»Was hat es gebracht?«
Caroline Braunmühl antwortet auf die zweite Wortmeldung von Burkhard Garweg, der als ehemaliges Mitglied der RAF gesucht wird

Ende letzten Jahres meldete sich Burkhard Garweg, mutmaßlich ehemaliges Mitglied der Roten Armee Fraktion (RAF) und von der Bundesanwaltschaft gesucht, mit einem Schreiben aus der Illegalität. (taz, 21.12.2024) Darin kritisierte er die Willfährigkeit der Journalisten, die zur Verhaftung von Daniela Klette geführt hatte, und verteidigte die Notwendigkeit einer antikapitalistischen, sozialrevolutionären und internationalistischen Linken. Caroline Braunmühl, Tochter des 1986 von der RAF erschossenen Diplomaten Gerold von Braunmühl, antwortete Garweg. (nd, 17.01.2025) Trotz des Schmerzes über den Tod ihres Vaters erkenne sie an, dass die Morde der RAF aus »radikalem Widerstand gegen soziale Ungleichheit, Ausbeutung und Unterdrückung« begangen worden seien. Damit widerspricht sie z.B. der Perspektive ihres Bruders Patrick und anderer Angehöriger von RAF-Opfern, die die RAF nur aus einer strafrechtlichen Perspektive betrachten – und damit entpolitisieren. Garweg wiederum antwortete Braunmühl (nd, 24.3.2025) und setzte sich kritisch mit der RAF-Geschichte auseinander. So kritisiert er die Politik der RAF in den Jahren 1977 bis 1990, in denen die Stadtguerilla auf die militärische Konfrontation mit dem Staat gesetzt und sozialrevolutionäre Kämpfe vernachlässigt habe. Im Folgenden führt ak diesen Dialog mit der Dokumentation eines Briefes von Braunmühl an Garweg fort.
Hallo Burkhard, es freut mich, dass du auf meine Stellungnahme zu deiner ersten Erklärung geantwortet hast. Und auch, wie du geantwortet hast – davon fühle ich mich ernst genommen und respektiert. Lieber hätte ich dir diesmal nicht-öffentlich geantwortet. Dann hätte einiges in meiner Antwort gestanden, das ich nicht öffentlich machen möchte, das aber zu einer Antwort auf deine zweite Erklärung eigentlich dazugehören würde. Das hat mit dem zu tun, wie ich infolge des Handelns der RAF geworden bin – und infolge der innerhalb der gesellschaftlichen Elite gegen mich gerichteten Gewalt. Patriarchale und andere Formen von Gewalt, auch körperliche, richten sich nämlich nicht nur von der Machtelite nach außen; sie sind auch in ihrem Inneren wirksam. Meine Geschichte und die der RAF hängen miteinander zusammen, und was ich (nicht) werden konnte, hat neben vielem anderen auch mit deren Handeln, mit ihren Entscheidungen zu tun.
Einiges an meiner Kritik an deiner ersten Erklärung hat sich durch deine zweite für mich erübrigt – besonders durch deine inzwischen erfolgte differenzierte Diskussion der Geschichte der RAF. Einiges bleibt für mich aber auch offen, und auf einen Teil davon möchte ich in diesem Brief eingehen.
Da jetzt eine Kommunikation zwischen uns möglich geworden ist, möchte ich dich nach der politischen Begründung für die Ermordung meines Vaters fragen. Wenn du sie mir nennen kannst – in verständlichen Worten, so, wie du deine bisherigen Erklärungen geschrieben hast und nicht in der verklausulierten, unlesbaren Sprache des Bekennerschreibens zum Mord an meinem Vater 1986. Ich meine damit, wie du die Gründe der RAF verstehst, als nicht Beteiligter – auch wenn du selbst diese Gründe falsch findest, wie ich deiner zweiten Erklärung entnehme. Du schreibst viel zur RAF, aber der Mord an meinem Vater kommt darin doch sehr kurz, auch wenn du dich kritisch dazu äußerst. Wobei eine Antwort von dir natürlich für »kriminalistische« Zwecke unbrauchbar sein müsste – vielleicht verschätze ich mich mit der Vermutung, dass sich beides gut auseinanderhalten lässt: die politische versus kriminalistische Ebene.
