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Ein Abgrund

Krieg in Israel und Gaza: Warum die Linke ihren moralischen Kompass neu ausrichten muss

Von Hanno Hauenstein

Man sieht, wie eine Militärrakete in den Himmel geschossen wird.
Manche Linke würden wohl am liebsten selbst die Abschussknöpfe drücken. Das Massaker der Hamas und der begonnene Krieg können nur mit humanistischen Grundsätzen beantwortet werden. Foto: IDF / Flickr, CC BY-NC 2.0 Deed

Es sind schwere Tage. Während ich diese Zeilen schreibe, versuche ich, die Bilder Toter und Verletzter aus meinem Kopf zu verdrängen, um überhaupt einen geraden Satz zu Ende zu bringen. Bilder israelischer und palästinensischer Menschen, jung und alt, teils noch lebend, teils kaum noch als Menschen wiederzuerkennen. Die Leichensäcke in israelischen Städten sind schwarz, in Gaza sind sie weiß. Metaphern verblassen. Und dennoch wirkt diese kleine Tatsache wie ein makabrer Spiegel einer Auseinandersetzung um Israel-Palästina, die gerade ohne Sinn für Nuancen geführt wird. Nicht selten ist ihr eine eklatante Ignoranz gegenüber der israelischen und palästinensischen Zivilgesellschaft eingeschrieben, teils auch eine verwunderliche Verkennung der historischen und politischen Fakten.

Während ich diese Zeilen schreibe, telefoniere ich alle paar Stunden mit Menschen vor Ort, insbesondere mit einer Person, die mir sehr nahesteht. Ein entferntes Familienmitglied von ihr, David aus dem israelischen Kibbuz Be’ri, ist unter den Vermissten. Ob er sich in Gaza unter den Entführten befindet, oder ob er tot ist, oder beides – es ist bis heute nicht klar.

So gut wie jede Person in Israel ist auf die eine oder andere Weise, über eine oder mehrere Ecken, von diesem Massaker betroffen. Jedes Menschenleben zählt. Aber dass unter den Getöteten und Vermissten, mutmaßlich Entführten, auch langjährige Aktivist*innen gegen Israels Besatzungspolitik waren, ist ein zynischer Spiegel des moralischen Abgrunds dieser Katastrophe. Etwa die Aktivistin Vivan Silver von Road to Recovery, einer Organisation, die in den letzten Jahren immer wieder half, Patient*innen in Not aus Gaza zur Behandlung nach Israel zu transportieren; Shahar Tzemach von Breaking the Silence, der Führungen in Hebron durchführte, um Menschen aus Israel-Palästina oder Besucher*innen über die Realität der palästinensischen Bantustans im Westjordanland aufzuklären; oder Hayim Katsman, der noch im Juni dieses Jahres für Ha’aretz eine bestechende Analyse über die Hegemonie-Bestrebungen der israelischen Rechten aufschrieb.

Was außer Zweifel steht: Das Massaker, das Hamas letzten Samstag verübte, ist ein schwer in Worte zu fassendes Kriegsverbrechen. Die Ermordung von Zivilisten*innen, die Tötung und Entführung von Neugeborenen und Kindern, die psychische Folter ganzer Freundeskreise und Familien, die nicht wissen, ob Seelenverwandte oder Angehörige tot sind, wird über Jahrzehnte nachwirken und tiefe Spuren hinterlassen. Schmerz wird zu Trauma wird zu Angst werden – zumal unter dem Einfluss weltweit anwachsender rechter Demagogie, die das Trauma schon jetzt für eine Politik der Abschottung und bedingungslosen Militarismus instrumentalisiert. Diese Angst nicht zu Hass werden zu lassen und bestehende, fragile Bündnisse nicht an ihr zerbrechen zu lassen, ist eine vorhersehbare Herausforderung, die linke Gruppen und ganze Gesellschaften auf die Probe stellen wird. Dieser Herausforderung gebührt Solidarität.

Der Massenmord der Hamas ist auch eine Art Handreichung an rechte Demagogen.

