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|ak 717 | Deutschland

Im Klammergriff 

Linke sollen verteidigen, wem sie mit gesunder Skepsis gegenüberstehen – muss das sein?

Von Nelli Tügel

Man sieht acht Personen in roten Roben im Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.
Bitte beschützen, damit sie uns später verbieten können, oder wie? Karlsruher Bundesverfassungsrichter*innen. Foto: Schaack, Lothar / Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0

Derzeit kursiert immer mal wieder ein Zitat in den Sozialen Medien, das von dem KPDler und früheren Bundestagsabgeordneten Max Reimann stammt. »Wir unterschreiben nicht«, erklärte der 1949 anlässlich der Einführung des Grundgesetzes. »Es wird jedoch der Tag kommen, da wir Kommunisten dieses Grundgesetz gegen die verteidigen werden, die es angenommen haben!«

Die erste Pointe dieser Geschichte ist, dass nur wenige Jahre später das höchste westdeutsche Gericht mit Verweis auf das Grundgesetz Reimanns Partei mit einem Verbot belegte. Die zweite Pointe ist eine späte, sie spielt in diesen Tagen: Denn das Reimannsche Zitat wurde zuletzt auch bemüht, um von links einen Vorgang zu kommentieren, der die Besetzung eben jenes höchsten Gerichts, des Bundesverfassungsgerichts, betrifft, das die Einhaltung des laut KPD eines Tages zu verteidigenden Grundgesetzes überwacht und das diese dann als »verfassungswidrig« auflöste.

Ins Bundesverfassungsgericht jedenfalls sollte die Rechtswissenschaftlerin Frauke Brosius-Gersdorf entsandt werden – auf Vorschlag der SPD. Der Rest ist bekannt: Eine von rechtskonservativen Kräften lancierte und mit zahlreichen Lügenbehauptungen geführte Schmutzkampagne, an der sich auch Abgeordnete der CDU beteiligten, ließ kurz vor der parlamentarischen Sommerpause die Einigung der Regierungskoalition auf die Kandidatin platzen. Inzwischen hat diese erklärt, nicht mehr für das Amt zur Verfügung zu stehen. Wie es da nun weitergeht: offen. 

Eine solche aufgezwungene Bescheidenheit, das Sich-Zufriedengeben mit einem gegen rechts zu verteidigenden Status quo verweist auf ein grundsätzliches Problem unserer Zeit.

Und: Für Linke eigentlich auch einigermaßen uninteressant. Ganz ehrlich, wer von uns hat sich jemals für die Besetzung des Bundesverfassungsgerichts interessiert oder kannte bisher auch nur eine*n der dort tätigen Richter*innen? Schon klar, wir haben mit Schrecken u.a. verfolgt, wie nach gezielter Verschiebung der Kräfteverhältnisse im Supreme Court der USA das Abtreibungsrecht dort gekippt wurde – allerdings haben feministische US-Aktivist*innen stets kritisiert, dass sich die Demokratische Partei auf Roe v. Wade ausgeruht und auf den Supreme Court verlassen hatte, statt den Kampf um Abtreibungsrechte weiterzutreiben. 

Eine solche aufgezwungene Bescheidenheit, das Sich-Zufriedengeben mit einem gegen rechts zu verteidigenden Status quo verweist auf ein grundsätzliches Problem unserer Zeit, das in der Brosius-Gersdorf-Geschichte erneut zum Vorschein kommt: Nicht nur haben Rechte es geschafft (wie schon bei diversen Grünenpolitiker*innen in den vergangenen Jahren), völlig faktenfrei, aber leider erfolgreich die Behauptung zu verbreiten, eine eher rechtssozialdemokratische und wirtschaftsliberale Juristin habe irgendwas mit radikal links zu tun. Auch waren Linke – radikale wie gemäßigte – aufgerufen, sich vor eine Person und eine Institution, das Bundesverfassungsgericht, zu stellen, der und dem gegenüber unsereins aus guten Gründen Desinteresse bzw. eine gesunde Skepsis pflegt. 

Ist das wirklich alternativlos? Mag sein, immerhin kann man es den Rechten nicht unkommentiert durchgehen lassen, wenn sie eine Kandidatin wie die Sau durchs Dorf jagen, weil diese es für möglich hält, dass eine Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen bis zur zwölften Woche mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

Zugleich muss, wer eine Linke will, die mehr tut als sich am Rockzipfelchen von Grünen und SPD festzuhalten, auch erkennen, dass die unheilvolle Klammer, in die wir derzeit immer wieder hineingedrängt werden, von zwei Seiten aus zugreift: Die Rechten, insbesondere die AfD, möchten als einzige Anti-Establishment-Kraft, als einzig echte Opposition gelten. Deshalb drängen sie Linke – sowohl die Linkspartei, als auch die gesellschaftliche Linke – zu jeder sich bietenden Gelegenheit in die Rolle der Verteidigerin des Ist-Zustandes. Doch – seien wir ehrlich – auch Grüne, SPD und die liberalen Teile der Union brauchen keine radikale Dissidenz von links und profitieren davon, dass die einzige Brandmauer derzeit zwischen AfD und allen anderen Parteien und gesellschaftlichen Strömungen verläuft. Weil linke Systemkritik so immer schön weiter eingeebnet wird, bis nix mehr von ihr zu erkennen sein wird.