Warum die Ausnahme bei Buback?
»Die gezielte Ermordung von Menschen durch die RAF, mit der sie sich von anderen, zeitgleich bewaffnet kämpfenden Gruppen unterschied, war falsch«, habe ich in meiner ursprünglichen Stellungnahme, zu deiner ersten Erklärung, geschrieben. Dem widersprichst du, jedenfalls für den Mord an Generalbundesanwalt Siegfried Buback 1977. Bei diesem Mordanschlag hat die RAF auch seine zwei Begleiter getötet, was du nicht erwähnst. Das finde ich problematisch, besonders angesichts deiner Verteidigung von Bubacks Ermordung. So bleibt offen, ob du auch die Ermordung seiner Begleiter verteidigen möchtest, wenn du den Anschlag auf Buback als »eine Form legitimer Gegengewalt und Selbstverteidigung« rechtfertigst. Wolfgang Göbel und Georg Wurster waren jedenfalls nicht – wie du das von Buback selbst schreibst – »maßgeblich mitverantwortlich für die Repression der damaligen Zeit und insbesondere für seine Anordnungen der Isolationshaft und Sonderjustiz wie auch für den Mord an Holger Meins, Siegfried Hausner und Ulrike Meinhof«.
Als Angehörige eines RAF-Mordopfers könnte ich mich nicht hinstellen, einer Angehörigen Bubacks – geschweige denn einer Angehörigen eines seiner Begleiter, etwa seines Fahrers – in die Augen sehen und zu ihr sagen: Dieser Mord war berechtigt. Aber dabei geht es nicht allein um Skrupel. Mich überzeugt auch auf der argumentativen, politisch-moralischen Ebene deine Rechtfertigung der Ermordung mindestens von Buback selbst, im Unterschied zu anderen Morden der RAF, nicht. Das möchte ich hier erläutern.
Meine oben zitierte Aussage galt für die RAF, nicht für eine politisch begründete Ermordung von Menschen überhaupt: Dagegen habe ich mich nicht prinzipiell ausgesprochen. Spätestens bei Hitler würde ich dir darin zustimmen, dass der Versuch, ihn zu ermorden, berechtigt und politisch unbedingt wünschenswert war. Die Grenze zu ziehen zwischen legitimen Kontexten und Situationen und solchen, die daran nicht heranreichen, ist extrem schwierig und moralisch brisant. Wie stabil ist deine Unterscheidung zwischen der aus deiner Sicht legitimen Ermordung Bubacks und der meines Vaters, die du anders beurteilst? Worauf beruht deine Kritik an einer »Attentatspolitik« der RAF, wenn du gleichzeitig die Ermordung Bubacks rechtfertigst? Du schreibst:
»›Attentatspolitik‹ – es führt kein Weg daran vorbei, sie in der zum Dogma erhobenen Form der Praxis so zu benennen (und die RAF nannte es zu keiner Zeit so, aber der Begriff bringt die Praxis von 1977 bis 1990 nun mal auf den Punkt) (…) – konnte nicht erwirken, worum es mit revolutionärer Politik und Praxis in der Metropole geht. ›Attentatspolitik‹ ist in ihrer strukturellen Anwendung Ausdruck einer militaristischen Verselbstständigung und subjektivistischen Bewusstseins. ›Attentatspolitik‹ negiert die strukturelle Austauschbarkeit einzelner Entscheidungsträger in der bürgerlichen Demokratie, was zwangsläufig zu einem Legitimationsdefizit führen muss. [Hervorhebung C.B.] ›Attentatspolitik‹ erreicht eben zu wenig Wirkung am Bewusstsein der Gesellschaft im Aufbau revolutionärer Gegenmacht in der Metropole. ›Attentatspolitik‹ nimmt nur wenige mit und läßt die, die man erreichen möchte, als Zuschauer*innen am Rande zurück.«
Der Gewaltcharakter von Gegen-Gewalt darf nicht geleugnet und nicht beschönigt werden. Selbst ein politisch berechtigter Mord hat hohe ethische Kosten.
