Das Ende des bolivianischen Sozialismus
Streit, eine verfehlte Wirtschaftspolitik und eine gescheiterte Dekolonisierung läuten das Ende der linken MAS ein
Von Andreas Hetzer

Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vom 17. August endeten für die Bewegung zum Sozialismus (Movimiento al Socialismo – MAS) in einem Fiasko. Ihr Präsidentschaftskandidat, Eduardo del Castillo, erhielt gerade mal 3,2 Prozent der Stimmen. Noch vor fünf Jahren hatte der amtierende Präsident, Luis Arce Catacora, die erste Runde mit absoluter Mehrheit für sich entschieden. Um ein Haar wäre der Partei, die 20 Jahre das politische Geschehen des Landes dominierte, die juristische Körperschaft entzogen worden, hätte sie die Drei-Prozent-Hürde nicht erreicht.
In die Stichwahl gehen am 19. Oktober der Senator Rodrigo Paz Pereira von der Demokratisch-Christlichen Partei und der ultrakonservative Antikommunist Jorge Fernando »Tuto« Quiroga Ramírez von der Alianza Libertad y Democracia, die in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen jeweils 32 und 27 Prozent holten.
Auch im Parlament ging die MAS nahezu leer aus. Im Repräsentantenhaus stürzte sie von einer Zwei-Drittel-Mehrheit auf gerade mal zwei von 130 Sitzen, im 36-köpfigen Senat ist sie gar nicht mehr vertreten.
Absturz der Massenpartei
Tatsächlich hat die MAS sich selbst zerlegt. (ak 710) Luis Arce, der unter der Regierung Evo Morales noch Wirtschaftsminister war, strebte mit seinem Vize, dem intellektuellen David Choquehuanca, eine Erneuerung der Parteispitze an. Ex-Präsident Morales strebte jedoch erneut die Präsidentschaft an. Unterstützt wurde er von der gut organisierten Kokabauerngewerkschaft im Chapare, die Wiege seiner politischen Karriere. Morales hatte im Oktober 2023 versucht, Arce und Choquehuanca aus der Partei auszuschließen, was diese und ihre Anhänger*innen nicht akzeptierten. Daraufhin trat Morales im Februar dieses Jahres aus der MAS aus und versuchte, auf dem Ticket anderer Parteien seine Kandidatur durchzuboxen. Dabei hatte das Verfassungsgericht dies schon 2023 untersagt, weil er bereits zwei Amtszeiten als Präsident absolviert hatte. Aus Trotz rief der charismatische Morales zum Wahlboykott auf. Dem folgten immerhin fast 20 Prozent, die ungültig wählten.
Álvaro García Linera, intellektueller Marxist und ewiger Vize an der Seite von Morales, schrieb einem Tag vor den Wahlen am 17. August in der mexikanischen La Jornada: »Das Endergebnis dieses erbärmlichen Bruderkriegs ist die vorübergehende Niederlage eines historischen Projekts.« Linera wurde von Morales verstoßen, ebenso der junge Senatspräsident der MAS, Andrónico Rodríguez. Er kam mit seiner Popularen Allianz (Alianza Popular – AP) immerhin auf 8,5 Prozent. Der ehemalige Schützling von Morales führte noch vor Monaten die Wahlumfragen an. Allerdings wurde er von Morales als Verräter bezeichnet und mit Verleumdungen überzogen, weil er ohne seine Erlaubnis kandidiert hatte. Damit brachen auch seine Umfragewerte ein. Er konterte: »Ungültig zu wählen ist eine Stimmabgabe für die Rechte.« Damit behielt er recht. Hätte sich die Linke auf einen Kandidaten geeinigt, wäre sie wohl zumindest in die Stichwahl eingezogen.
Wirtschaftswunder und Reformen
Die fetten Jahre steigender Staatseinnahmen durch die Nationalisierung von Erdgas und natürlichen Ressourcen sind vorbei. Sie ermöglichten staatliche Sozialprogramme, holten Millionen Bolivianer*innen aus der Armut und ließen die staatlichen Währungsreserven anwachsen. Es erwuchs eine indigene Mittelschicht, die es zu bescheidenem Wohlstand brachte. Zudem wurde Bolivien unabhängiger von Internationalem Währungsfonds (IWF) und Weltbank. Tatsächlich ein gewaltiger Fortschritt im Vergleich zur neoliberalen Epoche, die Anfang der 2000er Jahre zu einer politischen Krise führte und im sogenannten Gaskrieg zahlreiche Menschenleben kostete. Doch während Morales sich international als Verteidiger der Pachamama, Mutter Erde, präsentierte, setzte er intern auf Staatskapitalismus und Umverteilung.
