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Im Zweifel gegen die Angeklagten

Mit harten Strafen für Lina E. und ihre drei Mitangeklagten endete der wichtigste Prozess gegen Antifas der letzten zehn Jahre

Von Carina Book

Vor einem Solidaritätsplakat für Antifaschist*innen laufen Polizisten mit einem Schäferhund Patrouille.
Als hätten sie eine Gefangenenbefreiung gefürchtet: Die Behörden fuhren vor dem Oberlandesgericht in Dresden extreme Sicherheitsmaßnahmen auf. Am Ende kam Lina E. trotzdem raus. Foto: vue.critique

Free Lina – zumindest fürs erste», das war die Nachricht, die am Abend des 31. Mai 2023 auf den zahlreichen Solidaritätskundgebungen in der Bundesrepublik die Runde machte. Zuvor hatte das Dresdner Oberlandesgericht (OLG) Lina E. unter anderem wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung (Paragraf 129 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt. Auch die Mitangeklagten wurden zu Freiheitsstrafen zwischen zwei Jahren und fünf Monaten und drei Jahren und drei Monaten wegen Mitgliedschaft beziehungsweise Unterstützung einer kriminellen Vereinigung verurteilt. Der Haftbefehl gegen Lina E. wurde unter Auflagen außer Vollzug gesetzt. »Die Haftverschonung gilt so lange, bis das Urteil rechtskräftig ist. Erst dann werden Lina E. und die drei Mitverurteilten ihre Haftstrafen antreten müssen«, erklärt Ulrich von Klinggräff, einer der Anwälte von Lina E.

Die Bundesanwaltschaft hatte den vier Angeklagten in unterschiedlichen Konstellationen die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, sechs Angriffe auf Neonazis und mutmaßliche Neonazis und in diesem Zusammenhang gefährliche Körperverletzung, Landfriedensbruch, Sachbeschädigung und räuberischen Diebstahl vorgeworfen. Für die Angriffe auf Enrico B. (Neonazi aus Leipzig) und Cedric S. (führender JN-Kader aus Wurzen) wurde Lina E. freigesprochen. Das OLG Dresden hielt sie aber für beide Überfalle auf Neonazis in Eisenach und den Angriff auf einen Kanalarbeiter in Leipzig für schuldig. Ebenso sprach das OLG ihr eine Mittäterschaft für einen Angriff auf Neonazis in Wurzen zu.

Mit seinem Urteil blieb das Gericht unter der von der Bundesanwaltschaft (BAW) beantragten Haftstrafe. Der lange Prozess, zweieinhalb Jahre Untersuchungshaft und die Vorverurteilungen durch die Presse wirkten sich strafmildernd aus. Die BAW hatte acht Jahre für Lina E. und für die drei Mitangeklagten Haftstrafen zwischen zwei Jahren und neun Monaten und drei Jahren und neun Monaten Haft gefordert. »Dass meine Mandantin Lina E. nicht derart gravierend verurteilt worden ist, wie es die völlig maßlose Bundesanwaltschaft gefordert hat, ist kaum ein Trost. Auch die Haftverschonung für meine Mandantin kann nicht vergessen machen, was sie in diesem Verfahren erleben musste«, sagt von Klinggräff.

Er und seine Kolleg*innen hatten Freisprüche in nahezu allen Anklagepunkten gefordert und in dem politischen Prozess die Anwendung des Feindstrafrechts und eine massive Beweislastumkehr kritisiert. Inzwischen haben sie Revision eingelegt.

Die Haftverschonung kann nicht vergessen machen, was meine Mandantin in diesem Verfahren erleben musste.

Ulrich von Klinggräff

Dass sie damit nicht allein sind, ist einigermaßen überraschend: Auch die Bundesanwaltschaft will eine Revision. Angesichts dessen, dass der Prozess vor allem vage Indizien und wilde Interpretationen geliefert hatte, hätte sie durchaus zufrieden sein können mit derart harten Strafen. Doch die BAW, die von Beginn an den Prozess in die Nähe eines Terrorverfahrens gerückt hatte, will es wirklich wissen.

Wie politische Justiz funktioniert, und wie auch ein Sack voll wackliger Hypothesen und Mutmaßungen nun für langjährige Haftstrafen herhalten mussten, zeigt ein Rückblick auf den bedeutsamsten Prozess gegen Antifaschist*innen der letzten zehn Jahre.

»Friedlicher Meinungskampf« in Sachsen und Thüringen?

