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Kommt ein heißer Herbst?

Die Preise steigen, die kommenden Tarifrunden können aber nur als Motor einer breiten sozialen Bewegung dagegen angehen

Von Jörn Boewe

Keine römische Legion, sondern streikende Hafenarbeiter*innen, Demonstration in Hamburg, Juli 2022. Foto: Foto: Inés In/Klasse gegen Klasse

Olaf Scholz findet es »nicht ok«, dass manche Unternehmen im Zuge der Energiepreisrallye Rekordgewinne einfahren. Das ist gut zu wissen, aber die Budgets der privaten Haushalte werden dadurch nicht entlastet. Die Inflation zieht an, wie man es seit der Ölkrise 1973 nicht erlebt hat. Wie immer sind Gering-  und Normalverdiener*innen überproportional betroffen. Sie müssen einen Großteil ihrer Einkünfte für Energie, Mieten und Lebensmittel ausgeben. Die Nettokaltmieten sind seit 2015 etwa um zehn Prozent gestiegen –  im bundesweiten Durchschnitt, inklusive Bestandsmieten; bei Neuvermietungen in Großstädten sieht es weit dramatischer aus. Und die Energiepreise für Endverbraucher*innen sind im Vergleich zum Vorjahr bislang allein um 38 Prozent gestiegen, Lebensmittel sind um 12,7 Prozent teurer geworden.

Kann die Tarifpolitik der Gewerkschaften darauf eine angemessene Antwort geben? In welchem Maße kann sie dem Teuerungsschub für die Haushalte von Lohnabhängigen etwas entgegensetzen? Und könnten die anstehenden gewerkschaftlichen Entgeltrunden mit ihren erwartbaren Warn- und womöglich auch Erzwingungsstreiks so etwas wie der Motor oder Kristallisationskern einer breiteren Bewegung von Sozialprotesten sein?

Insgesamt standen und stehen in diesem Jahr Entgeltverhandlungen für knapp zehn Millionen Beschäftigte an. Das ist etwa die normale Größenordnung jährlicher Tarifverhandlungen. Im vergangenen Jahr waren es rund zwölf Millionen. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten insgesamt liegt rund dreimal so hoch – aktuell bei 34,3 Millionen. Gewerkschaftliche Tarifverhandlungen erfassen in diesem wie in jedem Jahr nur eine Minderheit der Lohnabhängigen – anders als die Preissteigerungen, von denen alle betroffen sind.

Für die überwiegende Mehrheit ist also in diesem Jahr tarifpolitisch nichts zu holen. Das soll kein Argument gegen gewerkschaftliche Aktion sein – es ist zunächst einfach mal Fakt. Ein Grund dafür ist, dass in diesem Jahr einige große Branchen in der Friedenspflicht sind. Ihre Tarifverträge laufen noch mindestens bis zum Jahresende oder darüber hinaus. Das gilt etwa für die 2,7 Millionen Beschäftigten im Öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen, 633.000 Beschäftigte im Bauhauptgewerbe, einige Hunderttausend im Einzelhandel und einige Zehntausend im Kfz-Handwerk, genau wie für 152.000 private Wachschutzleute und 140.000 Postbeschäftigte.

Könnten die anstehenden gewerkschaftlichen Entgeltrunden mit ihren erwartbaren Warn- und womöglich auch Erzwingungsstreiks so etwas wie der Motor oder Kristallisationskern einer breiteren Bewegung von Sozialprotesten sein?

Viel schwerwiegender als die Friedenspflicht wiegt aber ein anderes Problem, nämlich die seit Jahrzehnten sinkende Tarifbindung. Nur noch 51 Prozent der Beschäftigten werden überhaupt von Tarifverträgen (Branchen- oder Firmentarifverträgen) erfasst – zum Vergleich: 1998 waren es noch 73 Prozent. In Ostdeutschland ist die Tarifbindung mittlerweile auf 43 Prozent aller Beschäftigten abgesackt. Dieser Sinkflug hat sich zwar in den letzten Jahren etwas verlangsamt. Eine Trendwende ist aber längst nicht in Sicht.

