Keine Führung ist auch keine Lösung
Wenn wir es mit autoritären Krisenregimen aufnehmen wollen, brauchen wir Kaderstrukturen
Von Karl Winter

Johanna Schellhagen wirbt in ak 712 für Offenheit gegenüber den neuen roten Gruppen. Und sie hat Recht: Wir Linke müssen lernen, ritualisierte Abgrenzungen abzulegen. Gut ist auch ihre Idee eines Kongresses für die gesamte klassenorientierte Linke. Schuldig bleibt Schellhagen aber einen konkreteren Vorschlag über die Art und Weise, wie sich die revolutionäre Bewegung, für deren Aufbau sie sich ausspricht, konkret organisieren soll. Ähnlich ist das bei Christian Hofmanns Beitrag in ak 711: Er möchte ein »zeitgemäßes Avantgardeverständnis«. Aber was heißt das konkret?
Am arabischen Frühling oder an den Bewegungen gegen die Austeritätspolitik in Europa schätzten viele westliche Linke, dass sie keine Führung und keine Avantgardeparteien hatten. Aber hat nicht genau das zu der Orientierungslosigkeit geführt, an der diese Bewegungen zerbrochen sind? Es ist kein Zufall, dass der einzige der revolutionären Aufbrüche der letzten Jahre, der sich bis heute behaupten kann, Rojava ist – ein revolutionärer Prozess, der stark auf die jahrzehntelange Vorarbeit durch die Kurdische Arbeiter*innenpartei PKK baut, auf die Arbeit von Kader*innen, die jahrzehntelang im Untergrund gekämpft und Basisarbeit gemacht haben. Die PKK hat ihre befreiungsnationalistischen Vorstellungen zwar überwunden, nach innen ist sie aber nach wie vor eine Organisation leninschen Typs – also eine Kaderpartei von Berufsrevolutionär*innen, die nach dem Prinzip des Demokratischen Zentralismus organisiert ist. Die Kommandostruktur verläuft von oben nach unten; es gibt ausgeprägte Formen von Kritik und Selbstkritik, denen auch die obersten Ränge verpflichtet sind.
Die Struktur der PKK ist mit Voraussetzung dafür, dass sie so lange überleben konnte und dass es heute Rojava gibt. Der arabische Frühling dagegen konnte keine dauerhaft demokratischen oder gar sozialistischen Gesellschaften hervorbringen; die Aufstände in Griechenland und ihre linkssozialdemokratische Wendung durch Syriza wurden teils mit Polizeiknüppeln, teils durch das Spardiktat von Internationalem Währungsfonds, EU-Kommission und Europäischer Zentralbank unter deutscher Führung niedergeschlagen. Die PKK zeigt auch, dass Kaderstrukturen heute zwar manchmal immer noch nicht ganz ohne Männer mit Schnauzbärten auskommen, aber besser geworden ist es allemal: Auf allen Ebenen bis in die Führungsebene im Kandil-Gebirge gibt es eigenständige Frauenstrukturen. Waren Führungsrollen in den Avantgardeparteien der kommunistischen Welthalbkugel im vergangenen Jahrhundert – trotz starker Beteiligung von Frauen, etwa in der Komintern – oft mit patriarchalen Männerbildern verbunden, hat sich das in der kurdischen Freiheitsbewegung deutlich verändert.
Gut organisiert gegen die autoritäre Formierung
Doch sind nicht die Bedingungen im Europa des 21. Jahrhunderts ganz andere als die im russischen Zarenreich oder die in Kurdistan, der Türkei und Syrien? Natürlich. Gleichzeitig haben wir es auch hier mit zunehmend autoritären Staaten zu tun. Und auch wenn man sich die rote Uniformierung bei der jährlichen Luxemburg-Liebknecht-Lenin-Demo sparen könnte, müssen wir uns als Linke nichtsdestotrotz organisatorisch auf einen hochgerüsteten deutschen Imperialismus samt Militarisierung nach innen einstellen: Wir haben es mit Konzernen und Regierungen zu tun, die Krisen mit mehr Ausbeutung und Gewalt lösen wollen. Mit der Zerschlagung sozialstaatlicher Errungenschaften und weiteren Milliarden für Aufrüstung für die aktuellen und die kommenden Kriege im Osten. Mit Politiker*innen, die Menschen ertrinken lassen, sei es, weil die Klimakrise ihre Häuser wegspült oder weil sie kein Asyl bekommen sollen.
Wir reden von einem Staat, dessen Polizei und Medien Menschen mundtot machen, wenn sie sich nicht der Staatsräson fügen und gegen den Völkermord in Gaza und seine deutsche Unterstützung aufbegehren. Als Linke organisieren wir uns in einem Europa, in dem die bürgerlich-demokratische Verwaltung kapitalistischer Herrschaft immer stärker in autoritärere Verwaltung übergeht; in Deutschland in einem Land, das nicht mehr nur führende Wirtschaftsmacht Europas, sondern auch führende Militärmacht der EU sein will. Natürlich wäre es schön, wenn wir als Linke heute keinen Apparat bräuchten, keinen Aufbau von Macht, um gegen das, was jetzt Macht organisiert, anzukommen. Aber der Macht der Großkonzerne, Banken und bürgerlichen Staaten ist nur mit kämpferischen Gewerkschaften, Generalstreiks und Massenbewegungen beizukommen. Und die erfordern ein sehr hohes Maß an Koordination. Sie müssen in der Lage sein, Taktiken und Strategien verbindlich festzulegen und schnell zu reagieren. Dafür braucht es gut ausgebildete Leute, die Initiative übernehmen.
