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Unerwartetes Erwachen

Gegen die Pläne der israelischen Regierung hat sich eine starke Massenbewegung entwickelt – getragen von Mittel- und Oberschicht

Von Yossi Bartal

Man sieht von hinten eine Gruppe von Menschen, die mit Wasser beschossen werden. Einer hält eine Israel-Flagge hoch.
Proteste in Tel Aviv. Foto: Oren Ziv

Als die sechste Netanjahu-Regierung Anfang des Jahres ihr Amt antrat, herrschte unter liberalen Israelis eine bedrückte Stimmung. Die stabile Mehrheit, die diese Regierung im Parlament besitzt, und die zahlreichen von ihr vorgeschlagenen Gesetzesinitiativen schienen das Land unaufhaltsam in Richtung einer rechtsautoritären Hegemonie zu führen. In Zeitungsartikeln wurden Auswanderungspläne thematisiert, und Relocation-Spezialist*innen in der High-Tech-Industrie machten Überstunden. Mehr als drei Monate später ist diese politische Katerstimmung des Anti-Netanjahu-Lagers vorerst vorbei. In der Zwischenzeit hat sich eine Protestbewegung entfesselt, die einen beeindruckenden Gegenpol zur Regierung bildet und ihre Pläne teilweise blockieren konnte. Wie kam es dazu?

Befeuert von ihrem handfesten Wahlsieg nach Jahren der politischen Instabilität hatten Netanjahu und seine Partner gleich nach der Amtseinführung radikale Umbauprojekte angekündigt. Diese umfassten nicht nur die Zementierung der Apartheid- und Siedlungspolitik sowie den weiteren Ausbau der Privilegien für die jüdisch-religiöse Minderheit, sondern auch die Entmachtung der rechtsstaatlichen Institutionen, die diesem Vorhaben teilweise im Weg stehen könnten. Die angekündigte »Justizreform« sah vor, dass eine einfache Mehrheit im Parlament Entscheidungen des Obersten Gerichts für ungültig erklären kann, die Regierung größeren Einfluss auf die Ernennung von Richter*innen erhält und Gutachten von Verwaltungsjurist*innen zu bloßen Empfehlungen degradiert werden. Hinzu kam, dass Anti-Korruptions-Maßnahmen im Staatsdienst zum Teil aufgehoben werden sollten.

Regime-Putsch

Zu Recht wurde dieser Plan von führenden Jurist*innen als Regime-Putsch bezeichnet. Er stellte eine ernsthafte Bedrohung nicht nur für Geflüchtete oder die palästinensischen Staatsbürger*innen dar, sondern für die Gewaltenteilung insgesamt und damit für die Interessen von wichtigen Teilen der israelischen Gesellschaft – Frauen, die LGBT-Community, das gesamte Beamt*innentum und führende Industrie- und Kapitalfraktionen. Sogar das militärische Establishment sah sich durch die Schwächung des Obersten Gerichts gefährdet, das in der Vergangenheit fast alle seiner Aktionen in den besetzten Gebieten nachträglich legitimierte. Wie ein Vertreter der Staatsanwaltschaft in einem Knesset-Ausschuss erklärte, fungiert das Ansehen des Gerichts als eine Art »juristischer Iron-Dome«, der Israel vor internationalen Strafverfahren schützt. Wenn es seine Unabhängigkeit verliere, so das Fazit, würden akute israelische Sicherheitsinteressen bedroht.

So erwies sich die feierliche Verkündung der Justizreform als ein fataler Fehler des wegen Betrug und Veruntreuung angeklagten Premierministers. Statt Schritt für Schritt die demokratischen Räume zu schwächen und seine Hetze primär gegen Araber*innen und Linke zu richten, wie Netanjahu dies in seinen vorherigen Amtszeiten zu tun pflegte, führten die Hybris und der Tatendrang der Rechten in kürzester Zeit zu einer beispiellosen Gegenmobilisierung. Von Woche zu Woche wuchs die Zahl der Demonstrant*innen unter dem Slogan der Demokratie-Rettung bis auf eine halbe Million. Sogar in einigen Siedlungen wurde (mit-)demonstriert. Die Mehrheit der Teilnehmer*innen gehört dennoch der säkularen und europastämmigen Mittel- und Oberschicht an. Dass es der Mehrheit von ihnen um den Erhalt einer (neo)liberalen Demokratie nur für Jüdinnen und Juden geht, wurde sichtlich durch die unendlich vielen Nationalfahnen, die die Demos dominieren. Linke, die durch Anti-Besatzung-Blocks in Haifa, Jerusalem und Tel-Aviv darauf hinweisen, dass es keine echte Demokratie in einer Apartheid geben kann, bilden eine kleine, wenn auch laute Ausnahme.

Dieses unerwartete politische Erwachen führte auch vor Augen, wie viel Einfluss die sogenannten alten Eliten im Land noch haben. Das Netanjahu-Lager mag die Mehrheit der jüdisch-israelischen Bevölkerung hinter sich vereint wissen. Die Opposition, die in vieler Hinsicht wie eine Mischung aus ihren venezolanischen und türkisch-kemalistischen Konterparten aussieht, hat dennoch die Kontrolle über Ökonomie und zahlreiche Institutionen. Und zum ersten Mal war sie bereit, ihre Machtposition als Druckmittel einzusetzen.

