nicht darauf ausgerichtet ist, eine nach wissenschaftlichen und moralischen Standards gute Behandlung von Menschen mit psychischen Problemen zu garantieren. Ebenso stimmt, dass in der Linken ein privatisierender und individualisierender Umgang mit psychischen Problemen gepflegt wird, der Betroffene aus Zusammenhängen herausdrängt. Insgesamt gibt es kaum Sorgearbeitsstrukturen, die nicht zu weiten Teilen darauf fußen, dass Frauen (darunter häufig unterbezahlte migrantische Frauen) ausgebeutet werden. Wie bei so vielen Fragen, die im Rahmen der Pandemie und des Lockdowns aufgetaucht sind, wird deutlich, dass die Probleme, die nun ein wenig prominenter besprochen werden, schon lange bestehen. Der Lockdown verdeutlicht nur, was vorher schon im Argen war: Psychisch kranke Menschen interessieren eigentlich nicht. Die besorgte Frage, wie es ihnen nun mit dem Lockdown geht, weil sie ja so vulnerabel seien, ist aus dieser Perspektive schon fast frech. Barbara Koslowski und David Ernesto García Doell nennen das richtigerweise eine merkwürdige Projektion (ak 661), denn möglicherweise sind die, die schon länger eingeschränkt teilhaben, gar nicht stärker von psychischen Problemen betroffen, wenn die Gesellschaft sich in einen Lockdown begibt.

Zu wenig, zu spät

Bei einem Blick auf die Studien zur psychischen Gesundheit in Lockdownzeiten wird ebenfalls deutlich: Neben methodischen Problemen (wie beispielsweise der Art der Stichprobenerhebung und der geringen Vergleichbarkeit verschiedener Studien), werden die Studien aus einer privilegierten Position interpretiert – in Bezug auf psychisch Vorerkrankte zeigt sich ein paternalistischer Blick. Die psychologische Forschung gibt sich neutral und objektiv. Hinzu kommen Journalist*innen, die punktuell Studien herauspicken und zu großen Erkenntnissen hochjazzen, die sie nicht sind. Außer Acht bleibt, dass einzelne Studienergebnisse nicht aussagekräftig sind, solange sie nicht durch andere Studien bestätigt werden. Das sollten Journalist*innen eigentlich wissen. Für die in den Medien dargestellten scheinbar widersprüchlichen Ergebnisse, kann es dementsprechend viele Gründe geben. Ohne eine gemeinsame Betrachtung aller Studienergebnisse besteht die Gefahr, dass wir falsche Schlüsse ziehen.

Die gemeinsame Betrachtung der Ergebnisse geschieht in sogenannten wissenschaftlichen Reviews: Forscher*innen recherchieren systematisch Studienergebnisse zur selben Frage und bewerten dann, was alle Ergebnisse gemeinsam betrachtet aussagen könnten. In Bezug auf die Frage, wie sich die psychische Gesundheit der Menschen im Rahmen der Pandemie entwickelt hat, wurde mithilfe dieser Herangehensweise vor allem deutlich, dass in Bezug auf die gesamte Bevölkerung ein Anstieg an psychischen Belastungen zu beobachten gewesen sei im Vergleich zur Zeit vor dem ersten Lockdown. Die Ergebnisse geben bisher nicht her, dass psychische »Krankheiten« zugenommen hätten. Zu Deutsch: Die Leute sind gestresster, ob man das auch eine »Krankheit« nennen sollte, ist noch nicht klar. Im Verlauf des ersten Lockdowns blieb das Belastungslevel ähnlich hoch, um nach dem Lockdown wieder abzusinken. Die Wissenschaftler*innen Richter, Riedel-Heller und Zürcher betonen, dass es in Bezug auf psychisch Vorerkrankte keine klare Tendenz gäbe: Einige Studien finden ein höheres Stresslevel bei bereits psychisch erkrankten Personen, andere Studien finden diese Tendenz nicht. Das bedeutet vor allem, dass es noch mehr Studien braucht, um herauszufinden, woher diese unterschiedlichen Muster kommen. Die einfache Formel, dass es psychisch Vorerkrankten durch den Lockdown schlechter gehen muss, bestätigt sich also bisher nicht so recht.

Klar ist, dass bisher trotz der relativen Prominenz des Themas, keine zusätzliche Auseinandersetzung mit dem Thema von links stattfindet. Das verwundert nicht. Eigentlich braucht es weder einen Lockdown noch eine Pandemie, um zu erkennen, dass es ein linkes Anliegen ist, die Versorgung psychisch Kranker kollektiv umzuorganisieren. Im professionellen und im persönlichen Bereich. Die vielversprechendste Option, das Thema wieder mehr auf die Agenda zu heben, besteht aktuell vermutlich in einer Verknüpfung mit dem Thema Sorgearbeit. Nur wenn die Fürsorge füreinander nicht mehr als Nebenschauplatz gewertet wird, ist kollektive Organisierung gegen die Individualisierung und Entfremdung in der kapitalistischen Ordnung möglich. In einem solchen Sinne ließe sich der Umgang mit der Pandemie, der ewige Lockdown und die daraus folgenden Belastungen für die gesamte Bevölkerung (die recht eindeutig nachgewiesen ist) von links politisieren. Der individualistische, paternalistische Blick auf solche, die man als »schlimmer dran« als sich selbst imaginiert, wäre dann nicht mehr nötig.  

Bilke Schnibbe

war bis Oktober 2023 Redakteur*in bei ak.