Formelle Hierarchien sind besser als informelle
Kurz gesagt: Es braucht auch heute Kaderstrukturen, Komitees von Menschen, die es sich zur Aufgabe machen, Bewegungen und Kämpfen Struktur zu geben. Wer schon mal bei einer größeren Besetzung dabei war, einen Streik oder eine Demo mit organisiert hat weiß, dass es ohnehin immer eine Handvoll Leute gibt, bei denen Fäden zusammenlaufen. Statt informeller Hierarchien, die vor allem in (post-)autonomen Strukturen üblich sind, wäre es besser, Leitungsrollen zu formalisieren. Damit wären Genoss*innen, die die Initiative übernehmen, auch leichter kritisierbar, wenn es zu Fehlverhalten kommt.
Nicht zuletzt laufen gerade linke Männer oft davor weg, sich mit der eigenen Position und eigenem Fehlverhalten auseinanderzusetzen. Verbindlichere Organisierung wäre die Grundvoraussetzung dafür, dieses Problem besser angehen zu können. Das mag im ersten Moment kontraintuitiv sein – schließlich sind diverse Kadergruppen nicht unbedingt für ihre starke feministische Praxis bekannt. Das liegt aber nicht am Prinzip des Kaders an sich, sondern an fehlender feministischer Auseinandersetzung.
Neben der besseren Organisation in einzelnen Kämpfen braucht es aber auch eine Vernetzung und Koordination zwischen den Kämpfen. Auf einer parlamentarisch-reformistischen Ebene bieten sich hier Linksparteien wie Die Linke und die KPÖ als verbindende Parteien an. Es ist zwar gut, dass es diese Parteien gibt, sie ersetzen aber keine organisierte revolutionäre Linke. Es braucht deshalb eine Diskussion darum, wie sich diejenigen Klein- und Kleinstorganisationen der Linken, die einen revolutionären Anspruch haben, verständigen können um zusammenzuwachsen. Es braucht einen Klärungs- und Vereinheitlichungsprozess, der aus der zersplitterten Linken heraus eine Organisation schafft, die dazu in der Lage ist, zur Massenorganisation zu werden und die Machtfrage zu stellen, sobald die Krisen sich so zuspitzen, dass dies möglich ist. Der erste Schritt dazu wäre herauszufinden, wer dieses Anliegen teilt.
Zusammen wachsen
In einem nächsten Schritt müssten die Bündnisse, von denen es allein in manchen deutschen Großstädten ein Dutzend gibt, zu einer dauerhaften Kämpfe-übergreifenden Koordination zwischen antikapitalistischen Gruppen und Organisationen ausgeweitet werden. Spätestens an dieser Stelle kämen in deutschen Großstädten einige hundert, in manchen Städten einige tausend Leute zusammen, und spätestens hier bräuchte es Vollzeitkräfte, die gemeinsame Kampagnen organisieren. Spätestens hier bräuchte es eine klare Arbeitsteilung, Mandate und Leitungspositionen – also einen Kader, der dabei helfen würde, weniger aneinander vorbei zu arbeiten und Ressourcen zu schonen. Es wäre ein erster Schritt hin zu einer größeren revolutionären Organisation.
Um Niedrigschwelligkeit für neue Leute zu gewährleisten und trotzdem auch hochschwellige Arbeit machen zu können, braucht es außerdem Vorfeldorganisationen. Diverse rote Gruppen machen hier bereits seit Jahren gute Arbeit mit offenen Klima-, Frauen- und antimilitaristischen Treffen. Es ist wichtig, Orte zu schaffen, zu denen man Kolleg*innen, Kommiliton*innen, Mitschüler*innen, Nachbar*innen oder die Geschwister einfach mitnehmen kann, wo man Schilder malen, diskutieren oder einfach einen Kaffee trinken kann.
Die Idee, dass wir mit dem Kleinklein aufhören und zusammenwachsen müssen, wenn wir revolutionäre Gegenmacht aufbauen wollen, ist nicht neu. Unter anderem die Interventionistische Linke hat sich auf Basis dieser Idee gegründet.
Doch leider stagniert der Prozess des Zusammenwachsens seit einigen Jahren, was einerseits an den vielen inhaltlichen Konfliktlinien liegt. Dieses Problem besteht sowohl in der postautonomen und antiautoritären Linken als auch unter roten Gruppen. Mehr konkrete praktische Zusammenarbeit könnte hier einiges lösen. Anstatt inhaltliche Positionen aus theoretischer Arbeit zu gewinnen und sich identitär gegenüber anderen Positionen abzugrenzen, sollte die theoretische Arbeit Teil von Praxis sein. Heißt: Praktische Arbeit in betrieblichen Kämpfen, in antirassistische Initiativen, feministischen Kampagnen, Stadtteilläden oder in der Klimagerechtigkeitsbewegung zu machen und sich entlang der Praxis gemeinsam theoretisch zu bilden.