Zwischen Memes und Marschflugkörpern
Der indisch-pakistanische Konflikt um Kaschmir ist erneut eskaliert – dabei geht es um weit mehr als die Kontrolle über Territorien
Von Ayesha Khan

Bis vor wenigen Tagen dominierten auf beiden Seiten der Grenze zwischen Indien und Pakistan noch sarkastische Reaktionen das Netz. In Pakistan machte ein Meme die Runde: Ein Typ unter einer trockenen Dusche, in Seifenschaum eingehüllt, mit dem Text: »Please release the water, I have soap in my eyes.« Bitterer Humor als Reaktion auf die indische Drohung, den Indus-Wasservertrag auszusetzen – eine Geste, die nicht nur symbolisch, sondern existenziell bedrohlich für die pakistanische Landwirtschaft ist. Auf der anderen Seite posteten indische Instagram-User traurige Reels, weil sie keine pakistanischen Serien mehr streamen konnten. Die Regierung hatte kurzerhand die offiziellen Social-Media-Kanäle von pakistanischen TV-Sendern gesperrt – und damit nicht nur Kultur, sondern auch ein Stück Alltag blockiert.
Doch in der Nacht zum 7. Mai 2025 änderte sich die Lage dramatisch. Indien startete unter dem Codenamen »Operation Sindoor« Luftangriffe auf Ziele in Pakistan und im von Pakistan kontrollierten Teil Kaschmirs – als Reaktion auf den Anschlag in Pahalgam, bei dem 26 hinduistische Tourist*innen getötet wurden. Pakistan bezeichnete die Angriffe als »Kriegsakt« und meldete den Abschuss mehrerer indischer Jets sowie eigene Luftschläge auf indische Militärstellungen. Die Zahl der zivilen Opfer stieg. Internationale Appelle zur Deeskalation verhallten.
Drohung mit dem Wasserhahn
Was eben noch mit Humor verarbeitet wurde, wirkt plötzlich wie der Versuch, sich an etwas wie Normalität zu klammern. Aus Memes wurde Militärlogik– nicht, weil die Menschen keine Witze mehr machen, sondern weil der Diskurs über das Internet hinweg von Humor zu Härte kippte: Raketen statt Reels, Kriegsrhetorik statt kulturellem Austausch.. Und wer zwischen zwei Atommächten lebt, weiß: Es braucht nicht viel, bis aus einem Social-Media Post ein Grabstein wird.
Kaschmir ist kein gewöhnlicher Territorialkonflikt. Es geht um Nationenbildung, strategische Kontrolle – und ganz wichtig: um Wasser. Nach der Teilung Britisch-Indiens 1947 entschied sich der mehrheitlich muslimische Fürstenstaat Jammu und Kaschmir für den Anschluss an Indien – unter militärischem Druck, nachdem pakistanisch unterstützte Kämpfer ins Land eingedrungen waren. Daraus entwickelte sich ein andauernder Krieg um Grenzen, Zugehörigkeit und politische Souveränität. Die Waffenstillstandslinie, heute LoC oder Line of Control, teilt bis heute Familien, Dörfer und Lebenswege: Auf der einen Seite liegt das von Indien kontrollierte Jammu und Kashmir, das seit 2019 seinen Autonomiestatus verloren hat und direkt von Delhi regiert wird. Auf der anderen Seite befinden sich die von Pakistan verwalteten Gebiete Azad Jammu und Kashmir sowie Gilgit-Baltistan – offiziell »autonom«, faktisch stark unter Kontrolle des pakistanischen Militärs.
Was selten mitgemeint wird, wenn heute vom »Kaschmir-Konflikt« die Rede ist: Pakistan ist vom Wasser des Indus abhängig, der durch indisch kontrolliertes Gebiet fließt. Der Indus-Wasservertrag von 1960, vermittelt durch die Weltbank, sollte diese Abhängigkeit entschärfen – doch neue Staudammprojekte Indiens schüren seit Jahren Misstrauen. Die aktuelle Aussetzung des Vertrags durch Delhi ist deshalb mehr als ein symbolischer Akt. Es ist eine Drohung mit dem Wasserhahn – und ein Machtmittel, das angesichts der Klimakrise noch an Schärfe gewinnt.
