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|ak 697 | Deutschland

Europa ist unhaltbar

Die aktuelle Anti-Migrationsdebatte speist sich aus der verdrängten tiefen Krise westlich-kapitalistischer Vorherrschaft

Von Anthony Obst und Vanessa E. Thompson

Nahaufnahme von tacheldraht, im Hintergrund ist Wasser zu erkennen.
In Friedrich Merz’ Äußerungen und der Art, wie liberale Leitmedien über Migration diskutieren, zeigt sich, wie schnell sich die bürgerliche Mitte Europas dem Autoritarismus zuwenden kann. Foto: Nikolai Ulltang / Pexels

L’Europe est indéfendable.« Dieser Satz des martinischen Schriftstellers und Politikers Aimé Césaire aus seinem erstmals 1950 erschienenen Pamphlet »Über den Kolonialismus« enthält eine moralisch-politische sowie eine prophetische Komponente. Beide gewinnen vor dem Hintergrund der immer weiter eskalierenden Anti-Migrationsdebatte in Deutschland, nicht zuletzt geschürt durch ein perfides Spiegel-Cover und Friedrich Merz’ Äußerungen zu Arztbehandlungen von Asylbewerber*innen, an Dringlichkeit.

Die moralisch-politische Komponente lässt sich am ehesten mit der deutschen Übersetzung »unvertretbar« einfangen. In Anbetracht ihrer jahrhundertelangen globalen Expansions-, Ausbeutungs- und Eroberungspolitik ist es unvertretbar, dass sich europäische Regierungen anmaßen, in Zeiten des voranschreitenden Klimawandels, der weltweit Millionen Menschen zur Flucht treibt, ihre Abschottungspolitik rigoros zu verschärfen. Besonders niederträchtig ist diese Politik, weil die Klimakatastrophe maßgeblich durch den europäischen Kontinent und auf Kosten der von ihm unterjochten Menschen und Territorien vorangetrieben wurde und wird. Auch die EU-Agrarpolitik und die aufgezwungenen Freihandelsabkommen, die an vielen Orten im sogenannten Globalen Süden die landwirtschaftliche Infrastruktur zerstören, Waffenexporte und neo-imperiale Interessenpolitik des Westens zwingen Millionen Menschen zu Migration und Flucht. Europa wirkt weiterhin wie ein kolonial-imperialistischer Organismus, der kannibalisch auf Kosten derer lebt, die er gleichzeitig abstößt.

Europa wirkt weiterhin wie ein kolonial-imperialistischer Organismus, der kannibalisch auf Kosten derer lebt, die er gleichzeitig abstößt.

Dabei steht die uneingeschränkte Bewegungsfreiheit europäischer Staatsbürger*innen und weltweiter Handelsgüter außer Frage. Diese Diskrepanz verkörpert die Zweischneidigkeit der liberalen Tradition, die Europa in die Welt getragen hat. Denn diese Freiheit wird dadurch bedingt und wortwörtlich untermauert, dass an den europäischen Außengrenzen, in Lagern, Untersuchungs- und Abschiebegefängnissen Millionen Menschen aufgrund ihres Migrationsstatus in Käfige gesperrt werden. Zudem verlagert die europäische Politik durch millionenschwere Migrationsabkommen, wie jüngst in den Verhandlungen mit Tunesien, wo Geflüchtete zum Verdursten in die Wüste ausgesetzt werden, die Außengrenzen immer weiter in ehemalige Kolonien. Die Autorin Harsha Walia nennt dies eine Form des Neo-Imperialismus. Durch solche Prozesse schafft sich Europa Verbündete in seinem Kampf gegen die Migration und hält zugleich eine Konfrontation mit dem Leid, das es verursacht, auf Abstand. Die Philosophin Henrike Kohpeiß beschreibt diese jahrhundertealte europäische Affektradition als »bürgerliche Kälte«.

