analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 698 | Deutschland

… und jetzt der importierte Antisemitismus

Böller, Freibäder, Clans – im Monatstakt schaffen neue Debatten Gefahrenlagen und legitimieren rassistische Politiken

Von Simin Jawabreh

Dunkle Straßenszene, vom vorderen Auto leuchten grelle Bremslichter, im Hintergrund sind die Neukölln-Arkaden czu sehen
Immer als Ort der Gefahr markiert: Berlin Neukölln. Foto: Felipe Tofani / Flickr, CC BY-SA 2.0

Ein Bild sorgte in Deutschland zuletzt für Aufsehen. Gemeint ist ein Spiegel-Cover im Oktober, das Bundeskanzler Olaf Scholz zeigt, wie er streng in die Kamera blickt, angeleuchtet von einem Licht, das seine Konturen hart zeichnet. Dazu das Zitat: »Wir müssen endlich im großen Stil abschieben.«

Scholz ist nicht der Einzige, der rhetorisch eskaliert. Auch Ex-Minister Jens Spahn spricht öffentlich davon, »Migration mit physischer Gewalt« aufzuhalten, und Unionschef Friedrich Merz empfiehlt, sich mit den Thesen Thilo Sarrazins auseinanderzusetzen. Er fügt hinzu, dass Flüchtende aus Gaza als Asylantragsstellende abzulehnen seien, da es »genug antisemitische Männer« im Land gebe. Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil fasst den allgemeinen Duktus zum Thema Migration in der Politik wie folgt zusammen: »Mit voller Härte vorgehen!« Die medial ausgefochtenen rassistischen Kampagnen werden untermauert von Bildzeitungsberichten, die mit Titeln wie »In meinem Land ist kein Platz für gottlose Barbaren« und Bildern von Menschen mit palästinensischen Symbolen auffahren.

Sie ist wieder da, die Debatte um importierten Antisemitismus. Das ist Ausdruck eines Versäumnisses, denn Antisemitismus sollte nicht erst dann problematisiert werden, wenn er von muslimischen oder arabischen Männern kommt. Erst recht darf der Kampf gegen Antisemitismus kein Instrument dafür sein, reaktionäre Politik zu betreiben.

Skandale ohne Grundlage

Diese Form der Debatte hat schon lange Konjunktur: Von der Böller-Debatte zu Silvester über die sogenannte Freibad-Debatte diesen Sommer, Nancy Faesers »Clan-Debatte« bis zur aktuellen Berichterstattung über die Sonnenallee: Quasi im Monatstakt bricht eine neue rassistische Hysterie los, die nicht nur ideologische, sondern auch materielle Veränderung mit sich bringt. Dabei wird ein Feind konstruiert, der sowohl nach Deutschland migriert als auch als Migrant schon hier ist. Auch deswegen müsse Deutschland die Grenzen schließen und vermehrt abschieben.

Letztendlich waren alle Skandalisierungen schnell entkräftet: Im primär migrantischen Neukölln wurde zu Silvester nicht mehr randaliert als an anderen Orten in Deutschland, Zahlen zu »Gewaltdelikten« in Berliner Freibädern entpuppten sich als landesweit unterdurchschnittlich, und eine sogenannte »Clan«-Kriminalität ist statistisch irrelevant oder bezieht sich auf Delikte wie unversteuerten Shisha-Tabak oder Falschparken, die bei den permanenten Kontrollen festgestellt werden.

Dass antisemitische Straftaten vor allem dann zum Problem werden, wenn sie von Araber*innen oder Muslim*innen begangen werden, während sie bei deutschen Politiker*innen als Jugendsünden durchgehen, macht deutlich, dass wir es mit einer rassistischen Instrumentalisierung des Antisemitismusvorwurfs zu tun haben. In Zeiten ökonomischer Krisen setzt die Ampel mit ihren Statements auf eine gemachte Bedrohung, die proaktive Überwachung und Kontrolle migrantischer Menschen und Kieze kontinuierlich neu legitimiert und Abschottung gegen Migrant*innen vorantreibt.