Was auch klar ist: Eine Linke, die versucht, ein Massaker wie das von der Hamas begangene in ein Diskursparadigma antikolonialen Widerstands zu zwängen, ist keine. Nicht, weil Palästinenser*innen in Gaza oder im Westjordanland nicht jahrzehntelanger kolonialer Gewalt ausgesetzt wären. Nicht, weil ein Aufbegehren gegen diese von vielen westlichen Staaten inklusive Deutschland teils bis ins Groteske normalisierte Gewalt nicht erwartbar, sogar nachvollziehbar wäre. Sondern, weil allein der Gedanke, dass das Verletzen, Entführen und brutale Massakrieren von Zivilist*innen – noch dazu Zivilist*innen innerhalb Israels anerkannter Grenzen von 1948 – etwas aufwiegen oder gar rechtfertigen würde, jedem humanistischen Grundsatz widerspricht.

Diese Grundsätze aufzugeben, kann sich linkes Denken nicht erlauben. Man muss die Anerkennung der strukturellen Asymmetrie zwischen einer der stärksten Militärmächte der Welt (Israel) und einer fragmentierten und über Jahrzehnte strukturell entrechteten Gesellschaft (Palästina), die diesem Konflikt eingeschrieben ist, nicht aufgeben, um an universellen humanistischen Grundsätzen festzuhalten. Ich schreibe das als Reaktion auf eine Welle des verbalen Radikalismus aufseiten einiger Linker, die in den vergangenen Tagen insbesondere auf Social Media spürbar wurde: »Was habt ihr denn gedacht, was Dekolonisierung bedeutet? Vibes? Essays? Loser«, lautete beispielsweise eines dieser Statements. Womöglich war das volle Ausmaß der Katastrophe zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch nicht vorstellbar. Besser macht es das nicht.

Kontext ist nicht Verharmlosung

Die inhärente Logik des »Kollateralschadens«, die in derartigen Aussagen durchschimmert, erinnerte nicht zufällig an die altbekannte Rechtfertigungslogik der israelischen Rechten, die unter dem Stichwort vermeintlicher »Selbstverteidigung« seit knapp 15 Jahren Tausende zivile palästinensische Opfer durch Luftangriffe in Gaza immer wieder bewusst in Kauf nimmt. Die Unterschiede zwischen einem gezielten Massaker an Zivilist*innen und unnachgiebigem Bombenhagel auf ein dicht besiedeltes Gebiet ohne Fluchtmöglichkeit, der zwangsläufig zivile Opfer fordert, lassen sich kaum leugnen. Es gibt einen Unterschied, er reicht über die zeitliche Abfolge hinaus. Doch zur Wahrheit gehört auch, dass es mit jedem weiteren grauenhaften Bericht aus Gaza in diesen Stunden gefühlt schwieriger wird, beides zu benennen: den Unterschied selbst wie auch die offensichtliche Indienstnahme ebenjenes Unterschieds für die Legitimation von Kriegsverbrechen.

Die Versuche der israelischen Rechten, den historischen und politischen Kontext des Massakers im Süden Israels auszuklammern – Versuche, die von der deutschen Mehrheitsgesellschaft und ihrer politischen Repräsentation in diesen Tagen weitgehend unkritisch übernommen werden –, wirken bizarr reduktionistisch. Kontext ist nicht gleich Rechtfertigung. Kontext ist nicht gleich Verharmlosung. Kontext ist die Grundlage jeder ernstzunehmenden moralisch-politischen Bewertung.

Zivilist*innen in Gaza werden infolge der Blockade seit 16 Jahren lebensnotwendige Güter vorenthalten. Die meisten von ihnen haben ihr ganzes Leben in einer winzigen, umzäunten Enklave verbracht.

In diesem Fall lautet der Kontext: Zivilist*innen in Gaza werden infolge der Blockade seit 16 Jahren überlebensnotwendige Güter vorenthalten. Dem Großteil der Bevölkerung wird nicht erlaubt, das Gebiet zu verlassen. Die meisten von ihnen haben ihr ganzes Leben in einer winzigen, umzäunten Enklave verbracht. Medizinische Versorgung ist knapp, Zugang zu Lebensmitteln, Treibstoff und Elektrizität, all das hängt buchstäblich von Israels Gutdünken ab. Über 65 Prozent der in Gaza lebenden Menschen sind im Kinder- und Jugendalter. Die wenigsten von ihnen haben jemals eine politische Vertretung gewählt.