Allein die Tatsache, dass überhaupt vor einem Oberlandesgericht verhandelt wurde, ist absurd. Denn bei den angeklagten Straftaten handelte es sich um Delikte, die auch vor einem normalen Landgericht hätten verhandelt werden können. Die Bundesanwaltschaft ist für sich genommen zuständig für die dicken Bretter: Hochverrat, Landesverrat sowie bei terroristischen Vereinigungen oder bei Straftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch. Sie kann unter bestimmten Voraussetzungen auch die Verfolgung von weiteren staatsschutzrelevanten Straftaten übernehmen. Dazu gehört beispielsweise die Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat oder die Bildung einer kriminellen Vereinigung. Entscheidend ist, ob die Tat von »besonderer Bedeutung« ist.

Und diese »besondere Bedeutung« behauptete die Bundesanwaltschaft von Beginn an. Die Angeklagten, so die BAW, hätten den »friedlichen politischen Meinungskampf« in Frage gestellt und damit eine »Gewaltspirale« angeheizt.

Wie allerdings dieser »friedliche Meinungskampf« in den vergangenen Jahren in Teilen von Sachsen und Thüringen aussah, wissen diejenigen, die von brutaler Nazigewalt betroffen waren, wohl nur zu gut. Ohne Unterlass wurden Menschen wegen rassistischer Zuschreibungen und/oder politischer Gegnerschaft angegriffen und teils schwer verletzt.

Auf Twitter beschrieb die Thüringer Linken-Politikerin Katharina König die Zustände so: »Die Berichte von antifaschistisch engagierten Leuten aus Eisenach erinnerten an die 1990er Jahre, die sogenannten Baseballschlägerjahre. Ebenso das fehlende konsequente Agieren der Verantwortlichen und Zuständigen.«

An solchen Attacken waren immer wieder Neonazis wie Leon Ringl von der Eisenacher Gruppe Knockout 51 beteiligt, die im Verfahren gegen Lina E. als Geschädigte und teils als Nebenkläger auftraten. Schon vor Jahren hätten die Behörden alles in der Hand gehabt, um gegen Knockout 51 wirksam vorzugehen. Doch darauf verzichteten sie weitestgehend. Erst nach ihren Zeugenaussagen im Prozess kam es im April 2022 zu Razzien und vier Festnahmen von Angehörigen der Eisenacher Nazigruppe, unter anderem von Leon Ringl.

Hierzu sei erwähnt, dass diese Ermittlungen gegen Knockout 51 auf das Konto des BKA gingen – nicht etwa auf das des LKA Thüringen. So berichtete es der Präsident des Thüringischen LKA, der 2022 vor einem Untersuchungsausschuss des Thüringischen Landtags zum Thema »Politisch motivierte Gewaltkriminalität« aussagte.

Wie die Bundesanwaltschaft mitteilte, werden Ringl und Co. nun beschuldigt, eine kriminelle und terroristische Vereinigung gebildet zu haben, die – wie die Bundesanwaltschaft mitteilte – spätestens seit April 2021 das Ziel »der Tötung von Personen der linksextremen Szene« hatte. Vor diesem Hintergrund erscheint die Behauptung, Lina E. und die drei Mitangeklagten hätten den »friedlichen politischen Meinungskampf« infrage gestellt und eine »Gewaltspirale« angeheizt, zynisch und die Tatsache, dass die Bundesanwaltschaft das Verfahren überhaupt an sich gezogen hat, als politisch motiviert.

Die Nazi-Zeugen

Am Dresdner Oberlandesgericht hielt man indes diejenigen, die Lina E. am liebsten tot gesehen hätten, für veritable Zeugen. Maximilian A. und Leon Ringl (beide Knockout 51) logen im Zeugenstand nicht nur astrein über ihre neonazistischen Aktivitäten, sondern machten auch interessengeleitete Aussagen, als sie plötzlich Erinnerungen präsentierten, die an die Anklageschrift gegen Lina E. angepasst erschienen. Der Zeugenstand wurde so zum Schauplatz einer Anti-Antifa-Aktion, was das Gericht aber nicht erkennen wollte.

Ergebnisse gezielter Anti-Antifa-Aktivitäten der Nazis spielten im Prozess noch öfter eine Rolle: Die als weitere Geschädigte auftretenden Neonazis Brian E. und Enrico B. sagten vor Gericht aus, dass von Neonazis erstellte Dossiers über Linke an die Soko Linx des LKA Sachsen weitergereicht worden sind. Die Soko Linx nahm diese Dossiers in ihre Ermittlungen gegen Lina E auf.

