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Nordsyrien nach den Beben

Der Überlebenskampf hat gerade erst begonnen – Hilfe ist bislang weitgehend ausgeblieben

Von Svenja Borgschulte

Man sieht Menschen, die in den Trümmern eingestürzter Häuser herumlaufen.
Das Ausmaß der Zerstörung in der Stadt Salqin. Foto: Adopt a revolution

In Syrien sind die Gebiete am stärksten von den verheerenden Erdbeben betroffen, die sich außerhalb der Kontrolle des Assad-Regimes befinden, darunter insbesondere die Region Idlib im Nordwesten des Landes. Die Beben markieren eine Zäsur in einer Region, in der die Menschen bereits davor unter katastrophalen Bedingungen litten und auf internationale Hilfe angewiesen waren, um überleben zu können. Die Lage der Menschen jetzt: verzweifelter und aussichtsloser denn je.

Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet der Nordwesten Syriens derart heftig von den Auswirkungen der Erdbeben betroffen ist. Denn diese sind zwar die Ursache für die Katastrophe, die Dimension der Zerstörung und die Opferzahlen sind aber menschengemacht: Die Gebäude und Häuser waren bereits durch die seit Jahren andauernden Bombardierungen des Assad-Regimes und seines Verbündeten Russland marode und ihre Statik angegriffen. Gleichzeitig leben hier über vier Millionen Menschen – mehr als die Hälfte davon Binnenvertriebene – auf sehr beengtem Raum, in überfüllten Häusern und notdürftig zusammengezimmerten Behausungen.

Auf der Straße oder im freien Feld

Die Opferzahl wird auch deshalb in den kommenden Tagen und Wochen noch deutlich steigen, weil viele Überlebende aufgrund der begrenzten technischen Ausstattung nicht rechtzeitig aus den Trümmern geborgen werden konnten. Der lokale Katastrophenschutz (Weißhelme), spezialisiert vor allem auf Kriegssituationen wie Bombardierungen, ist überfordert mit der derzeitigen großflächigen Notsituation und hat weder die Erfahrung im Umgang mit Naturkatastrophen noch die entsprechende Ausrüstung. Zudem erlagen viele von jenen, die rechtzeitig aus den Trümmern gerettet werden konnten, später ihren Verletzungen, weil sie medizinisch nicht versorgt werden konnten und können. Der Grund: Es gibt in Idlib so gut wie keine medizinische Infrastruktur mehr, weil das Assad-Regime und Russland in den vergangenen Jahren gezielt Krankenhäuser bombardiert haben. Medizinische Hilfe kann deshalb nur begrenzt geleistet werden, und die derzeitige Katastrophensituation überlastet die Kapazitäten.
Von den Folgen des Erdbebens sind damit in Syrien diejenigen Bevölkerungsgruppen betroffen, die bereits am stärksten unter den Auswirkungen des Krieges leiden. Wer überlebt hat, sitzt jetzt bei Minusgraden auf der Straße oder im freien Feld, ohne gesicherten Zugang zu einer Grundversorgung. Ein Großaufgebot an humanitärer, medizinischer und technischer Hilfe war das Gebot der ersten Stunde und ist es noch. Sie blieb jedoch aus.

Ein Großaufgebot an humanitärer, medizinischer und technischer Hilfe war das Gebot der ersten Stunde und ist es noch. Sie blieb jedoch aus.

Dabei verfügen die Vereinten Nationen (UN) über ausreichend Erfahrung: Seit Jahren liefern sie humanitäre Hilfe nach Idlib, weil die Mehrheit der hier lebenden Menschen sonst kaum überleben könnte. Trotzdem war die Region nach den Beben tagelang von jeglicher internationaler Hilfe abgeschnitten. Erst am vierten Tag nach der Katastrophe kamen sechs LKW der UN an – ohne Geräte, um die unter den Trümmern Verschütteten noch retten zu können. Ohne Decken oder Zelte, damit sich die Zehntausenden obdachlos gewordenen Menschen etwas vor der Kälte schützen können. Bis jetzt kann von Hilfe der UN in der Region keine Rede sein.

Mangelnder politischer Wille

Verhindert wird sie durch Bürokratie und mangelnden politischen Willen. Bereits seit 2014 gibt es im UN-Sicherheitsrat ein Ringen mit Russland, welche und wie viele Grenzübergänge die UN für humanitäre Hilfe nutzen darf. Durch ein Veto Russlands ist seit 2020 nur noch ein einziger Übergang von der Türkei nach Nordwestsyrien dafür freigegeben, der Nordosten ist seitdem sogar komplett abgeschnitten. Grundsätzlich ist das Gezerre um die Grenzübergänge im UN-Sicherheitsrat aber komplett überflüssig, denn die betroffenen Gebiete unterstehen nicht dem Assad-Regime. Völkerrechtlich ist daher nur die Zustimmung der Gruppen notwendig, die de facto die Zielgebiete kontrollieren, um humanitäre Hilfe zu leisten.

Das weiß auch die UN. Mit Hilfe der Türkei hätte sie weitere Grenzübergänge nutzen können, um viel früher Hilfsgüter in den Nordwesten Syriens zu liefern. Die Vereinten Nationen haben sich jedoch bewusst für unterlassene Hilfeleistung entschieden, auf die Zustimmung des Assad-Regimes gewartet und damit wertvolle Zeit verstreichen lassen. Erst am 13. Februar hat Assad zugestimmt, dass zwei weitere Grenzübergänge für humanitäre Hilfe geöffnet werden können. Eine Woche zu spät: Alle Menschen unter den Trümmern sind tot. »Wir haben die Menschen in Nordwestsyrien bisher im Stich gelassen«, gab der UN-Untergeneralsekretärs für humanitäre Angelegenheiten und Nothilfekoordinator Martin Griffith zu. »Meine Aufgabe und unsere Verpflichtung ist es, dieses Versagen so schnell wie möglich zu korrigieren.« Auf die Worte folgten bislang keine Taten – von einem Großaufgebot an humanitärer UN-Hilfe ist in Nordwestsyrien nichts zu sehen. Dabei zählt für die Überlebenden jede Sekunde.

Svenja Borgschulte

gehört zu Adopt a Revolution.

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