Treiber des Faschismus
Die Antifa bekämpft die extreme Rechte. Aber wie wichtig ist die überhaupt für den Prozess der Faschisierung?
Von Raul Zelik

Im Oktober 1983 entführten Todesschwadronen im Auftrag des spanischen Innenministers im südfranzösischen Bayonne zwei junge Männer, folterten sie zu Tode und ließen ihre Leichen verschwinden. 1984 und 1989 wurden zwei Abgeordnete von weiteren Todeskommandos der Geheimdienste in Bilbao und Madrid erschossen. 1998 Jahre schloss die Polizei – übrigens auf Weisung eines Ermittlungsrichters, der international bis heute als Verteidiger der Menschenrechte gefeiert wird – die linke Tageszeitung Egin. 2003 folgte eine weitere Tageszeitung; ihr Chefredakteur Martxelo Otamendi wurde mehrere Tage lang von der Polizei gefoltert. Dasselbe Schicksal ereilte zwischen 1980 und 2014 mehr als 2800 Personen im spanischen Baskenland. Zudem wurden Hunderte Wahllisten, Parteien und Organisationen verboten, etwa 10.000 Menschen verloren ihr passives Wahlrecht.
Was haben diese Auswüchse, die sich im Rahmen des spanisch-baskischen Konflikts zutrugen, mit Faschisierung zu tun? Zumindest doch Folgendes: Als zentrale Merkmale jeder autoritären oder faschistischen Ordnung gelten die Aufhebung der Gewaltenteilung und der willkürliche Einsatz der Staatsgewalt. Polizei- und Geheimdienstapparate können tun, was sie für richtig halten; das Meinungs- und Organisationsrecht ist suspendiert; Regierungsgegner*innen können straflos hingerichtet werden.
Genau dieser Prozess fand, weitgehend unbemerkt und konsequenzlos, mitten in der Europäischen Union statt – unter sozialdemokratischen Regierungen, die eher zum linken Flügel ihrer Parteienfamilie gehörten.
Vier Elemente
Man kann also auf jeden Fall schon einmal Folgendes festhalten.
Erstens: Der Prozess der Faschisierung lässt sich nicht auf den Aufstieg rechtsextremer Bewegungen reduzieren, die »Demokratie« und »Rechtsstaat« vom Rand her gefährden. Viel plausibler ist, dass es sich um eine Vertiefung bestehender Herrschaftsverhältnisse handelt, bei der die Selbstbeschränkung souveräner Gewalt (die so charakteristisch ist für das Entstehen liberaler »Gouvernementalität«) angesichts einer Krise aufgehoben wird.
Zweitens: Wesentliche Voraussetzung für diesen Prozess ist eine gesellschaftliche Mobilisierung, bei der ein Konsens darüber hergestellt wird, dass in Anbetracht eines – meist inneren – Feindes Grundrechte suspendiert werden können. Die Verteidigung »der Demokratie« oder »der Staatsräson« kann bei der Herstellung dieses Konsenses sogar noch erfolgreicher sein als die Anrufung von »Rasse« und Nation. Entscheidend ist, dass exekutive, legislative, judikative und mediale Macht an einem Strang ziehen. Es ist das, was gemeinhin als »Gleichschaltung« bezeichnet wird.
Drittens: Vor diesem Hintergrund muss man der Vorstellung, bei Faschismus und Liberalismus handele es sich um Antipoden, scharf widersprechen. Viel plausibler ist, von einem Kontinuum zwischen liberaldemokratischer Normalität und faschistischer Ausnahme auszugehen, wie es der Historiker Ishay Landa ideologiegeschichtlich oder die Ökonomin Clara Mattei anhand der Wirtschaftspolitik Großbritanniens und Italiens der Zwischenkriegszeit rekonstruiert haben.