Kritische Fragen der Verteidigung, die auf die Unabhängigkeit der Ermittlungstätigkeit der Soko Linx abzielten, ließ der Vorsitzende nicht zu. In einem Wortgefecht, in dem die Verteidigung darauf hinwies, dass es durchaus Aufgabe des Gerichts sei, die Arbeit der Exekutive zu überprüfen, erklärte Richter Schlüter-Staats: »Nein, das ist es nicht. Das ist die Aufgabe der Dienstaufsicht und weiterer. Im Verwaltungsrecht ist das anders.«

Eine interessante Rechtsauffassung, denn schließlich stellten die Ermittlungen der Soko Linx die Grundlage für die Konstruktion der Gruppe um Lina E. als kriminelle Vereinigung dar. Die Verteidigung stellte daraufhin einen Befangenheitsantrag und erklärte in einer Pressemitteilung: »Ein vorsitzender Richter, der es als seine Aufgabe ansieht, die Ermittlungsergebnisse unhinterfragt in die Hauptverhandlung einzuführen und sogar der Verteidigung das Hinterfragen untersagt, ist nicht unparteilich.« Das sahen die vier Kolleg*innen des vorsitzenden Richters anders und lehnten den Befangenheitsantrag ab.

Zero out of three – die abgehörten Gespräche

Immer wieder ging es im Verfahren um die Interpretation von drei abgehörten Gesprächen. Sidenote: Dass diese überhaupt als Beweismittel zugelassen wurden, liegt daran, dass die Einzelstraftaten in einem 129-Verfahren zusammengezogen wurden. Durch das Heranziehen des Paragrafen 129 sind Überwachungen der Telekommunikation und auch die Innenraumüberwachung von Autos oder Privatwohnungen möglich, die für die einzelnen Tatbestände jeweils nicht zulässig gewesen wären.

Aus den ersten beiden der drei abgehörten Gespräche wollte die Bundesanwaltschaft herausgehört haben, dass Jannis R. und Phillip M. am Überfall auf die Nazi-Kneipe Bulls Eye im Oktober 2019 in Eisenach beteiligt gewesen sein sollen. Beide Interpretationen der BAW konnten als falsch widerlegt werden, denn durch akribische Arbeit und auch ein gutes Stück Zufall gelang es der Verteidigung, Alibi-Beweise für beide einzubringen, die eine Tatbeteiligung ausschließen.

Besonders brisant: Das Alibi von Phillip M. hätte die Verteidigung eigentlich gar nicht einführen müssen, denn die dem zugrunde liegenden Tatsachen befanden sich bereits seit 2019 in den Akten eines anderen Verfahrens, das ebenfalls von der zuständigen Oberstaatsanwältin Alexandra Geilhorn geführt wird. Die Beweislast wurde umgedreht und die Aufgabe, einen Unschuldsbeweis zu erbringen, auf die Verteidigung abgeschoben. Nur durch die Erbringung der Gegenbeweise durch die Verteidigung konnten schwerwiegende Fehlurteile in beiden Fällen verhindert werden.

»Zwar konnten wir mehrfach gravierende Fehler der Bundesanwaltschaft nachweisen. Doch ungeachtet dessen wurde in den Fällen, in denen wir einfach nicht in der Lage waren, ein Alibi zu liefern, bei extrem schlechter Beweislage abgeurteilt«, sagt von Klinggräff.

Das beste Beispiel hierfür ist der willkürlich erscheinende, brutale Angriff auf den Kanalarbeiter Herrn N. Die BAW hatte für eine Tatbeteiligung von Lina E. am Angriff auf N. nicht mehr vorzuweisen, als dass eine Frau beteiligt gewesen sein soll und dass die Tat in der Nähe des Wohnortes von Lina E. stattfand.

Das ausschlaggebende Pfund aber sollte die Interpretation der BAW eines dritten abgehörten Gesprächs sein. Hieran sollen mutmaßlich Lina E.s Verlobter, Johann G., und die Mitangeklagten Jannis R. und Phillip M. teilgenommen haben. Johann G. soll darin gesagt haben »Auf der Bornaischen Straße vor dem Zorro wurde so ein Kanalarbeiter verkloppt« und später »Das waren wir«. Jetzt ist die Frage: Wer ist »wir«? Dass es mehr mögliche Interpretationsweisen als die von der BAW favorisierte gibt, arbeitete auch ein sachverständiger Kommunikationswissenschaftler heraus. Doch das Gericht zeigte sich davon unbeeindruckt, denn es folgte – wie auch die BAW – dem, was die Verteidigung als »Bonnie and Clyde-Erzählung« bezeichnete: Wann immer Johann G. mutmaßlich tatbeteiligt gewesen sein soll, ging die BAW davon aus, dass auch Lina E. beteiligt gewesen sein müsste.