Bisherige Abschlüsse

Zeigen die bisherigen Abschlüsse des Jahres eine Tendenz auf? Wenn, dann besteht sie wohl darin, dass die Gewerkschaften nach zwei Jahren Verzicht überhaupt wieder auf Erhöhungen in den Lohntabellen setzen. Während der zwei Pandemiejahre hatte es in vielen Branchen einen Schwenk zu Einmalzahlungen (»Corona-Prämien«) gegeben, die eine tolle Sache gewesen wären, hätte man sie »on top« vereinbart. Stattdessen flankierten und kaschierten sie aber in weiten Teilen die mehr oder weniger erzwungene Lohnzurückhaltung. Es liegt auf der Hand, dass Einmalzahlungen allenfalls kurzfristige Mehrbelastungen ausgleichen können, aber angesichts dauerhaft steigender Lebenshaltungskosten praktisch nichts bringen.

Dieses Jahr gab es bereits ein paar Abschlüsse, die eine Kurskorrektur andeuten. 12,5 Prozent Lohnplus in der untersten Lohngruppe der Gebäudereinigung konnte die IG BAU im Juni durchsetzen. Einen solchen Abschluss hatte die knapp eine halbe Million Beschäftigte umfassende Branche noch nie gesehen. Klar: Gebäudereinigung ist Niedriglohnsektor, es geht um viel Prozent von wenig Euro. Von 11,55 auf 13 Euro steigen die Löhne zum 1. Oktober – nicht zufällig dem Stichtag, an dem auch der gesetzliche Mindestlohn von 10,45 auf 12 Euro steigen wird. Hauptgrund für die relativ schnelle Einigung war schlicht und einfach, dass die Reinigungsfirmen Angst hatten, dass ihnen die Leute wegrennen. »Ich schwitze nicht für Mindestlohn!«, war das Motto der kurzen, aber kraftvollen Tarifkampagne. Und offensichtlich kam die Botschaft bei den Unternehmen an.

Auf einem deutlich höheren absoluten Niveau konnte die IG Metall im Juni in der Stahlindustrie für rund 88.000 Beschäftigte ein Plus von 6,5 Prozent vereinbaren. Das war der höchste prozentuale Abschluss seit 30 Jahren, wie die Organisation stolz betonte. Aber was wird davon übrig bleiben, wenn die Inflation übers Jahr bei 7,5 Prozent oder höher liegt? Am Ende wird der Rekordabschluss ein Baustein zur Schadensbegrenzung sein, der einen – zweifellos relevanten – Teil des Kaufkraftverlustes abfedern, aber den Reallohnverlust unterm Strich nicht verhindern konnte.

Insgesamt ist der tarifpolitische Trend des Jahres bislang aber keineswegs eindeutig. In der Chemieindustrie vereinbarte die IG BCE für gut eine halbe Million Beschäftigte im Frühjahr lediglich eine Einmalzahlung (1.400 Euro), über eine eventuelle Erhöhung der Lohntabelle soll im Oktober nochmal verhandelt werden. Und für die 835.000 Leiharbeiter*innen vereinbarte die DGB-Tarifgemeinschaft in den untersten beiden Entgeltgruppen – also jenen, die in den meisten Leiharbeitsverhältnissen angewendet werden –  Löhne, die ab Oktober knapp oberhalb des gesetzlichen Mindestlohns liegen. Für Sven Schwuchow, einen der führenden Unternehmerfunktionäre der Branche, war damit schon »der obere Rand des gerade noch Vertretbaren erreicht«.

IG Metall muss ernst machen

Die wichtigste Tarifrunde überhaupt steht in diesem Herbst allerdings noch ins Haus, und hier reden wir sozusagen von der Champions League der Tarifpolitik. Es geht um die rund 3,8 Millionen Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie – mit hoch organisierten Automobilfabriken einschließlich ihrer Zulieferer und dem für die deutsche Volkswirtschaft strategisch wichtigen Maschinen- und Anlagenbau. 8,0 Prozent fordert die IG Metall. Was in »normalen« Zeiten offensiv geklungen hätte, kann 2022 bestenfalls auf einen Inflationsausgleich hinauslaufen.