Die Vereinten Nationen, UNWRA, diverse Menschenrechtsorganisationen und Rechtsexpert*innen haben seit vielen Jahren immer wieder auf die Illegalität der Blockade Gazas hingewiesen. Dass diese Menschen dort leben, liegt auch daran, dass israelische Streitkräfte infolge des Unabhängigkeitskrieges von 1948 und der israelischen Staatsgründung unzählige palästinensische Dörfer zerstörten, viele dort lebende Menschen töteten und zahlreiche weitere vertrieben. Diese Episode ist in palästinensischen Communities und unter Historiker*innen als Nakba bekannt.

Wenige Stunden nach dem Massaker der Hamas twitterte ein Abgeordneter von Netanjahus Likud-Partei im israelischen Parlament: »Gerade jetzt, ein Ziel: Nakba! Eine Nakba, die die Nakba von 48 in den Schatten stellt.« Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant kündigte Völkerrechtsbrüche an, die Israel freimütig umsetzte: »Wir haben eine vollständige Blockade über Gaza verhängt. Kein Wasser, keine Lebensmittel, kein Gas, alles ist zu.« Am Dienstag, den 10. Oktober, gab Israels Armeesprecher Daniel Hagari bekannt, dass »Hunderte Tonnen Bomben« auf den Gazastreifen abgeworfen worden seien, und konstatierte, der Schwerpunkt liege »auf Beschädigung, nicht auf Genauigkeit«.

Gazas humanitäre Katastrophe

Während ich diesen Text schreibe, steht Gaza bereits am Rande einer humanitären Katastrophe. Israel mobilisiert für eine Bodeninvasion. Bewohner*innen des Gazastreifens haben die Bombardierungen als heftiger und ungezielter beschrieben als frühere Angriffe. Ein Video der New York Times visualisierte Überreste mehrerer zertrümmerter Moscheen; Human Rights Watch berichtet vom Einsatz geächteter Phosphorbomben; Bewohner*innen in Gaza berichten von Luftangriffen auf Krankenhäuser und Schulen. Die Zahl der zivilen Opfer hat den bislang tödlichsten Angriff der letzten Jahre von 2014 mit 1.500 bereits überschritten. Diese Luftangriffe, die nach Ansicht israelischer Expert*innen wie dem Menschenrechtsanwalt Michael Sfard ein Kriegsverbrechen darstellen, nicht klar zu verurteilen, ist eine moralische Bankrotterklärung. Die deutsche Regierung tut, indem sie sich jetzt bedingungslos hinter die rechteste und expansionistischste Regierung der israelischen Geschichte stellt, das Gegenteil.

Viele Beobachter*innen fürchten, dass sich hier eine Kollektivstrafe von historischem Ausmaß abzeichnet, die Palästinenser*innen als Ganze trifft. Zahlreiche Forscher*innen sprechen jetzt von einem drohenden Genozid. Angesichts des israelischen Regierungskabinetts wirken derartige Warnungen kaum hyperbolisch. Israels Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, ist ein offen anti-arabischer Rassist mit Sympathien für kahanistische Terroristen, die dem rechtsextremistischen Spektrum zuzurechnen sind. Er forderte die Massenausweisung sogenannter »illoyaler« Palästinenser*innen mit israelischem Pass, also auch innerhalb Israels Grenzen. Israels Finanzminister, der Hardliner Bezalel Smotrich, rief indirekt dazu auf, ganze palästinensische Dörfer auszulöschen. Diese Regierung bedürfte keiner Provokation, ihre Verachtung für palästinensisches Leben in die Tat umzusetzen. 