Das Gericht und die Bundeanwaltschaft folgten einer »Bonnie and Clyde-Erzählung«: Wann immer Johann G. mutmaßlich tatbeteiligt gewesen sein soll, gingen sie davon aus, dass auch Lina E. beteiligt gewesen sein müsste.

Wenn mutmaßlich Johann G. also von »wir« spricht, dann schließt das seine Partnerin in dieser Logik automatisch ein. Nun muss nicht weiter darauf eingegangen werden, wie schauerlich stereotyp diese »Logik« ist. Wichtig ist, dass diese Annahme nicht zuletzt auf den Aussagen von Johannes Domhöver, einem redseligen vermeintlichen »Kronzeugen« im Antifa-Ost-Verfahren, beruhte, über den noch zu sprechen sein wird.

Domhöver hatte ausgesagt, dass Johann G. und Lina E. in einem quasi symbiotischen Verhältnis alles gemeinsam gemacht hätten – was schon deshalb kaum glaubhaft ist, weil Johann G. sich mehrere Monate ohne seine Verlobte in Thailand aufgehalten hatte. Das aber schien für die BAW nicht von Belang. In der Urteilsbegründung führte der Senat schließlich aus, dass für ihn keine Zweifel bestünden, dass der Angriff auf den Kanalarbeiter der Vereinigung zuzuordnen sei. »Hier wurde einfach kurzgeschlossen: Als ›Beweis‹ für die Schuld meiner Mandantin hat das OLG in diesem Fall angeführt, dass die Art und Weise der Tat zu der vermeintlichen Gruppierung gepasst habe. Und die Art und Weise der vor Ort aktiven weiblichen Person habe zu der Art und Weise gepasst, wie eine Frau im anderen Zusammenhang agiert haben soll. Als ob nicht andere Personen in gleicher Art und Weise handeln könnten. Da ist nicht ein individuelles Erkennungsmerkmal, das ausdrücklich und tatsächlich zweifelsohne auf diese Gruppierung und dann auch auf Frau E. als verantwortliche Person in diesem Zusammenhang hinweist«, sagt von Klinggräff. Im Zweifel gegen die Angeklagte.

Der »Kronzeuge«

Etwa zur Halbzeit des Prozesses, als mehr als deutlich geworden war, wie überaus vage die Indizienlage der BAW war, zauberte die BAW dann im Sommer 2022 einen vermeintlichen »Kronzeugen« aus dem Hut: Johannes Domhöver, selbst Beschuldigter im Paragraf-129-Verfahren im Antifa-Ost-Komplex. Bei der Durchsuchung seines E-Mail-Postfachs waren Beamt*innen des LKA Sachsen auf eine E-Mail aus dem Jahr 2017 gestoßen, in der seine Ex-Partnerin Vergewaltigungsvorwürfe gegen ihn erhoben hatte. Die Staatsanwaltschaft eröffnete sogleich ein Verfahren gegen Domhöver. Eine gute Gelegenheit für Domhöver, sich als »Kronzeuge« anzubieten und auszusagen. Das Sexualstrafverfahren gegen ihn wurde eingestellt, und vor dem Landgericht Meiningen wurde Domhöver wegen Körperverletzung zu einem Jahr und sechs Monaten auf Bewährung verurteilt – der Vorwurf der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung wurde eingestellt. Domhöver befindet sich inzwischen im Zeugenschutzprogramm.

Zu den angeklagten Tatkomplexen konnte Domhöver jedoch wenig sagen, stattdessen gerierte er sich als Linke-Szene-Experte und warf jede Menge Hörensagen und Spekulationen in den Ring. Weil man sich ein Zeugenschutzprogramm verdienen muss, erzählte Domhöver dann von sogenannten »Szenario-Trainings« in der Leipziger Gießerstraße, bei denen Angriffe wie der auf Leon Ringl in verteilten Rollen eingeübt worden sein sollen. Dass es Domhövers vorderstes Interesse war, in den Zeugenschutz zu kommen und sich selbst eine Strafmilderung zu organisieren, veranlasste weder die BAW noch den Senat des OLG Dresden die Glaubwürdigkeit des Zeugen grundsätzlich in Zweifel zu ziehen.

