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|ak 682 | Geschlechter­­verhältnisse

Skandalöser Minimalismus

Der katastrophale Umgang mit den Übergriffsvorwürfen in der Partei Die Linke war aus feministischer Sicht erwartbar

Von Sophie Obinger

Man möchte sich an den Kopf fassen. Zum Beispiel beim Lesen des Kommentars, den Gregor Gysi, hier 2014 beim Parteitag von Die Linke, Ende April im neuen deutschland veröffentlichte. Anstatt das Täterproblem seiner Partei zu diskutieren, beschwert er sich lieber über die vermeintlich unfaire Berichterstattung des Spiegel und die mangelnde Ostidentität in seiner Partei. Foto: Die LINKE /Fickr, CC BY -Sa 2.0

Mitte April veröffentlichte der Spiegel eine Recherche über Fälle von sexualisierter Belästigung in der hessischen Linken. Zehn Frauen und Männer teilten mit, dass sie aufgrund von Übergriffen und einer fehlenden Aufarbeitung die Linkspartei und ihre Jugendorganisation ‘solid verlassen haben. Eines der prägnantesten Beispiele stellt die Nötigung einer Jugendlichen durch Adrian G. dar, der für die Linke im hessischen Landtag arbeitete.

Nach Erscheinen des Artikels riefen die Bundessprecher*innen von ‘solid, Sarah Dubiel und Jakob Hammes, weitere Betroffene dazu auf, sich bei ihnen zu melden. Nach wenigen Tagen waren es Dutzende aus unterschiedlichen Landesverbänden. Aktuell ist unklar, um wie viele Fälle es sich handelt, denn die Arbeit der Jugendorganisation wird von Mitgliedern der Partei u.a. durch Klagen und fehlende Unterstützung behindert.

Susanne Hennig-Wellsow zog bereits Ende April Konsequenzen und legte ihr Amt als Parteivorsitzende nieder. Sie kritisierte den Umgang mit den Betroffenen. In einer Stellungnahme des Bundesparteivorstandes wurden Maßnahmen angekündigt – die bisherige Debatte um Sexismus in der Linken zeigt aber vor allem zwei Dinge: die Ignoranz gegenüber dem Ausmaß patriarchaler und geschlechtsspezifischer Gewalt in unserer Gesellschaft und die gesellschaftliche und politische Unfähigkeit im Umgang damit.

Linke Vergewaltigungskultur

In Parteien, die eigentlich damit werben, dass sie genügend Ressourcen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und queere Personen bereitstellen werden, ist die sogenannte »rape culture« selbst Alltag. Merkmal dieser Vergewaltigungskultur ist neben der klassischen Täter-Opfer-Umkehr auch die Verharmlosung von sexualisierter Gewalt an sich. All das sehen wir auch in der Partei die Linke.

Das Bedrängen einer Minderjährigen als »Affäre« und nicht als sexualisierte Gewalt zu bezeichnen, ist ein Beispiel dafür. Ein weiteres ist, dass der damals 41-jährige Adrian G. es laut Spiegel »crazy«, »romantisch« und »prickelnd« fand, eine 17-jährige Genossin, die aufgrund der Parteistrukturen in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihm stand, zum Sex zu nötigen.

Eine Partei, die erst nach dem Bekanntwerden von Übergriffen ein Konzept zum Schutz weiblicher und queerer Mitglieder vor sexualisierter Gewalt entwickelt, hat offensichtlich keine Kompetenz im Feld sexualisierte Gewalt. Denn dass es zu sexueller Gewalt kommt, ist zu erwarten. Das ist eben keine Ausnahme.

Es ist nicht mal ein neues Thema in der Öffentlichkeit. »Sexismus und Männerdominanz: Was Frauen in der Kommunalpolitik erleben«, das war im August 2020 war bei CORRECTIV zu lesen. Vergangenes Jahr im Juli sprach Zeit Campus mit 21 Politikerinnen darüber, dass insbesondere jüngere Frauen in der Politik von Sexismus betroffen sind. Die Europäische Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft Berlin (EAF Berlin) veröffentlichte im Oktober eine Studie über Parteikulturen und die politische Teilhabe von Frauen, die belegt, dass 40 Prozent aller Politikerinnen in Deutschland schon einmal sexuell belästigt worden sind. Bei den unter 45-Jährigen sind es sogar 60 Prozent.

»Minderjährige Frauen« sind Mädchen, Jugendliche, Kinder. Man sollte sie auch so nennen.

Es drängt sich die Frage auf, wieso es trotz dieser frei zugänglichen Erfahrungsberichte und Forschungsergebnisse immer noch kein nennenswertes Bewusstsein für die Dimension geschlechtsspezifischer Gewalt gibt. Und auch nicht darüber, dass die Beispiele von Hannah Maas, Michelle Rau und Antonia Coen, deren Namen von der Spiegel-Redaktion geändert wurden, keine Einzelfälle, sondern Alltag in der Politik sind.

Unter dem Hashtag #MeToo wurden seit 2017 persönliche Erfahrungen von sexualisierten Übergriffen mit einer breiten Öffentlichkeit geteilt. Diese Sichtbarkeit ermöglichte eine Debatte darüber, welche unterschiedlichen Arten von geschlechtsbasierter Gewalt es gibt. Angefangen bei anzüglichen Blicken, unerwünschten »Komplimenten« und Berührungen bis hin zu erzwungenen sexuellen Handlungen. #MeToo hat gezeigt, dass die Formen psychischer und körperlicher Gewalt vielfältig sind. Ihre gemeinsame Grundlage sind patriarchale Strukturen und Machtverhältnisse, die jenes grenzüberschreitende Verhalten erst ermöglichen. Ohne explizite Maßnahmen ist das auch in linken Parteien und Organisationen nicht anders.