Eine Debatte zur Legitimation des autoritären Wandels

Wie dabei die sogenannte »Migrationsdebatte« zur Legitimation des autoritären Wandels geführt wird, ist Ausdruck einer moralischen Panik im Sinne Stuart Halls und ebenso unvertretbar. Aussagen der AfD, die unverhohlen zum Schusswaffeneinsatz gegen Geflüchtete aufriefen, haben die Grenzen des im deutschsprachigen Diskurs Sagbaren längst bis ans Äußerste verschoben. Wenn nun der Spiegel das Bild des und der Geflüchteten als Teil eines gesichtslosen Schwarms aufgreift, dann knüpft er nahtlos an diesen Diskurs an und legitimiert rassistische Auslöschungsfantasien nach dem Motto: »Das wird man ja wohl noch sagen dürfen.« Ähnlich agierte vor einigen Jahren schon die Zeit, als sie die Seenotrettung auf dem Mittelmeer in Frage stellte. Die beiden Beispiele zeigen, wie schnell sich die bürgerliche Mitte Europas dem Autoritarismus zuwenden kann. Ein Konsens zur »Begrenzung von Einwanderung« zieht sich durch nahezu alle parteipolitischen Lager. Aimé Césaire brachte diese Nähe zwischen Liberalismus und Faschismus einst zugespitzt auf den Punkt, als er schrieb, dass der Faschismus die Anwendung »kolonialistischer Methoden« auf Europa selbst sei.

Dem Prophetischen an Césaires Aussagen über Europa lässt sich über die Übersetzung von »indéfendable« als »unhaltbar« begegnen. Als Césaire in der Spätphase des europäischen Kolonialismus und während einer Hochphase des Widerstands dagegen seinen Satz schrieb, war bereits abzusehen, dass im Ausbeutungs- und Extraktionswahn der europäischen Moderne die Saat ihrer eigenen Zerstörung liegt. Verfechter*innen der Schwarzen Radikalen Tradition wie Aimé und Suzanne Césaire, W.E.B. und Shirley Graham Du Bois, Claudia Jones und viele andere erkannten schon vor Jahrzehnten, dass der Kapitalismus alles um ihn herum verschlingt. Vor allem erkannten sie, dass dabei unter dem Regime des »racial capitalism« rassifizierte und überausgebeutete Gruppen systematisch als erste diesem »Allesfresser« vorgeworfen werden.

Die wahre Krise hinter der moralischen Panik

Wie die antikolonialen Befreiungskämpfe des 20. Jahrhunderts ist auch die sogenannte »Migrationskrise« des 21. Jahrhunderts in Wahrheit eine Krise der westlichen, also euro-amerikanischen, kapitalistischen Vorherrschaft. Diese Vorherrschaft ist unhaltbar. Sie lässt sich nicht für alle Zeiten verteidigen. Dafür sind schon die Herausforderungen durch die Klimakatastrophe zu groß. Der Wunsch nach Bewahrung, der in der Frage auf dem Cover des Spiegels anklingt (»Schaffen wir das noch mal?«), ist zum Scheitern verdammt. Denn ohne eine grundlegende Neudefinition davon, wer »wir« ist und was es zu schaffen gilt, lässt sich die Frage noch so oft stellen, aber sie lässt sich nicht beantworten.

Auch Césaire merkt im »Diskurs über den Kolonialismus« bereits an, dass die westliche Zivilisation eine dekadente ist, weil sie die durch sie hervorgebrachten Probleme – das »koloniale Problem« und das »Problem des Proletariats« – nicht lösen könne. Für Césaire waren Proletarisierung und Kolonialismus unmittelbar verknüpft, wie auch sein Austritt aus der Kommunistischen Partei Frankreichs auch wegen ihrer Position zu Algerien verdeutlichte. Eine westliche Arbeiter*innenklasse, die sich dem kolonialen Problem nicht stellte, verfestigte ihm zufolge lediglich ihre Ketten, statt sie zu zerreißen.

Während die politischen Möglichkeiten, mit dieser Krise der Vorherrschaft umzugehen, nun beispielsweise vom ARD Presseclub zwischen Obergrenze und Abschottung verortet werden, gibt es in der Tat noch weitere Ansätze. Einer davon würde nach Césaire lauten: die Verteidigung Europas endlich aufzugeben. Frantz Fanon hat dies mit dem Satz »Verlassen wir dieses Europa« benannt. Das würde bedeuten, das weltweite System des Grenz-Imperialismus zu beenden und sich einer planetarisch-solidarischen Gesellschaft zuzuwenden. Hierfür gilt es in den kommenden Jahren als internationale Linke zu kämpfen, die Kämpfe der Migration als Klassenkämpfe endlich ernst zu nehmen, und echte Alternativen des sozialen Zusammenlebens zu entwickeln.

Anthony Obst

ist Kulturwissenschaftler und Doktorand an der Freien Universität Berlin. In seiner Forschung befasst er sich mit den Traditionslinien des Abolitionismus, an die er auch mit seiner politischen Arbeit anknüpft.

Vanessa E. Thompson

forscht und lehrt im Bereich der Black Studies und anti-kolonialen Theorien, mit besonderem Fokus auf Abolitionismus, an der Queen’s University, Kanada. Sie ist in transnationalen abolitionistischen Bewegungen aktiv.

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