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|ak 718 | Diskussion

Kill your darlings!?

Der Reorganisierungsprozess der kurdischen Bewegung gibt wichtige Denkanstöße für die hiesige linke Debatte

Von Lukas Kaufman

Kämpfer*innen der PKK werfen ihre Gewehre in eine Feuerschale.
Kein Ende, sondern ein neuer Anfang: symbolische Waffenniederlegung der PKK. Foto: ANF/Roj News

Alle Gruppen der PKK sollen ihre Waffen niederlegen und sich auflösen.« Abdullah Öcalans Worte hallen auf Türkisch und Kurdisch durch das Brandenburger Tor, wo die kurdische Community zu einem Public Viewing seines Appells versammelt ist. Es ist der 27. Februar. Trotz der Kälte sind einige Tourist*innen mit Selfiestangen vor dem Brandenburger Tor gelandet. Die Worte des seit 1999 inhaftierten PKK-Anführers hängen merkwürdig in der Luft. Ich lasse mir den Aufruf von einem kurdischen Genossen übersetzen und bin schockiert: Was bedeutet dieser Schritt? Ist das nicht das Ende des Demokratischen Konföderalismus? Jetzt, ein halbes Jahr später, ist weiterhin vieles unklar. Sicher ist nur, der Aufruf von Öcalan läutet eine Transformation der kurdischen Freiheitsbewegung ein. Und er bleibt merkwürdig: In einer Phase, wo die ganze Welt aufrüstet, tut die kurdische Freiheitsbewegung das Gegenteil. Die PKK löst sich auf ihrem 12. Parteikongress selbst auf. Im Juli legen die ersten Guerillas ihre Waffen symbolisch nieder.

Diese Ereignisse wurden in ak vor allem in Bezug auf geopolitische Entwicklungen diskutiert (ak 713, ak 715). Natürlich hängen die Gespräche zwischen kurdischer Bewegung und türkischem Staat mit Erdoğans Machtpoker in der Türkei zusammen. Und auch mit der aggressiven militärischen Neuordnung der Region durch Israel. Das Ende der PKK ist aber nicht nur das Ergebnis geopolitischer Entwicklungen. Folgt man ihrer inneren Logik, ergeben sich spannende Anstöße für linke Debatten in Deutschland. Wie bereits beim Paradigmenwechsel Anfang der 2000er Jahre geht der aktuelle Prozess auch mit einer Kritik und Weiterentwicklung der eigenen Politik einher. Und auch die Linke in Deutschland steckt in einem Reorganisierungsprozess und sucht neue Strategien.

Kontinuität durch Selbstauflösung

Viele Jahre saß der inhaftierte PKK-Gründer Abdullah Öcalan isoliert auf der Gefängnisinsel İmralı. Dann im Winter 2024 die Überraschung: Mehrmals durfte eine Delegation der linken pro-kurdischen DEM-Partei ihn besuchen. Dem gingen geheime Gespräche mit dem türkischen Staat voraus. Die Delegation der DEM-Partei sprach mit anderen Parteien im türkischen Parlament. Sie beriet sich mit kurdischen Akteur*innen in der Region und in Europa. Diese Gespräche mündeten im Aufruf Öcalans Ende Februar. Daraufhin hielt die PKK Anfang Mai ihren Kongress ab und löste sich selbst auf.

Liest man die Perspektiven, die Abdullah Öcalan auf über 30 Seiten zu diesem Kongress beigetragen hat, wird klar: Die kurdische Freiheitsbewegung hat nicht vor, die Segel zu streichen. Öcalan erteilt auch dem Projekt des Demokratischen Konföderalismus keine Absage. Es geht vielmehr darum, die eigenen Ideen, die eigene Politik zu erneuern und weiterzuentwickeln. Nicht stehen bleiben, während sich um einen herum die Welt verändert. Weitergehen, die Richtung ändern. Die Selbstauflösung der PKK ist genau das: Ein weiterer Versuch, den Weg in Richtung Revolution offen zu halten, sich durch Veränderung treu zu bleiben, Kontinuität durch Transformation.

Was sich verändern soll? Zunächst fällt auf, wie stark sich Öcalan auf demokratische Politik bezieht. Verbunden wird dies mit deutlicher Kritik an den Kadern der PKK: Der Widerstand der PKK habe zwar »die Existenz der Kurd*innen und Kurdistans dauerhaft gesichert«, aber nicht ihre Befreiung erreicht. Grund sei, dass die PKK undemokratische marxistisch-leninistische Prinzipien nicht überwunden habe. Eine Analyse der Akademie der Demokratischen Moderne interpretiert das so: »Die Gesellschaft wird die Fortsetzung der Partei.« Öcalan schreibt in seinen Perspektiven für den Kongress: »Die Gesellschaft hat kein anderes Subjekt als sich selbst. Subjekt und Objekt der Gesellschaft ist die Gesellschaft selbst. Diese Form hat einen offenen Charakter. Mit anderen Worten: Die Gesellschaft ist ein aktiver Prozess, der sich ständig bildet, zerfällt und sich neu formiert.« 