Der Massenmord der Hamas ist somit auch eine Art Handreichung an rechte Demagogen. Hamas lieferte Netanyahu und den Hardlinern in seiner Koalition den Brandbeschleuniger, um ihre expansionistische Agenda noch zu erweitern. Dazu zählt das im Koalitionspapier dieser Regierung 2022 explizit benannte Ziel einer Annexion des palästinensischen Westjordanlands. Indem Smotrich alle Behörden der zivilen Administration übertragen wurden, wurde dieser Prozess bereits de jure eingeleitet. Dazu zählt auch die de facto Apartheid-Politik, die im Westjordanland seit Jahrzehnten Realität ist. Sie spiegelt sich unter anderem in den nach ethnischen Kriterien differenzierten Rechtssystemen für israelische Siedler*innen und Palästinenser*innen unter israelischer Souveränität.

Eine historische Zäsur

Das Hamas-Massaker ist ein historischer Einschnitt, der jetzt auch dazu geführt hat, den über 40 Wochen andauernden Protest gegen den israelischen Justizumbau schlagartig zu beenden. Die Proteste hatten Millionen Menschen in Israel auf die Straßen gebracht. Sie bewogen Reservist*innen der israelischen Armee und junge Israelis, Dienstverweigerung anzukündigen beziehungsweise Einberufungsbefehle zu verbrennen. In linken und liberalen Kreisen in Israel wuchs in den letzten Monaten ein immer klarsichtigeres Verständnis für die Verschränkung zwischen Israels Besatzungspolitik, dem Siedlungsprojekt und dem Justizputsch. Wenngleich die Proteste in ihrer bisherigen Form zu Ende sind, hat sich der Hass auf Netanyahu nicht in Luft aufgelöst. Allein, dass Israels Vergeltungsschlag auf Gaza größere Priorität eingeräumt wird als dem Versuch, zu einem Deal über die Rückführung entführter israelischer Geiseln zu gelangen, lässt Abertausende Israelis dieser Tage schockiert zurück.

Die Linke muss Widerstand leisten gegen Antisemitismus im Namen des antikolonialen Kampfes genauso wie gegen Rassismus im Namen der sogenannten Israelsolidarität.

Die Lage in Israel-Palästina wird in den folgenden Tagen zweifellos weiter eskalieren. Weltweit entlädt sich Hass: Hass auf Israels Regierung und auf Hamas. Aber auch Hass auf Israelis und Palästinenser*innen. Und ja, auch antisemitischer und rassistischer Hass auf jüdische und muslimische Menschen, die für die Geschehnisse in der Region kollektiv in Sippenhaft genommen werden. Zudem Rassismus gegenüber Palästinenser*innen, deren Ausdrucksformen und Kritik in diesen Tagen in Deutschland polizeilich und politisch stummgeschaltet und pauschalisierend als Terrorunterstützung verunglimpft werden.

Die Linke wird durch die Situation auf eine ernsthafte Probe gestellt. Sie sollte nicht die Fehler ihrer Regierungen wiederholen und sich nullsummenhaft auf die Seite von Flaggen schlagen, kritische Stimmen übergehen und die Humanität ganzer Bevölkerungsgruppen ausblenden. Sie muss eine Form von aktivem Humanismus walten lassen, der Dehumanisierung ganzer Gruppen, Palästinenser*innen oder Israelis, Jüdinnen und Juden oder Muslime, unmissverständlich verurteilt. Das heißt, sie muss Widerstand leisten gegen Antisemitismus im Namen des antikolonialen Kampfes genauso wie Widerstand gegen institutionalisierten Rassismus im Namen der sogenannten Israelsolidarität. Die israelische Linke zeigt dieser Tage vorbildhaft, dass derartiger Humanismus möglich und essenziell nötig ist.

Hanno Hauenstein

ist freier Journalist und Autor mit Schwerpunkten auf Kunst, Kultur und Politik. Er hat unter anderem für Zeit Online, Frieze Magazine, Haaretz und taz gearbeitet und war mehrere Jahre Redakteur und Ressortleiter im Kulturressort der Berliner Zeitung. Zwischen 2011 und 2016 berichtete er regelmäßig aus Israel-Palästina.

In der Ursprungsfassung stand, dass drei israelische Aktivist*innen unter den Getöteten seien. Vivian Silver ist aber vermisst, möglicherweise ist sie unter den Entführten. Wir haben den Fehler korrigiert und bitten um Entschuldigung.

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