Aber immerhin, auch der wird niemandem geschenkt und muss erkämpft werden. Damit ist in der Tat auch zu rechnen, denn wie eine im Frühsommer angeschobene Beschäftigtenumfrage zeigt, ist die Stimmung in den Betrieben der Branche durchaus kämpferisch. Was kein Wunder ist, denn die letzte Tabellenerhöhung für die Metaller*innen gab es, sage und schreibe, im April 2018. Zwar erzielte die IG Metall in den Jahren danach eine Reihe innovativer und bedeutender Tariferfolge – etwa Einmalzahlungen mit Wahloptionen für zusätzliche Freizeit  – aber eben keine Erhöhung der Grundentgelte. Bedenkt man, dass sich die kumulierte Inflation von Anfang 2018 bis Ende 2021 auf 6,8 Prozent beläuft und Ende 2022 wohl  um die 15 Prozent liegen wird, kann man ungefähr nachvollziehen, was für eine Stimmung sich an der IG-Metall-Basis zusammenbraut. Denn im Unterschied zu den meisten Beschäftigten in diversen Niedriglohnbranchen haben die Metaller*innen jede Menge guter Voraussetzungen, ihre Ziele auch durchzusetzen – angefangen von ihrer »Produktionsmacht«, über ihren vergleichsweise hohen Organisierungsgrad bis hin zu Kampferfahrungen vieler Belegschaften, was sie in den letzten Jahren auch immer wieder gezeigt haben.

Mehr Bewegung wagen

Die heiße Phase der Metall-Tarifrunde fällt  im Oktober/November in den Beginn der Heizperiode. Ob das etwas zu bedeuten hat, wird sich zeigen. Kommt es zu Straßenprotesten gegen die steigenden Energiepreise, hat die IG Metall die Chance, die Legitimität solcher Proteste zu verteidigen und sie womöglich mit ihrer eigenen Tarifbewegung zu verbinden. Was ja nahe liegt, denn Automobilarbeiter*innen und Ingenieur*innen müssen heizen wie andere auch. Und zugleich würde die Gewerkschaft damit auch ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung als demokratische Massenorganisation gerecht werden, denn wo sie das organisierende Zentrum des Protests wäre, hätten Verschwörungsfans und Rechte deutlich weniger zu melden.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser wird jedenfalls seit Wochen nicht müde, vor »radikalen Protesten« aufgrund gestiegener und weiter steigender Energiepreise zu warnen: Es geht um »Extremisten«, »Populisten« und »diejenigen, die schon in der Coronazeit ihre Verachtung gegen die Demokratie herausgebrüllt haben«. Das Framing steht fest, es ist erprobt und muss nur aus der Redaktionsschublade geholt werden.

Und das wird definitiv geschehen – ganz egal wie wichtig oder unwichtig der Einfluss irgendwelcher rechter Kräfte auf die kommenden Proteste sein wird. Gewerkschaften und Linke dürfen sich davon nicht einschüchtern und instrumentalisieren lassen. Sie sollten sich »mit konkreten, lebensnahen Antworten auf die soziale Krise ins Getümmel stürzen«, wie Linkspartei-Vize Lorenz Gösta Beutin im nd schreibt. Aber sie sollten sich auch mit dem Gedanken anfreunden, dass vermutlich nicht sie an der Spitze der Proteste stehen werden. Das wäre nicht gleich eine Katastrophe. Ein bisschen Demut und die Bereitschaft »von den Massen zu lernen« (Mao) steht Linken und Gewerkschafter*innen immer gut zu Gesicht.

Jörn Boewe

betreibt das Journalistenbüro work in progress, das sich auf Gewerkschaftsthemen spezialisiert hat.

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