Das klingt wie das Gegenteil einer marxistisch-leninistischen Kaderpartei. Welche Konsequenzen daraus gezogen werden sollten, lässt Öcalan offen. Er deutet nur an, dass es weitreichende Umstrukturierungen geben wird. Daraus ergibt sich die Strategie, eine demokratische Gesellschaft aufzubauen, zum Beispiel durch eigene Kommunalverwaltungen – ein Hinweis auf mögliche realpolitische Kompromisse in der Türkei und in Syrien. Für den Mittleren Osten hält Öcalan an seiner Idee einer Konföderation fest: »Eine Konföderation in der Region wird zur absoluten Notwendigkeit. Der israelisch-palästinensische Konflikt, konfessionelle Konflikte sowie Widersprüche zwischen Nationalstaaten können nur durch den Demokratischen Konföderalismus gelöst werden«.

Nicht der Mittlere Osten, die ganze Welt ordnet sich neu. Um darin als Linke bestehen zu können, braucht es keinen Blick zurück, sondern eine Öffnung nach vorn.

Öcalans Perspektiven für den PKK-Kongress erinnern an den Begriff des »jakobinischen Paradox«. Die Wissenschaftler Joost Jongerden und Ahmet Akkaya benutzen ihn, um den Widerspruch zu beschreiben, dass die PKK zwar ein Projekt radikaler Demokratie verfolgt, dies aber als nicht demokratisch organisierte Kaderpartei, die Gewalt als legitimes Mittel einsetzt. So wie die Jakobiner in der Französischen Revolution, die autoritär herrschten und gleichzeitig das Projekt der Demokratie entwickelten. Es geht nicht darum, diesen Widerspruch zwischen demokratischer und undemokratischer Politik moralisch zu verurteilen. Das jakobinische Paradoxon ist vielleicht sogar notwendig, denn auch radikaldemokratische Politik ist immer Teil der Gesellschaft, die sie überwinden will. Wichtig ist, dass der Widerspruch nicht erstarrt, sondern in Bewegung bleibt. Vielleicht braucht es die Auflösung der PKK, damit die kurdische Freiheitsbewegung lebendig bleibt?

Kurdische Inspiration

Wie werden die tausenden Revolutionär*innen der kurdischen Bewegung und die Millionen von Menschen, die sich mit ihnen verbunden fühlen, die erneute Transformation ihrer Bewegung gestalten? Es werden spannende Jahre in Kurdistan. Richten wir den Blick auf unseren eigenen Kontext, auf Deutschland und Europa. Die kurdische Bewegung hat in den letzten Jahren vor allem durch die Revolution in Rojava viele Linke in Deutschland inspiriert. Gruppen wie die Initiative Demokratischer Konföderalismus und andere wollen das Erfolgsrezept der Bewegung auch in Deutschland umsetzen. Kurz gesagt: Die kurdische Bewegung war und ist ein Vorbild für viele Linke in Deutschland, oft mit einer gehörigen Portion Romantisierung. Was kann die Linke in Deutschland von der erneuten Transformation der kurdischen Bewegung lernen?

Karl Winter argumentiert in ak 713 in Bezug auf die neu erstarkten »roten Gruppen« für leninistische Kaderstrukturen nach dem Vorbild der PKK. Ich teile die Ansicht, dass es notwendig ist, dass Aktivist*innen als Initiativkräfte Verantwortung für die Entwicklung eines linken, revolutionären Projekts übernehmen. Aber gerade die aktuelle Transformation der kurdischen Bewegung zeigt doch: Die Entwicklung eines Erfolg versprechenden revolutionären Projekts muss überkommene marxistisch-leninistische Politikkonzepte kritisieren und überwinden.  Es bedarf einer ernsthaften Auseinandersetzung auch mit den Fehlern der eigenen Gruppe oder Strömung. Dass die Transformation der kurdischen Bewegung mit einer Hinwendung zur Gesellschaft einhergeht, macht aber Mut für die vielen Versuche in der deutschen Linken, ernsthafte Basisarbeit zu betreiben, sei es Organizing mit Mieter*innen und Arbeiter*innen in der Klimagerechtigkeitsbewegung oder der Aufbau von Stadtteilgewerkschaften.

Nicht der Mittlere Osten, die ganze Welt ordnet sich neu. Um darin als Linke bestehen zu können, um eine Revolution zu ermöglichen, braucht es keinen Blick zurück ins 20. oder sogar 19. Jahrhundert, sondern eine Öffnung nach vorn. Die kurdische Bewegung macht es wieder einmal vor: Die Gesellschaft ist wichtiger als eine Partei. Also kill your darlings, insbesondere, wenn sie marxistisch-leninistischer Ballast sind.

Lukas Kaufman

ist Internationalist und aktiv in der Interventionistischen Linken.

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