Mit der Erschöpfung der Gasvorkommen und der schleppenden Industrialisierung der weltweit größten Lithiumvorkommen in den andinen Salzseen schrumpften die Reserven. Seit 2012 steigt die Staatsverschuldung kontinuierlich an. Im klassisch keynesianischen Sinne setzte Arce auf die Kontinuität der hohen Staatsquote an der Wirtschaft und erklärte die Krise mit konjunkturellen Faktoren wie die Rezession der Weltwirtschaft. 2024 schloss Bolivien mit einem Haushaltsdefizit von zwölf Prozent.
Die Kraftstoffknappheit, die hohe Inflation bei Grundnahrungsmitteln von fast 100 Prozent und einem realen Dollar, dessen Wert gegenüber der bolivianischen Währung um das Doppelte gestiegen ist, ließen die Durchhalteparolen der Regierung verpuffen.
Besonders betroffen sind die unteren Bevölkerungsschichten. Erhöhungen des Mindestlohns auf Anordnung der Regierung zeigten in einem Land, in dem die Informalität bei 80 Prozent liegt, wenig Wirkung. García Linera stellt klar, dass die progressive Linke Lateinamerikas Wahlen nicht in sozialen Netzwerken oder einer besonders gewieften autoritären, faschistoiden und rassistischen Rechten verliert, sondern aufgrund wirtschaftspolitischer Versäumnisse.
Wie in anderen Ländern habe es Boliviens Linke versäumt, Wirtschaftsreformen der zweiten Generation anzuschieben, um die Umverteilung des Reichtums zu gewährleisten und neue Fortschritte bei der Gleichberechtigung marginalisierter Schichten zu erzielen. Dazu gehöre der Aufbau einer expansiven Produktionsbasis in der Industrie, in der Landwirtschaft und im Dienstleistungssektor, sowohl im privaten, bäuerlichen und volkswirtschaftlichen als auch im staatlichen Sektor.
Trotz aller Berechtigung dieser Erklärungen bezahlt die MAS ihre vorläufige Niederlage auch aufgrund ihrer inneren Widersprüche und der unzureichenden Dekolonisierung des Staates. Ursprünglich hatten sich Gewerkschaften, indigene Bewegungen und kleinbäuerliche Strukturen mit jahrzehntelanger Organisierungs- und Mobilisierungserfahrung zusammengeschlossen, um ein »Politisches Instrument für die Souveränität der Völker« (Instrumento Político por la Soberanía de los Pueblos – IPSP) ins Leben zu rufen. Diesen Beinamen trägt die MAS bis heute. Es galt das Prinzip der Legalität gekoppelt mit dem Druck von der Straße.
Der Sozialismus im Namen war eher Zufall, weil man eine registrierte Partei zur Teilnahme an den Wahlen brauchte. 1999 holte die MAS gerade mal 3,3 Prozent bei den nationalen Wahlen. 2015 war sie die einzige Partei, die bei den Regionalwahlen in 339 Gemeinden Kandidat*innen aufstellte. Ein Beleg dafür, wie westliche repräsentative Strukturen priorisiert wurden. Die Wahlerfolge belegten, dass die Ideologie eines flexiblen indigenen Nationalismus mit einem Schuss an gewerkschaftlichen Marxismus auch bei urbanen Mittelschichten verfing. Ganz im Gegensatz zur Indigenen Bewegung Pachakuti (Movimiento Indígena Pachakuti – MIP), die einen indigenistisch homogenen Staat propagierte.
Kosmetische Pluralität
Die MAS bewegt sich also im Spannungsfeld zwischen Partei als Wahlmaschine und Mittel zum Aufbrechen kolonialer Machtstrukturen im Staat. Je mehr Konzessionen im Laufe der Zeit an das politische System gemacht wurden, desto weiter entfernte sich die Partei von ihren ursprünglichen Zielen der Neugründung des Staates. Die Integration in das System staatlicher Regeln und Normen, insbesondere das Mehrheitswahlsystem mit individuellem Wahlrecht, ging zu Lasten indigener Minderheiten, die nach Prinzipien der kollektiven Entscheidungsfindung funktionieren.
