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Völkerrechtlich kompatibel

Die Türkei greift Kurdistan erneut an, auch mit Unterstützung der irakischen Regierung

Von Dastan Jasim

Karte über die militärischen Aktivitäten der Türkei im rahmen der aktuellen »Operation Klauenschloss«: CPT Iraq

Während für die einen der Frühling in Kurdistan vor allem Assoziationen mit grünen Berglandschaften und fröhlichen Volksfesten weckt, hört die kurdische Bevölkerung aller vier Teile Kurdistans im Frühjahr genau in die Berge, denn in eben dieser Saison ist es der türkische Staat, der Jahr für Jahr seine Invasionen neu aufflammen lässt. Diese militärischen Operationen, die im Türkischen als »Pençe Operasyonları« (»Klauenoperationen«) bekannt sind, weil sie illustre Namen wie »Operation Klauenadler und Tiger« (Juni bis September 2020), »Operation Klauenblitz und Donnerkeil« (April 2021 bis April 2022) und zuletzt »Operation Klauenschloss« (seit April 2022) tragen, haben in den letzten Jahren ein gigantisches Ausmaß an ökologischer und menschlicher Zerstörung hinterlassen.

Die in der Kurdistan Region Irak (KRI) ansässigen Community Peacemaker Teams (CPT) haben in ihrem 2021 veröffentlichten Report über die Operationen festgehalten, dass Hunderte Hektar Land zerstört und mindestens 1.500 Zivilist*innen aus ihren Dörfern vertrieben wurden. Viele von ihnen sind Bäuer*innen, die ohnehin kaum gegen die billige Agrarproduktion der Türkei und des Iran ankommen können und deren Lebensgrundlage damit zerstört ist.

Noch schlimmer ist es für diejenigen, die es dann ganz direkt trifft, die getötet oder verstümmelt werden, wie beispielsweise die Familie von Payman Talib und ihrem Mann Karwan, die 2020 bei türkischen Luftangriffen im touristisch vielbesuchten Kuna Masi direkt bei ihrem Laden von einem Luftangriff getroffen und gemeinsam mit ihren zwei Kindern schwer verletzt wurden. Dutzende weitere Todesopfer und Verletzte zählt dieser Angriffskrieg seit 2020, und auch dieses Jahr wird das wahre Ausmaß der Zerstörung wohl erst mit einigen Monaten Verspätung den Weg in die Öffentlichkeit finden, da Journalist*innen und NGOs der Zugang in die von der Türkei angegriffenen Gebiete rund um Avashin, Zap und Kurazharo kaum gewährt wird.

Seit 2016 fokussiert sich der türkische Krieg gegen die kurdische Bevölkerung ganz besonders auf den vom Irak besetzten Teil Kurdistans.

Seit 2016 fokussiert sich der türkische Krieg gegen die kurdische Bevölkerung ganz besonders auf den vom Irak besetzten Teil Kurdistans. Dort bombt die Türkei schon seit 1983 mit Genehmigung der irakischen Regierung und der mit ihnen alliierten Demokratischen Partei Kurdistans (KDP), hat aber besonders nach dem eigenen grausamen Krieg gegen die Städte des türkisch-besetzten Kurdistans in den Jahren 2015 und 2016 den Krieg externalisiert. Ja, korrekt: Die irakische Regierung erlaubt seit dem Saddam-Hussein-Regime der türkischen Armee, Kilometer um Kilometer in das besetzte Kurdistan einzufliegen, um kurdische Gebiete zu bombardieren. Laut CPT sind es derzeit ganze 19 Kilometer, in die die Türkei in Südkurdistan eingedrungen ist.

Dies geschieht übrigens mit eifriger militärischer und politischer Unterstützung des Westens, wie erst kürzlich in einem Podcast des Modern War Institute im Zusammenhang mit der No-Fly-Zone-Debatte zum Ukrainekrieg diskutiert wurde. Die allererste No-Fly-Zone, die 1991 im Norden des Irak, also in Südkurdistan, im Kontext der »Operation Provide Comfort« ausgerufen wurde und die dortige Autonomie de facto begründete, war nämlich laut dem im Podcast interviewten und damals eingesetzten Colonel Mike Pietrucha gar keine wirklich 24-stündige No-Fly-Zone, sondern eine, in der die Türkei jede Nacht ca. vier Stunden bekam, in denen sie vermeintliche PKK-Positionen angreifen konnte. Das bedeutet, dass selbst während des Bestehens dieser No-Fly-Zone, die auf völkerrechtlicher Basis, nämlich der UN-Resolution 688 ausgerufen worden war, der Krieg gegen die PKK oberste Priorität hatte und sich von Saddam bis zu den Westmächten alle einig waren, dass dieser Luftraum definitiv der Türkei gehöre.