Warum gilt dies aus deiner Sicht nicht auch für die Ermordung Bubacks – besonders die Austauschbarkeit einzelner Entscheidungsträger? Wenn du in deiner zweiten Erklärung wiederholt von manchen, politisch begründeten Morden oder Versuchen dessen als »Selbstverteidigung« sprichst und von Bubacks Ermordung durch die RAF auch als »eine Form legitimer Gegengewalt«, scheinst du mir unterschiedliche mögliche Beweggründe für solche Morde nicht klar voneinander zu unterscheiden. Was genau meinst du mit diesen Ausdrücken? Eine Tendenz, unterschiedliche Gründe dafür miteinander zu vermischen – teils politische, teils vielleicht eher moralisch zu nennende – findet sich aus meiner Sicht im linksradikalen Diskurs über die RAF häufiger, nicht zuletzt auch im Diskurs dieser selbst. Dadurch bleibt die politische Rechtfertigung einer Ermordung von Menschen im Hinblick auf – realistische – Zielsetzungen unterbelichtet. Begründungen eher moralischer Art – wie ich die einer legitimen Selbstverteidigung verstehen würde – überdecken so die fehlende Genauigkeit in dem, was mit dem unumkehrbaren Akt eines Mordes erreicht werden soll.
Tödliche Anschläge ohne Ergebnis
Ein politisch begründeter Mord kann aus meiner Sicht nur über seine absehbare Wirkung gerechtfertigt werden – so berechnend, so kalt das klingt. Menschenleben müssen gegeneinander aufgerechnet werden – jedenfalls dort, wo es sich um politisch (Mit-)Verantwortliche für den Tod anderer Menschen handelt oder für die Gewaltsamkeit der Lebensbedingungen der meisten Menschen auf der Welt. Dieses Aufrechnen darf sich aber meines Erachtens nur auf die Zukunft beziehen, das Verhindern oder Herbeiführen einer politischen Entwicklung. Die rückblickende Frage muss lauten: »Was hat es gebracht?« Im Nachhinein betrachtet scheint doch der Tod der Opfer der RAF – auch aus der gesellschaftlichen Elite – völlig ergebnislos geblieben zu sein, außer in negativer Hinsicht, für alle Beteiligten. Die Frage ist für mich, ab welchem Zeitpunkt in der Geschichte der RAF absehbar war, dass tödliche Anschläge von ihr nichts aus linksradikaler Sicht politisch Wünschenswertes würden bewirken können. Ich bin mir der Antwort nicht sicher.
Rache oder sich zu wehren – wenn du das mit »Gegengewalt« und »Selbstverteidigung« meinst – mag zwar als Begründung für politische Gewalt legitim sein, aber nicht für das gezielte Auslöschen von Menschenleben. Nicht, weil mein Vater oder andere RAF-Opfer für die gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse, von denen du schreibst, nicht mitverantwortlich gewesen wären – wie es die hegemoniale Erzählung glaubhaft machen will. Unschuldig waren diejenigen Opfer der RAF, die der gesellschaftlichen Elite angehörten, daran nicht; sie trugen ungleich viel höhere Verantwortung dafür als die meisten Menschen. Das gilt nicht nur für Siegfried Buback. Aber zu sagen, er oder auch andere hätten es schon allein deshalb »verdient«, zu sterben, oder sie zu ermorden, sei schon allein deshalb legitim gewesen, scheint mir als Begründung eines politischen Mordes nicht genug zu sein. Dadurch ändert sich die Welt nicht. Und ist Rache, Vergeltung oder ein Zurückschlagen als Motiv nicht viel zu nah an der individualisierenden Straflogik des »Systems«? Ich möchte dir eine entsprechende Sichtweise nicht unterstellen, sondern klären, ob sie im Spiel ist oder nicht.
Es war kein Töten, sondern Mord
Von diesen Fragen abgesehen möchte ich an deiner zweiten Erklärung die Rede vom »Töten« von Menschen wie Buback oder Edward Pimental kritisieren. Dieses Vokabular – die Vermeidung des Begriffs »Mord« – empfinde ich als ausweichend und beschönigend. Wer Menschen tötet, egal wie berechtigt oder unberechtigt, muss dazu stehen, dass dies ein blutiger Akt ist – mit Konsequenzen nicht nur für die Ermordeten, sondern auch für deren Umfeld. Das klingt für mich in dem Wort »Mord« an, aber nicht in der Rede vom Töten. Der Gewaltcharakter von Gegen-Gewalt darf nicht geleugnet und nicht beschönigt werden.