Die gesetzliche Handhabung von Migration hat großen Einfluss darauf, unter welchen Verhältnissen die hier Ankommenden leben, nämlich illegalisiert oder nicht, politisch frei oder unfrei.

Was am Ende dieser gemachten medialen Bedrohungsdiskurse bleibt, ist eine Aufrüstung im Inneren. Der Polizeiausbau schreitet voran, sowohl qualitativ in Form von Militarisierung als auch quantitativ durch neue Polizeiwachen. Das hat mehrere Auswirkungen. Unter anderem folgt aus den Bedrohungskonstruktionen nach außen wie innen auch ökonomische Ungleichheit, die über Rassismus ideologisch legitimiert wird. So werden Menschen in Gänze als Gefahr gesehen und deshalb ihrer Freiheitsrechte beraubt. Migration wird es immer geben, sie wird durch eine restriktivere Politik nicht weniger oder gar aufhören – aber ihre gesetzliche Handhabung hat großen Einfluss darauf, unter welchen Verhältnissen die hier Ankommenden leben, nämlich illegalisiert oder nicht, politisch frei oder unfrei.

Illegalisierung und Kriminalisierung von Menschen bedeuten nicht nur politische und rechtliche Unfreiheit, sondern auch verschärfte Ausbeutung, denn dadurch genießen sie kaum Bewegungsfreiheit und sind dazu gezwungen, in illegalen Arbeitsverhältnissen über die Runden zu kommen. Grenzpolitiken sind in diesem Sinne Filtermaschinen, die Menschen mittels ihres jeweiligen rechtlichen Status’ in unterschiedliche Arbeitsverhältnisse einsortieren. Illegalisierung schafft in erster Linie billige Arbeitskräfte ohne Arbeitsschutz und Arbeitsrechte.

1.000 neue Abos für ak

Die Zeiten sind düster, der Faschismus greift wieder nach der Macht. Höchste Zeit, linke Organisierungen und Medien zu stärken. Um unsere Aktivitäten auszubauen, brauchen wir mindestens 1.000 neue Abos. Wieso dein Beitrag einen Unterschied macht, erfährst du hier.

Die Kriminalisierung wirkt zum einen von außen an den Grenzen gegen Geflüchtete und ihre Sortierung in das Arbeitsregime. Das machen etwa Vorschläge wie die des CDU-Fraktionschefs Dirk Stettner deutlich, der Geflüchtete in Deutschland zur »Integration« bei der Straßen- und Parkreinigung einsetzen will. Die Kriminalisierung wirkt zum anderen nach innen, wenn bestimmte migrantische Räume und Kieze einem Überaufgebot an Polizei, die hier Sonderrechte genießt, unterliegen und sie besonders durch Razzien und Kontrollen drangsaliert werden. Beide Verhältnisse, die durch restriktive Grenzregularien geregelte Vulnerabilisierung wie auch die polizeiliche Besatzungsmacht in migrantischen Bezirken, werden über diese moralischen Paniken stabilisiert. Die aktuelle Grenzverteidigung begleitet das Leben migrantischer Menschen bis vor die Haustür.

Rechtfertigungsmuster, die sich auf vermeintliche kulturelle Besonderheiten berufen, um eine besondere Härte gegenüber jungen Männern zu begründen, da diese aus einer gewalttätigen Kultur kämen und die Strafe sonst nicht spüren würden, stehen dabei schon lange verschriftlicht in Konzepten wie dem »Neuköllner Modell« oder der Neuköllner »Strategie der 1.000 Nadelstiche«. Ersteres beschrieb ein verkürztes Jugendstrafverfahren für Neukölln, das nicht verstetigt werden konnte. Letztere Strategie begründet vermehrte Polizeirazzien, beispielsweise in migrantischen Cafés auf der Sonnenallee, und andere gewaltsame staatliche Machtdemonstrationen.

Ein neuer Gesetzesentwurf der Bundesregierung soll Abschiebungen von Menschen ermöglichen, die dem Bereich »Organisierter Kriminalität« zugeordnet werden – ein Straftatbestand muss nicht vorliegen.

