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Ein neues Fundament

Das AKP-Regime hat Profiten der Bauindustrie viele Leben geopfert – Hilfe kommt von anderen

Von Svenja Huck

Eine Frau läuft nach dem verherrenden Erdbeben über ein eingestürztes Dach in der türkischen Stadt Hatay. Foto: Murat Bay

Es sind noch lange nicht alle Verschütteten aus den Trümmern geborgen, die das Erdbeben im Südosten der Türkei und dem Norden Syriens am 6. Februar hinterlassen hat. Die Hoffnung, weitere Überlebende zu finden, ist versiegt. Die Zahl der registrierten Toten wird wahrscheinlich auf über 100.000 steigen. Jede*r Einzelne von ihnen war ein Mensch mit Plänen für die Zukunft, mit Freund*innen und Angehörigen und dem Wunsch, ein glückliches Leben zu führen.

Diese Leben wurden nicht allein durch die Verschiebung von tektonischen Platten beendet. Während das Beben eine Auswirkung der massiven Spannung war, die zwischen den Erdplatten über Jahrhunderte aufgebaut wurde, ist sein tödlicher Effekt das Ergebnis einer gesellschaftlichen Spannung. Die Konflikte in der Türkei spitzen sich seit Jahren immer stärker auf den Gegensatz Profit versus Überleben zu. Naturkatastrophen fördern dies umso deutlicher zu Tage.

Das Risiko für ein starkes Erdbeben in Regionen wie Kahramanmaraş, Hatay und Şanlıurfa ist profitgierigen Bauunternehmer*innen hinreichend bekannt. Auch die AKP-Regierung war über das Risiko informiert, als sie 2018 im Parlament eine Amnestie für illegal errichtete Bauten beschließen ließ. Damals warnte der HDP-Abgeordnete Garo Paylan die Verantwortlichen vor der Gefahr für Millionen von Menschen, die in brüchigen Gebäuden wohnen. Nachdem die für die Inspektion der Gebäudesicherheit zuständigen Einrichtungen unter der AKP zunehmend privatisiert wurden, besteht kaum mehr öffentliche Kontrolle über das grundlegende Recht auf eine sichere Unterkunft.

Da sich das türkische Regime von Hoffnungslosigkeit und Unterdrückung solidarischer Selbstorganisierung nährt, betrachtet es die lebensrettende gesellschaftliche Mobilisierung als Gefahr.

»Wo ist der Staat? Der Staat hat uns im Stich gelassen!«, war nach der Katastrophe vom 6. Februar vielfach verzweifelt aus den Erdbebengebieten zu hören. Es wurden nicht genug Such- und Rettungsteams der Katastrophenschutzbehörde AFAD entsendet. In einigen Bezirken ist bis heute keine staatliche Hilfe angekommen. Auch die Armee wurde nicht umgehend mobilisiert, erst nach einigen Tagen wurden einige Tausend Soldaten in die Region geschickt. Doch anstatt konkrete Maßnahmen zu ergreifen, sollen sie lediglich staatliche Präsenz signalisieren, berichten freiwillige Helfer*innen vor Ort. Währenddessen konzentriert sich die staatliche Führung auf ihren Propagandaapparat, auf die Einschüchterung ihrer Kritiker*innen sowie die Akkumulation neuer Gewinne.

Wenn man von einem Staat erwartet, dass er für die Sicherheit und Versorgung seiner Bürger*innen sorgt, muss man von einem Staatsversagen sprechen. Doch versteht man den Staat als ein Instrument, der die Profite einiger weniger garantiert – in diesem Fall der Bauindustrie – kann man festhalten, dass er ganze Arbeit geleistet hat. Die staatlichen Aufgaben – Rettung, Versorgung mit Lebensmitteln, die Organisierung von Sanitäranlagen und Unterkünften, Sicherheit vulnerabler Gruppen, Kommunikation – wurden seit der ersten Minute von linken und zivilgesellschaftlichen Organisationen, der lokal vernetzten Bevölkerung und den von der Opposition regierten Stadtverwaltungen übernommen. Die staatlichen Strukturen, die sich als nutzlos und sogar als hinderlich herausstellten, verloren dadurch in den Augen vieler ihre Legitimation. Auch deshalb sucht die AKP nun nach Wegen, die für Mai angedachten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen zu verschieben.

Die riesige Solidaritätsbewegung, die sich nach dem Erdbeben in der Türkei ausbreitete und bis heute anhält, ist der Hoffnungsschimmer in dieser Katastrophe. Doch da sich das Regime von Hoffnungslosigkeit und Unterdrückung solidarischer Selbstorganisierung nährt, betrachtet es die lebensrettende gesellschaftliche Mobilisierung als Gefahr. Noch sind die Linken damit beschäftigt, Zelte, Essen und Toilettencontainer zu organisieren. Doch sie tragen die bunten Westen ihrer politischen Organisationen, während sie Suppe verteilen. Es sind jene Parteien und Aktivist*innen, die der Staat mit allen Mitteln als Terroristen brandmarken will. Was geschehen wird, wenn die Trümmerberge abgetragen sind, ist offen. Doch klar ist: Nicht nur die neu zu errichtenden Gebäude brauchen ein sicheres Fundament, auch die Gesellschaft muss grundlegend neu errichtet werden.

Svenja Huck

ist freie Journalistin, Historikerin und Übersetzerin. Ihre Schwerpunkte sind Arbeitskämpfe und die politische Opposition in der Türkei.

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