Plötzlich Kriegsdienstverweigerer

Denn um Netanjahu zu stoppen, wurden Maßnahmen ergriffen, die bis dato als extremistisch und volksverräterisch galten. Dabei geht es nicht nur um die zahlreichen Blockadeaktionen und »Störungstage« oder die wiederholten Vergleiche der Regierung mit dem Nationalsozialismus auf den Demos. So wurde seit Januar, vor allem von führenden Firmen in der IT-Branche zum Geldentzug aus dem Land à la BDS aufgerufen. Israel, das kaum natürliche Ressourcen oder eine bedeutende Schwerindustrie hat, ist von globalen Kapitalströmen besonders abhängig, und so führten solche Aufrufe gleich zum merkbaren Wertverlust des Schekels und verbreiteter Angst vor weiteren Des-Investitionen.

Zum ersten Mal in der Geschichte Israels wurde ein politischer Generalstreik verkündet.

Neben dem ökonomischen Druck waren besonders auch die vielen Petitionen von Reservist*innen in der Luftwaffe effektiv, die aufriefen, in den Nachrichtendiensten und anderen Eliteeinheiten den Dienst zu verweigern, falls die Gesetzgebung nicht aufgehalten wird. Kriegsdienstverweigerung – bis vor Kurzem eine der diskreditiertesten Protestformen in einer Gesellschaft, in der die Armee als heilig und unpolitisch gilt – wurde auf einmal zum Mainstream und von den strategisch wichtigsten Militärangehörigen adoptiert. Es wurde sogar schwierig, Piloten für die Auslandsflüge des Premiers zu finden. Zuletzt war diese Verweigerungsbewegung auch der Grund für den ersten großen Show-Down.

Ernstlich besorgt davon, keine hoch qualifizierten Soldat*innen mehr zur Verfügung zu haben, forderte Verteidigungsminister Yoav Gallant Ende März, die Justizreform für kurze Zeit auszusetzen. Daraufhin wurde er von Netanjahu gefeuert. Die Schockwelle, die diese Kündigung auslöste, führte Stunden danach zu Bildern der Rebellion – Zehntausende Menschen blockierten über Nacht die Tel Aviver Autobahn mit brennenden Barrikaden, am Tag danach wurde zum ersten Mal in der Geschichte Israels ein politischer Generalstreik mit der Beteiligung der Gewerkschaften verkündet und für mehrere Stunden durchgeführt. Selbst McDonalds schloss alle seine Filialen bis zur Ankündigung Netanjahus, die Gesetzgebung einzufrieren.

Gegen diesen Aufstand rief nun auch das Netanyahu-Lager seine Anhänger*innen auf die Straße – zu einer großen Demo in Jerusalem kamen jedoch deutlich weniger Menschen als zu den Anti-Regierungs-Protesten. Zugleich gingen auch Mitglieder rechter Schlägertruppen, besonders aus dem Umfeld des FC Beitar Jerusalem, gegen Regierungsgegner*innen vor. Damit kam es erstmals zu ernsthaften Straßenschlachten. Angesichts dieser außer Kontrolle geratenen Situation sah sich Netanjahu gezwungen, die Verabschiedung der Justizreform bis Mai auszusetzen und die Entlassung des Verteidigungsministers zurückzunehmen. Um die Zustimmung seiner rechtesten Koalitionspartner dafür zu bekommen, versprach er dem wegen Terror-Unterstützung verurteilten Polizeiminister Itamar Ben-Gvir die Bildung einer »Nationalgarde« unter dessen Macht. Die einzige Instanz, die diese staatlich finanzierte rechtsextreme Miliz noch stoppen kann, ist das unter Beschuss stehende Oberste Gericht.

Wie geht es nun weiter? Netanjahu und seine Gegner*innen wissen: Die beste Chance für das rechte Lager, die Proteste zu schwächen, ist eine Eskalation der Gewalt in den besetzten Gebieten – oder sogar eine militärische Konfrontation mit dem Erzfeind im Libanon oder in Iran. Nicht umsonst intensiviert die Siedler*innenbewegung ihre Angriffe auf die palästinensische Zivilbevölkerung und veranstaltet immer weitere messianische Provokationen am Tempelberg, wohl wissend, dass diese palästinensische Gegengewalt erzeugen. Ob diese Taktik aufgeht, ist dieses Mal fraglich. Es zeigt aber erneut, dass der Kampf gegen den Rechtsruck nicht losgelöst von der Apartheid-Realität und der ständigen Gewalt, die sie zwangsläufig hervorbringt, betrachtet werden kann. Solange die Protestbewegung Demokratie fordert, aber über die Situation der Palästinenser*innen schweigt, wird sie nicht nur moralisch in einer Sackgasse landen, sondern auch strategisch.

Yossi Bartal

ist in Jerusalem aufgewachsen und lebt seit 16 Jahren in Berlin.