Die parteiideologische Vereinheitlichung unter Führung eines charismatischen Morales reduzierte den angestrebten Plurinationalismus immer mehr auf symbolische Fragen. Doch das greift in Bolivien zu kurz, wo seit der Verfassung von 2009 36 indigene und bäuerliche Nationen anerkannt sind, die sich in ihrer kulturellen Identität, ihrer Sprache, ihres Territoriums und ihrer Traditionen unterscheiden. Der marxistische Philosoph Luis Tapia spricht zu Recht von einer Mehrfachgesellschaft, die in einer unzusammenhängenden Überlagerung verschiedener Gesellschaftsformen besteht. Sie funktionieren nach verschiedenen Logiken, mentalen Strukturen, Produktionsweisen, Sprachen und Regierungsformen, was der kapitalistischen Vergesellschaftung und der modernen Verstaatlichung enge Grenzen setzt.
Der Staat wurde nicht dekolonisiert, sondern lediglich mit seinen bestehenden Institutionen erobert.
Die Erzählung der mestizischen Nation, nach der alle Ethnien unabhängig ihrer kolonialen Vergangenheit miteinander verschmelzen und deren Mitglieder als Staatsbürger*innen gleiche Rechte genießen, hat diese Zivilisationen zu leugnen versucht und Ungleichheiten mittels ethnischer Segmentierung und Klassismus zugunsten der kreolischen Elite zementiert. »Die Mestizaje kann nicht als Ablehnung des Rassismus verstanden werden: Anstatt das Stigma zu beseitigen, ermöglicht sie es, damit zu leben«, resümiert die französische Wissenschaftlerin Elisabeth Cunin.
Eine tiefgreifende Dekolonisierung der liberalen Demokratie bedeute demnach mit Tapia, »Formen der Selbstverwaltung anzugleichen. Solange dies nicht geschieht und sie nur hierarchisch anerkannt werden, werden Menschen anderer Kulturen weiterhin diskriminiert, weil ihre Formen der Selbstverwaltung unter der Annahme anerkannt würden, dass sie nicht geeignet sind, das Land zu regieren.« Das Problem der MAS ist, dass sie zwar indigene Autonomien im Sinne der Diversität verschiedener Kulturen des Regierens und Wirtschaftens anerkennt, aber an der Idee des Zentralstaates festhält. Der Staat wurde nicht dekolonisiert, sondern lediglich mit seinen bestehenden Institutionen erobert.
Tatsächlich war dies kein Hirngespinst, sondern Programm der Basisbewegungen und Intellektueller der Grupo Comuna, die in Teilen Regierungspositionen übernommen hatten. Das Scheitern der MAS ist somit zugleich eine verpasste historische Chance, Staat und Demokratie völlig neu zu denken, gespeist aus den historischen Selbstverwaltungs- und alternativen Regierungsformen indigener Nationen. Denn im Gegensatz zur »rosaroten Welle mit Lula da Silva in Brasilien, Néstor Kirchner in Argentinien und Hugo Chávez in Venezuela« (Gerhard Dilger) hatten die Neugründungen des Staates mit den Verfassungen in Bolivien und Ecuador Anfang der 2000er Jahre das Potenzial, das koloniale Erbe ihrer Nationengründungen abzuschütteln.
Es ist zu fürchten, dass nun die traditionelle Mittelschicht, die durch den sozialen Aufstieg und die politische Emanzipation der indigenen Mehrheit ihrer Privilegien beraubt wurde, sich revanchiert und das Rad zurückdreht. Die Ankündigungen der beiden Kandidaten für die Stichwahl lassen nichts Gutes verheißen. Gleichwohl wird die nächste bolivianische Regierung vor der Notwendigkeit stehen, Sparprogramme durchzusetzen. Das könnte neue Wellen sozialer Proteste auslösen, sofern die indigenen, kleinbäuerlichen und gewerkschaftlichen Organisationen ihr Mobilisierungspotenzial nach 20 Jahren an der Regierung zurückgewinnen.