Im Februar 2022 ging es im ZDF-Format »13 Fragen« darum, was sich nach fünf Jahren #MeToo verändert hat. Die Antwort: Materiell hat sich für Betroffene nichts verändert. Nach wie vor fehlt es an Personal in Frauenhäusern, Beratungsstellen und Hilfe-Hotlines. Die Anzahl von Gewalttaten gegen Frauen ist während der Isolierung durch die Corona-Pandemie sogar noch weiter gestiegen. Gleichzeitig wurden feministischen Projekten in Berlin und deutschlandweit die ohnehin schon kargen Mittel gekürzt. Wichtige Öffentlichkeitsarbeit kann somit nicht nachhaltig gewährleistet werden.

Verharmlosen, leugnen, kleinreden

Selbstverständlich dementiert Adrian G. die Vorwürfe. Die Anzeigen von Hannah Maas wegen Nötigung und Beleidigung führten zu keiner Verurteilung. Neben der patriarchalen Justiz konnte er sich dem Täterschutz aus der eigenen Partei über Jahre sicher sein. Leugnen und Kleinreden: Die typischen Reaktionen auf Sexismus- und Gewaltvorwürfe sind nicht erst seit #MeToo bekannt. Eine transparente Aufarbeitung der Vorfälle und kritische Auseinandersetzung mit dem Thema hätten laut einer E-Mail eines ehemaligen Landesvorstands der Linken aus Hessen der Partei geschadet. Als sich der Machtmissbrauch nicht mehr länger unter den Teppich kehren ließ, entschied sich der Landesverband der Linken in Hessen im März dazu, einen Verhaltenskodex und eine Selbstverpflichtung zu veröffentlichen – an der Adrian G. vermutlich selbst mitarbeiten durfte.

Darin heißt es: »Wir ergreifen Position gegen sexistisches, diskriminierendes und gewalttätiges verbales oder nonverbales Verhalten. Abwertendes Verhalten wird von uns benannt und nicht toleriert.« Doch genau das ist das Problem mit der Vergewaltigungskultur, die auch in der Partei die Linke vorherrscht: Sexistisches Verhalten und Grenzüberschreitungen finden statt und werden anschließend verharmlost. Symbolische und somit wirkungslose Maßnahmen werden erst ergriffen, wenn es zu spät ist. Die Vorgehensweise vor, während und nach den Übergriffen zeigt mindestens die Unfähigkeit im Umgang mit sexualisierter Diskriminierung und Gewalt. Wenn ein mutmaßlicher Täter an vorgeblichen Maßnahmen der Gewaltprävention mitarbeitet, dann ist das Täterschutz und ein Ausdruck männerbündischer Strukturen.

Um effektive Maßnahmen gegen Übergriffe und Machtmissbrauch zu entwickeln, braucht es eine materialistische Analyse von Geschlechter- und Gewaltverhältnisse, die intersektionale Perspektiven miteinbezieht. Das heißt, dass neben Geschlecht auch Altersunterschiede als Machtverhältnis berücksichtigt werden müssen.

Wer von einer »minderjährigen Frau« spricht, verharmlost die ungleichen Positionen, die mit einem Altersunterschied von 24 Jahren einhergehen. Das Wort »Frau« bezeichnet eigentlich eine erwachsene Person. »Minderjährige Frauen« sind Mädchen, Jugendliche, Kinder. Man sollte sie in Berichten von Übergriffen auch so nennen, anstatt mit »Frau« ein Maß an sexueller Selbstbestimmung zu suggerieren, dass Jugendliche und Kinder Erwachsenen gegenüber nicht haben.

Patriarchale Gewalt gegen Frauen folgt nicht umsonst einer ähnlichen Logik, von der auch Kinder betroffen sind. Adrian G. wurde für sein übergriffiges Verhalten demnach von einem Genossen (!) als »Hengst«, »Sugardaddy« und »Roman Polanski« gefeiert.

Aussagen des mutmaßlichen Täters gegenüber der Betroffenen, wie »du bist schwarz, du bist jung, du bist eine Frau, du wirst es in dieser Partei weit bringen« zeigen darüber hinaus die enge Verschränkung von Sexismus und Rassismus. Rassifizierte weibliche Personen werden noch stärker zu Objekten degradiert. Dadurch erscheint der Zugriff auf ihre Körper als ungeschriebenes Recht weißer Männer. Als Förderer von Hannah Maas hat Adrian G. das Abhängigkeitsverhältnis noch weiter ausgebaut.

Die Fälle, die nun bekannt werden, zeigen nur die Spitze des Eisbergs. Struktureller Sexismus und Machtmissbrauch sind nicht nur eine Realität in der Linken, sondern in allen Parteien. Alle Parteien hatten schon immer und haben nun erneut die Wahl, ob sie die nötigen Ressourcen bereitstellen, um mithilfe von Expert*innen sinnvolle Gegenmaßnahmen zu entwickeln. Ob sie dazu bereit sind, über Lippenbekenntnisse hinauszugehen und ernsthaft im Sinne der Betroffenen zu handeln. Ob sie strukturelle Änderungen gegen erwartbare Widerstände vornehmen, nicht nur um Übergriffe angemessen aufzuarbeiten, sondern um diesen auch vorzubeugen. Wenn Sie es nicht tun und weiterhin defensiv und intransparent handeln, ist es nur eine Frage der Zeit, bis der nächste Skandal die sterbende Partei erschüttert.

Sophie Obinger

ist in der Gruppe Kali Feminists organisiert und Co-Autorin der Studie »Frauen. Macht. Brandenburg«, die Sexismuserfahrungen in der brandenburgischen (Kommunal-)Politik untersucht.