Alles nach »Recht und Ordnung«

Vor diesem Hintergrund scheint es umso befremdlicher, dass die gebetsmühlenartigen Verweise auf das Völkerrecht in Verurteilungen des türkischen Angriffskriegs auf Kurdistan durch linke Gruppen immer und immer wieder Vorrang haben, wie auch meine Genossin Nelli Tügel im Kontext des Ukrainekriegs festgestellt hat. Völkerrecht als oberstes Gegenargument gegen türkische Invasionen eines in vier Teile geteilten und regional wie international kolonialisierten Volkes ohne eigenen Staat zu nennen, ist makaber. Das wissen wir eigentlich schon etwa seit Hannah Arendt, die sich fragte, wie Völkerrecht von Staatenlosen oder nicht durch Staaten repräsentierte Völker eingeklagt werden soll.

Wenn sich spätestens seit dem bald 100 Jahre alten Vertrag von Lausanne von den Westmächten bis zur Türkei, Iran und den späteren Staaten Irak und Syrien alle einig waren, dass nicht nur Kurdistan, sondern das kurdische Volk nicht existiert, auf welcher Basis soll dann im Jahre 2022 eine Argumentation gegen die Türkei auf dem Völkerrecht aufbauen, genau dem Recht also, das dem kurdischen Volk von Anfang an verwehrt wurde? Zu welchem Unsinn der Bezug auf das Völkerrecht führen kann, zeigte sich exemplarisch erst kürzlich an einem Tweet von Tilo Jung, seines Zeichens Relativierer des Krieges in Artsakh und Kurdistan, wonach der türkische Krieg völkerrechtlich sogar in Ordnung sei, da der Irak die Angriffe ja erlaube.

Es geht hier ganz sicher nicht um einen Angriff auf den Irak, der Irak ist in diesem Fall Mittäter, wie übrigens auch parallel im gewaltsamen Angriff der irakischen Armee auf die lokalen ezidischen Selbstverwaltungsstrukturen Shengals, die der Türkei ebenfalls ein Dorn im Auge sind. Der Premierminister Mustafa Al-Kadhimi wurde selbst 2020 zum großen Staatsbesuch in Erdogans Palast eingeladen, wo allen weiteren Operationen der Türkei sowie der irakischen Unterstützung der türkischen Operationen gegen die kurdische Freiheitsbewegung grünes Licht gegeben wurde. Es geht ganz konkret um einen seit 100 Jahren währenden Krieg der Türkei gegen jegliche Form von unabhängiger und echter selbstständiger kurdischer oder ezidischer Selbstverwaltung. Diese Form der Selbstverwaltung und Selbstverteidigung hat das Völkerrecht für die betroffenen Gruppen, deren politische Selbstverwaltung nicht unter die vom Völkerrecht anerkannten Subjekte fällt, selbst nie vorgesehen oder eingeklagt. Für eine linksliberale Szene, die den Irak als bloßes Opfer sieht und außer »Irak Krieg 2003 war völkerrechtswidrig« keine neueren Positionen zum Land bieten kann, ist das alles natürlich nur eine Randnotiz.

Für Selbsbestimmung – egal wo

Dabei kann sich eine ernstzunehmende Linke eine solche inhaltliche und thematische Ahnungslosigkeit gerade jetzt nicht leisten, da eine regelrechte Nachrichtensperre über die von den türkischen und irakischen Angriffen betroffenen Gebiete verhängt wurde. Es sind wenige Stimmen von mutigen örtlichen Journalist*innen , die in Deutschland Anklang finden sollten. Stimmen, die den herrschenden Mächten ein Dorn im Auge sind, wie im Falle von Marlene Förster und Matej Kavčič, die weiterhin in irakischer Gefangenschaft sind.

Der Krieg der Türkei kann noch auf unbestimmte Zeit weitergehen, und während Südkurdistan unter Beschuss ist, werden weiterhin Positionen in Westkurdistan angegriffen sowie kurdische Repräsentant*innen verprügelt, verhaftet oder getötet. Gerade das macht doch deutlich: Angegriffen werden hier nicht Irak und Syrien, sondern Kurdistan und jedes andere territorial-politische Konstrukt, das es wagt, jenseits der herrschenden Mächte eine Form von Selbstverwaltung zu beanspruchen. Für sie hat das Völkerrecht kaum etwas zu bieten. Zeit also, die Forderungen richtig zu stellen: Wir verurteilen nicht den Angriffskrieg, weil er völkerrechtswidrig ist, wir verurteilen den Krieg der Türkei und des Westens gegen die Selbstbestimmung der Völker – egal ob in Kurdistan oder anderswo.

Dastan Jasim

ist Politikwissenschaftlerin und Doctoral Fellow am German Institute for Global and Area Studies. Gerade ist sie in Sulaimaniya in der Kurdistan-Region Irak, wo sie Feldforschung zu ihrem Dissertationsprojekt über die politische Kultur von Kurd*innen durchführt.