Selbst ein politisch berechtigter Mord hat hohe ethische Kosten. Diese Kosten werden in der radikalen Linken in der Tat mitunter verleugnet. Obwohl die RAF in ihrer Auflösungserklärung meines Erachtens angedeutet hat, dass es solche Kosten gibt: »Unser Kampf – die Gewalt, mit der wir uns gegen die Verhältnisse stellten – hat eine schwierige, eine schwerwiegende Seite. Auch der Befreiungskrieg hat seine Schatten. Menschen in ihrer Funktion für das System anzugreifen, ist für alle Revolutionäre auf der Welt ein Widerspruch zu ihrem Denken und Fühlen – zu ihrer Vorstellung von Befreiung. Auch wenn es im Befreiungsprozeß Phasen gibt, in denen das als etwas Notwendiges gesehen wird, weil es diejenigen gibt, die die Ungerechtigkeit und die Unterdrückung wollen und die Macht, die sie oder andere haben, verteidigen. Revolutionäre sehnen sich nach einer Welt, in der niemand darüber entscheidet, wer ein Recht auf Leben und wer es nicht hat. Trotzdem hat die Aufregung über unsere Gewalt auch irrationale Züge. Denn der tatsächliche Terror besteht im Normalzustand des ökonomischen Systems.«
Ich möchte, dass Ehemalige der RAF anerkennen, was sie mir angetan haben. Und dass ich trotzdem versucht habe, mich auf die Seite der radikalen Linken zu schlagen.
Am Ende steht für mich eine Gewinn-Verlust-Rechnung, deren Grausamkeit, deren kalte Reduktion der Frage nach der Berechtigung politisch begründeten Mordens auf eine strategische Perspektive – »Was hat es gebracht?« – ich nicht so sehr selbst pervers finde, sondern deren Perversion symptomatisch ist für die Grausamkeit, die Gewaltsamkeit der Lebensbedingungen der meisten Menschen auf der Welt. Bei einem solchen Aufwiegen steht der augenscheinlichen Ergebnislosigkeit des Todes der Opfer der RAF – nicht nur aus der gesellschaftlichen Elite – der Schmerz gegenüber, den er verursacht hat; wenn auch im Lager des Feindes.
Ich möchte, dass Ehemalige der RAF anerkennen, was sie mir angetan haben. Und dass ich trotzdem versucht habe, mich auf die Seite der radikalen Linken zu schlagen – wenn auch nicht mit aller Konsequenz, und wenn auch mit anderen Vorstellungen als denjenigen, die frühere Mitglieder der RAF von Gesellschaftskritik und politisch notwendigem Handeln haben. Verluste gab es auf beiden Seiten, und ich bin es leid, dass das entpolitisiert wird. Die Toten, die Ermordeten aufseiten der RAF haben ihr Leben im Kampf für Gerechtigkeit verloren. Das ist etwas anderes, das ist weit gravierender – das erkenne ich an. Mein Verlust aber ist einer, den ich mir nicht aussuchen konnte, den die RAF mir aufoktroyiert hat. Für den Rest meines Lebens. Auch das sind »Kosten« des bewaffneten Kampfes. In der Linken werden diese Kosten gern verdrängt, psychologisiert oder als unerheblich abgetan – als etwas Unpolitisches. Es sind aber die Konsequenzen des politischen Handelns der RAF, und als solche haben sie selbst eine politische Dimension.
Als Betroffene auf der anderen Seite des bewaffneten Kampfes möchte ich in einem solidarischen Geist Zweifel in der radikalen Linken säen: Wenn die »Attentatspolitik« der RAF, wie du das nennst, in deinen Augen ein Fehler oder Irrtum war – so zum Beispiel die Ermordung meines Vaters – ist dann nicht die Möglichkeit, dass man das erst nachträglich erkennt, von einer so großen Tragweite, dass es bewaffnet Kämpfende zum Zögern bewegen sollte? Dass es sie vor dem äußersten Akt – einer Auslöschung von Menschenleben – zurückschrecken lassen sollte? Ich wünsche dir und euch, auch Daniela Klette, Freiheit. Caroline