Auch wirtschaftlich ist Kaschmir längst nicht nur »Naturidyll«, sondern geopolitisch bedeutsam: Der chinesisch-pakistanische Wirtschaftskorridor (CPEC) verläuft durch Gilgit-Baltistan – ein Gebiet, das ebenfalls zu Kaschmir gehört. Für Indien ist das ein strategisches Ärgernis, für China ein Investitionsfaktor. Gleichzeitig öffnen sich in Jammu und Kashmir neue touristische wie extraktive Märkte – Land, Wasser, Rohstoffe. Der Zugriff darauf folgt einer neoliberalen Logik: Der Ausnahmezustand schafft erst die Bedingungen, unter denen Land enteignet, Zugang begrenzt und Profit generiert werden kann. Kaschmir ist dabei nicht Ausnahme, sondern Blaupause für die ganze Region.
Labor für Ausnahmezustände
Der Kaschmir-Konflikt kennt viele »Hochzeiten«: den ersten Krieg 1947/48, einen zweiten 1965, den Kargil-Krieg 1999 – aber auch stille Gewalt: Ausgangssperren, Internet-Blackouts, willkürliche Verhaftungen, Entführungen. Besonders seit 2019, als die Regierung unter Modi den Sonderstatus von Jammu und Kashmir aufhob, der dem Bundesstaat eine gewisse politische Autonomie zugesichert hatte, ist die Region zu einem Labor für Ausnahmezustände geworden.
Parallel dazu verschärft sich seitdem der Konflikt durch das Auftreten bewaffneter Gruppen wie Lashkar-e-Taiba oder der aktuell aktiven TRF (The Resistance Front). Ihre Rolle ist umstritten – viele sehen sie als Stellvertreter pakistanischer Interessen. Für viele Kaschmiris sind sie allerdings oft die einzigen Akteure, die überhaupt noch politische Wirklichkeit erzeugen. Zwischen indischem Militarismus, islamistischem Jihadismus und internationaler Ignoranz bleibt ihnen nicht viel Raum.
Der Anschlag in Pahalgam am 3. Mai 2025 war nicht der erste – aber einer der folgenreichsten. Dass Tourist*innen Ziel wurden, war kein Zufall: Die indische Regierung hat in den letzten Jahren massiv in den Tourismus in Kaschmir investiert – als Teil ihrer Strategie, Normalität zu inszenieren. Die TRF bekannte sich zum Anschlag, Indien antwortete mit Luftschlägen. Pakistan schlug zurück. Und Delhi kündigte den Indus-Wasservertrag auf.
Dass die Lage so eskalieren konnte, liegt auch an einer globalen Schieflage. Die Welt hat sich an Krisen im globalen Süden gewöhnt. Solange der Konflikt nicht direkt Europa oder die USA betrifft, überlässt man die Dinge sich selbst – und stärkt damit indirekt jene, die Eskalation kalkulieren.
Kaschmir ist nicht einfach »umstritten«. Kaschmir ist koloniales Erbe, modernisierte Gewalt und geopolitisches Faustpfand zugleich.
Kaschmir ist nicht einfach »umstritten«. Kaschmir ist koloniales Erbe, modernisierte Gewalt und geopolitisches Faustpfand zugleich. Als 1947 die Briten abzogen, ließen sie eine Landkarte zurück, die kein Mensch bewohnen kann, ohne verletzt zu werden. Grenzen wurden gezogen, ohne Völker zu hören. Und seitdem sprechen alle über Kaschmir – nur selten mit denen, die dort leben.
Keine militärische Lösung
Dass heute wieder Raketen fliegen, zeigt: Die alte Logik der Macht ist nie verschwunden. Aber der Konflikt um Kaschmir wird sich nicht militärisch lösen lassen. Wer von Frieden spricht, muss mehr tun als vermitteln. Es braucht eine Abkehr von nationalistischen Fantasien, die Rückgabe demokratischer Rechte an die Bevölkerung – und eine kritische Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe, das dieses Grenzregime überhaupt erst geschaffen hat.
Vor allem aber braucht es eine klare Benennung dessen, was den Konflikt wirtschaftlich antreibt: kapitalistische Interessen an Land, Wasser und Kontrolle. Solange Kaschmir nur als Sicherheitsproblem oder Ressourcenstandort verhandelt wird, bleibt Gerechtigkeit eine leere Hülle. Wer hier wirklich Frieden will, muss nicht nur Entmilitarisierung fordern – sondern Enteignung rückgängig machen, koloniale Besitzverhältnisse brechen und eine Welt jenseits von Profitorientierung denken. Alles andere wäre wieder nur Verwaltung des Unrechts.