Viertens: Zentrale Treiber der Faschisierung sind nicht selten die Gewaltapparate des Rechtsstaats selbst: Polizei, Armee, Geheimdienste, Justiz. In Spanien lässt sich dieser Zusammenhang empirisch übrigens bestens nachweisen: Nirgendwo sind die Stimmanteile der rechtsextremen Vox so hoch wie in Wahlbezirken mit Wohnkasernen der Guardia Civil. Diese Beobachtung bestätigt eine zentrale abolitionistische These, der zufolge eine Voraussetzung für Emanzipation der Rückbau der staatlichen Gewaltapparate ist. Eine Verteidigung von Grundrechten mit polizeilichen Mitteln ist zum Scheitern verurteilt – was grundsätzliche Fragen zur Kampagne für ein AfD-Verbot aufwirft.
Gewiss sind diese Elemente von Faschisierung nicht deckungsgleich mit Faschismus. In einem bürgerlich geführten Ausnahmezustand, wie er in Spanien ab 1980 etabliert wurde, gibt es anders als im Faschismus immer auch ein Bemühen, zu gouvernamentalen Praktiken zurückzukehren.
Trotzdem werfen die gemachten Beobachtungen grundlegende Fragen zur Idee einer »antifaschistischen Brandmauer« auf. Nämlich: Welchen Zweck kann eine Brandmauer zwischen bürgerlicher Mitte und Rechtsextremismus erfüllen, wenn die Faschisierung gar nicht unbedingt von faschistischen Bewegungen ausgeht? Mir leuchtet schon ein, dass Kampagnen zur Isolation der AfD die Formierung eines hegemonialen Projekts von rechts erschweren und deshalb sinnvoll sind. Aber gleichzeitig stimmt eben doch auch, dass Faschisierungsprozesse tief eingelassen sind in die bürgerliche Gesellschaft und ihre ökonomische Ordnung.
Marxistische, aber auch schwarze radikale Theorien weisen seit bald einem Jahrhundert auf diesen Zusammenhang hin. Aimé Césaire hat den Nationalsozialismus in seinem Essay »Über den Kolonialismus« als einen Kolonialismus beschrieben, der nach Hause zurückkehrt. George Padmore hielt das siedlerkoloniale Südafrika für den faschistischen Staat par excellence, in dem eine Einheit von race geschaffen wurde, um die Einheit der Klasse zu verhindern. Und W. E. B. Du Bois hat nachgezeichnet, wie die plantagenkapitalistische Klasse in den USA auf die Abschaffung der Sklaverei 1865 mit einer »Konterrevolution des Eigentums« reagierte. Das Jim-Crow-System etablierte eine Ordnung, in der Schwarze straflos gelyncht werden konnten. Mitten im Verfassungsstaat USA existierte ein faschistischer »Maßnahmenstaat«, der mit dem liberalen »Normenstaat« (Ernst Fraenkel) friedlich koexistierte. Das stellt natürlich auch Positionen wie die von Maximilian Pichl (»Law statt Order«) infrage, wonach die Verteidigung des Rechts- und Verfassungsstaats eine unverzichtbare antifaschistische Strategie sei. Die Frage wäre wohl eher: Welche Aspekte des Rechtsstaats garantieren überhaupt Rechte und für wen?
Das europäische Grenzregime ist konstituierender Bestandteil jener freiheitlichen Ordnung, die wir gerade gegen die AfD verteidigen sollen.
Die US-Segregationsgesetze wurden durch Kämpfe abgeschafft, die Gewaltherrschaft dahinter besteht jedoch fort. Zwei Millionen Menschen sitzen heute in US-Gefängnissen – in erster Linie Arme, deren Klassenzugehörigkeit bekanntlich eine Modalität von race ist. Und auch in ganz anderen Kontexten ist die Entwicklung ähnlich. Allein in Brasiliens (links regiertem) Bundessstaat Bahia hat die Polizei vergangenes Jahr 1.700 Personen erschossen – mehr als in den gesamten USA. Egal, ob unter Republikanern oder Demokraten, der Arbeiterpartei PT oder Bolsonaros extremer Rechten – der Straf- und Repressionsstaat, den man als zentrales Merkmal von Faschisierung betrachten sollte, ist überall auf dem Vormarsch. Nicht Trumps Maga-Bewegung oder Bolsonaros Wahlsieg, sondern der Aufstieg des Neoliberalismus – gewissermaßen die »Konterrevolution des Eigentums« im 20. Jahrhundert – ist der Motor dieser autoritären Transformation.