Im Gegenteil wollte die BAW die Schilderungen über »Szenario-Trainings« als Beweis für die Existenz einer kriminellen Vereinigung verstanden wissen. Praktisch für die BAW, denn, wie Bundesanwältin Alexandra Geilhorn selbst zugeben musste: Es fehlte »die Smoking Gun«. Oder, wie Geilhorn ebenfalls enräumte: Man konnte »keine Satzung, kein Kassenbuch, keinen schmissigen Namen oder einen Gruppenchat« finden.

Leider ist der schlechte Witz am Paragrafen 129 seit seiner Verschärfung 2017, dass der genaue Nachweis einer Vereinigungsstruktur nicht mehr vor Gericht geliefert werden muss. Dementsprechend argumentierte die Bundesanwaltschaft, dass die gemeinsame politische Gesinnung gepaart mit Aussagen von Johannes Domhöver, der im Verfahren zum »Kronzeugen« hochstilisiert wurde, für sie ausreichend Hinweise über die Existenz dieser Vereinigung gebracht habe. Dem schloss sich das OLG Dresden nun an und verurteilte nach Paragraf 129 StGB. Geschlossene Kommunikationskreise, ein geplantes Vorgehen, die gezielte Auswahl der Opfer sowie eine erkennbare Professionalisierung und klandestines Verhalten hätten eine verfestigte Organisationsstruktur bewiesen.

Bis eine Revisionsentscheidung vorliegt, wird es wohl noch mindestens ein Jahr dauern, schätzt Anwalt von Klinggräff ein. Bis dahin bleibt Lina E. auf freiem Fuß – wobei davon eigentlich nicht im Wortsinn die Rede sein kann, denn die mediale Hetzjagd auf sie, die das ganze Verfahren begleitet und für eine krasse Vorverurteilung gesorgt hatte, geht unvermindert weiter. Linas Anwalt ist darüber empört, aber nicht überrascht: »Dass die Bild-Zeitung pünktlich vor Ort war, als meine Mandantin das erste Mal ihren Meldeauflagen nach kam, spricht Bände: Woher weiß die Bild-Zeitung in welcher Polizeidienststelle sich meine Mandantin zu melden hat? Es wäre nicht das erste Mal, dass es Durchstechereien seitens der Polizei gegeben hätte«, sagt von Klinggräff.

Dass das Prozessende auch nicht das Ende der Repression bedeutet, ist ebenfalls klar, denn das Urteil nach Paragraf 129 hat weitreichende Folgen – nicht nur für diejenigen, die in Dresden verurteilt wurden. Gilt die Existenz einer kriminellen Vereinigung erst einmal als bewiesen, könnte sich in folgenden gerichtlichen Verfahren darauf bezogen werden. Da läuft der jahrelang erfolglosen Soko Linx das Wasser im Mund zusammen. Deren Leiter sagte dem MDR bereits vor Wochen, dass sie gegen 50 weitere Beschuldigte ermittele und auch die Angriffe auf Nazis in Budapest im Februar dieses Jahres dem Antifa-Ost-Komplex zurechne.

Die Konstruktion einer kriminellen Vereinigung ermöglicht außerdem das, was auch als Vorfeldkriminalisierung bezeichnet wird, nämlich die Bestrafung von Gründer*innen oder Mitläufer*innen der Vereinigung, ohne dass diese eine konkrete Straftat begangen haben müssen. Obendrein erlaubt sie die Kriminalisierung von Außenstehenden, die für die Organisation werben oder sie unterstützen. Wenn Bundesinnenministerin Nancy Faeser nun sagt: »Unsere Sicherheitsbehörden haben die gewaltbereite linksextremistische Szene sehr genau im Blick und werden weiter konsequent handeln«, und die Behörden würden zudem die »linksextremistische Szene« in den kommenden Tagen und Wochen weiter in den Fokus nehmen, dann wird deutlich, dass mit dem Lina-E-Verfahren zwar ein komplexer, langwieriger und skandalöser Prozess zu Ende gegangen ist, dieser aber wohl erst ein Auftakt war.

Carina Book

ist Redakteurin bei ak.

Der Text ist eine aktualisierte und erweiterte Fassung des Artikels, der am Abend des 31. Mai erschienen ist.

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