Allein die Formulierungen der Strategien erinnern an koloniale Rechtfertigungsmuster, die biologistische Bilder der »schwer erziehbaren« und damit »zu zivilisierenden« Gruppen zeichneten. Daher ist es auch nicht abwegig, dass in dieser Kontinuität des Neuköllner Modells nun – wie die Bild-Zeitung es tat – von »Barbaren« im Innern geredet wird, denen nun politische Grundrechte wie das Demonstrationsrecht entzogen werden.

Ein neuer Gesetzesentwurf der Bundesregierung soll zudem Abschiebungen von Menschen ermöglichen, die im Bereich »Organisierter Kriminalität« gefasst werden – ein tatsächlicher Straftatbestand muss nicht vorliegen. Damit können all jene, die unter dem Bereich »Clan-Kriminalität« gefasst werden, theoretisch abgeschoben werden. Die rassistische Dimension dieser Kategorie wurde schon vielfach kritisiert – etwa dafür, dass sie willkürlich Menschen mit ähnlichen arabischen Nachnamen als »Clan-Kriminelle« einordnet.

Moralisch überhöhtes Selbstbild

Es ist erstaunlich, dass politische Vetreter*innen dieses Landes, in welchem ein industrieller Massenmord an sechs Millionen Juden und Jüdinnen vollzogen wurde, es wagen zu behaupten, Antisemitismus sei etwas, das von außen komme. Dass Antisemitismus tödlich und damit bedrohlich ist, steht außer Frage. Wenn es jedoch Politiker*innen tatsächlich um die Bekämpfung von Antisemitismus ginge, hätten die letzten Jahre in diesem Land anders ausgesehen: Als Corona-Leugnende mit Reichsflaggen durch deutsche Städte zogen und »Juden-Presse« skandierten, als eine rechtsextreme Chatgruppe nach der anderen in der Polizei aufgedeckt wurde oder als ein Politiker wie Hubert Aiwanger mit erheblichen Stimmenzuwächsen dafür belohnt wurde, dass er in seiner Jugend antisemitische Flugblätter verteilt hatte. Ganz zu schweigen davon, dass Nazis in Verfassungsschutzämter gehievt wurden und der Reichtum einer Reihe großer deutscher Firmen auf jüdischer Zwangsarbeit beruht.

Wer den Kampf gegen Antisemitismus führt, weiß, dass auf den Staat kein Verlass ist. Wie ernst können Regierende den Kampf gegen Antisemitismus meinen, wenn sie im aktuellen Haushaltsplan massive soziale Einsparungen vornehmen, die auch Bildungsinstitutionen gegen Antisemitismus treffen?

Die aktuelle Debatte erfüllt damit auch einen anderen Zweck: Sie externalisiert eine gesellschaftliche Bedrohungslage auf ein vermeintlich homogenes Äußeres, inszeniert sich damit selbst als moralisch überlegen und schafft so ein nationales homogenes Selbstbild. Um so wichtiger sind solidarische Allianzen, die im Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus vereint zusammen kämpfen.

Simin Jawabreh

absolviert gerade ihren Master in Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin. Jawabreh arbeitet an der Humboldt Universität Berlin im Lehrbereich Theorie der Politik, in der politischen Bildungsarbeit und ist antirassistisch organisiert. Sie beschäftigt sich mit abolitionistischen Theorien, Dekolonialismus und Marxismus.

Unterstütz unsere Arbeit mit einem Abo

Yes, du hast bis zum Ende gelesen! Wenn dir das öfter passiert, dann ist vielleicht ein Abo was für dich? Wir finanzieren unsere Arbeit nahezu komplett durch Abos – so stellen wir sicher, dass wir unabhängig bleiben. Mit einem ak-Jahresabo (ab 58 Euro, Sozialpreis 38 Euro) liest du jeden Monat auf 36 Seiten das wichtigste aus linker Debatte und Praxis weltweit. Das Probeabo pausiert für die Dauer unserer Abokampagne, danach bieten wir es wieder an.