Der deutsche Kontext
Was bedeutet das für den deutschen Kontext? Das europäische Grenzregime, das jährlich zwischen 2.000 und 5.000 Menschen tötet, ist konstituierender Bestandteil jener freiheitlichen Ordnung, die wir gerade gegen die AfD verteidigen sollen. In der englischsprachigen Debatte wird vor diesem Hintergrund heute über »Grenzimperialismus« und »Grenzfaschismus« debattiert – nachzulesen beispielsweise bei der kanadisch-südasiatischen Autorin Harsha Walia. Die imperiale Rechtsordnung schafft sich Zonen der Ausnahme, in denen Menschen als lebensunwert behandelt werden können.
Es kann wohl als unstrittig gelten, dass eine zentrale Achse der Faschisierung in Deutschland der Angriff auf Migrant*innen ist, wobei es hier nicht um die gutausgebildete Ärztin, sondern um die globale Armut geht, die uns als »gefährliche Klasse« entgegentritt. Diese Dimension der Faschisierung wird von der politischen Mitte und der extremen Rechten getrennt, im Wettbewerb miteinander und gemeinsam vorangetrieben. Die extreme Rechte schürt einen rassistischen Hautfarbenhass, der mit ökonomischer Nützlichkeit nur noch bedingt zu tun hat und in diesem Sinne »über das Ziel hinaus« schießt. Die politische Mitte, die mit nationaler Standortkonkurrenz argumentiert, bleibt rationaler, indem sie die Wichtigkeit der Arbeitsmigration betont. Doch gemein ist beiden, dass sie sich die globalen Armen, deren Existenz notwendiges Produkt der bürgerlichen imperialistischen Ordnung ist, vom Leib halten wollen. Der völkische und der ökonomische Verwertungsrassismus mögen sich in Konkurrenz miteinander befinden, ziehen aber doch an einem Strang.
Zentrales Bindeglied zwischen Verwertungs- und völkischer Logik ist die »moralische Panik«. Mit diesem Begriff beschrieb Stuart Hall in seinem Klassiker »Policing the Crisis« (1978) die populistisch-rechtsextreme Mobilisierung in Großbritannien. Entlang hochgespielter Gefahren (schon damals waren es jugendliche Messerstecher) wurde eine Hysterie erzeugt, die eine »Versicherheitlichung« der Innenpolitik erlaubte. Der neoliberale Rechtspopulismus verknüpfte zwei Projekte untrennbar miteinander: die Zerstörung der sozialen Daseinsvorsorge und die Kontrolle der Armut.
Eine zweite wichtige Gruppe, an der sich die Faschisierung mobilisiert, sind die »Nutzlosen«. Der neoliberale Kapitalismus produziert Überflüssige, gegen die er politisch agitiert: die Surplus-Bevölkerung. Die Unionskampagne gegen Bürgergeldempfänger*innen steht genau für diese Mobilisierung. Die »Faulen«, die angeblich auf Kosten anderer leben (was bemerkenswerterweise über Aktionär*innen nicht gesagt wird), müssen ausgestoßen werden. Daniel Loick hat das in einem Text im nd anhand einer New Yorker U-Bahn-Szene beschrieben: Der Abscheu gegenüber den Obdachlosen wachse, weil sich auf diese Weise verdrängen lasse, dass auch wir »im Handumdrehen überflüssig, arm oder pflegebedürftig werden könnten«. Faschismus, schreibt Loick, sei die Extremform des Versuchs, das zu eliminieren, was uns an unsere Endlichkeit erinnert.
Erst an dritter Stelle fällt mir bei Faschisierung der Umgang mit Protestbewegungen ein. 2021 wurde der Klimaaktivismus vorübergehend zur Zielscheibe einer eigenen »moralischen Panik«. Berufspendler*innen wurden von Springer-Presse und Co gegen Aktivist*innen mobilisiert, um vom eigentlichen Thema, der drohenden Verarmung großer Teile der Weltbevölkerung aufgrund der fossilkapitalistischen Klimakrise, abzulenken. Gegen die Letzte Generation formierte sich, oft auch spontan, ein rechter Mob, der eine noch härtere Bestrafung des Protests als die Staatsmacht selbst forderte. Heute richtet sich die Faschisierungswelle vor allem gegen Palästinenser*innen. Die moralische Panik funktioniert hier so gut, weil unterschiedliche Narrative miteinander verschmelzen: jugendliche Männlichkeit, Kleinkriminalität, Islam, Antisemitismus. Auch für Teile der Linken ein attraktives Angebot.
Als vierte Achse der Faschisierung könnte man die wachsende Bereitschaft in der Bevölkerung bezeichnen, sich an den Kriegsvorbereitungen der eigenen Eliten zu beteiligen. Auch das ist ein paradoxer Prozess, denn die Mobilisierbarkeit des grünen und linksliberalen Milieus ist hier (zumindest im Augenblick) größer als das der extremen Rechten. Das liegt zweifelsohne an den unterschiedlichen Bewertungen Russlands – die extreme Rechte identifiziert sich mit dem homophob-antifeministischen Programm Putins. Aber dennoch stimmt eben auch: Wenn sich autoritäre Prozesse dadurch auszeichnen, dass Mehrheiten bereit sind, Klassenwidersprüche zugunsten nationaler Interessen zurücktreten zu lassen, dann gehört die steigende Akzeptanz der Militarisierung in den linksliberalen Milieus zu den beunruhigendsten Entwicklungen der Gegenwart. Auch in dieser Hinsicht scheinen Faschisierung und Faschismus regelrecht entkoppelt voneinander.
Eine fünfte Achse der Faschisierung ist schließlich die rechte Mobilisierung gegen Feminismus und trans Menschen. Lia Becker hat (in einem noch unveröffentlichten Entwurf) von einer transnationalen moral panic gegen trans Menschen gesprochen und die Bedeutung dieser Panik für den rechtspopulistischen Kulturkampf hervorgehoben. Der Kampf gegen »Gender-Ideologie« und trans Rechte funktioniere als Scharnier zwischen unterschiedlichen rechten und religiösen Kräften, schreibt Becker und fügt hinzu, Faschisierung lasse sich an zwei Dimensionen festmachen: a) der Entmenschlichung minoritärer Gruppen und b) der Performativität der Gewaltausübung. Gegenüber trans Menschen würden Entmenschlichung und Grausamkeit auf besondere Weise eingeübt.
Diese fünfte Achse ist das einzige der von mir genannten Beispiele, bei dem mir eine »Brandmauer«-Strategie erfolgversprechend erscheint. In Sachen Antifeminismus gibt es, zumindest ist das mein Eindruck, einen realen Widerspruch zwischen der gesellschaftlichen Mitte und der extremen Rechten. Auf den anderen genannten Feldern gibt es wichtige Überschneidungen oder sogar vertauschte Rollen. Ein Antifaschismus, der den vielschichtigen Zusammenhang zwischen bürgerlicher Normalität und Faschisierung nicht erkennt, ist zum Scheitern verurteilt.
Dieser Text beruht auf einem Vortrag, der auf Einladung des Vereins »Transnationale Demokratie« auf dem Symposium »Demokratie und Autoritarismus« am 26. April in Frankfurt/Main gehalten wurde.