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Was ist Befreiung?

Mit dem Angriff der Hamas wurde Dekolonisierung zu einem umstrittenen Begriff, aber hilft er, den neuen Krieg zu verstehen?

Von Robert Heinze

Foto von einem Demoplakat. Darauf steht "Decolonize Palestine, Colombia, Kurdistan, Everywhere"
Eine Analysebrille für alle globalen Konflikte. Ob das die Sicht schärft? Ana Mendes / Flickr, CC BY-SA 2.0

Was habt ihr denn gedacht, was Dekolonisierung bedeutet? Vibes? Essays? Loser«, tweetete Najma Sharif am 7. Oktober, noch während das Massaker der Hamas in an den Gazastreifen angrenzenden israelischen Städten und Kibbuzim im Gang war. Die freie Journalistin war nicht die einzige, die in der brutal entgrenzten Gewalt gegen die israelische Zivilbevölkerung eine nicht nur verständliche, sondern begrüßenswerte und befreiende Aktion sah, die sich in eine lange Tradition antikolonialer Aufstände einreihe. Viele Posts in den sozialen Medien zogen die gleiche Parallele. Viele nahmen Variationen eines berühmten Zitats zu Hilfe, um die Brutalität des Angriffs zu rechtfertigen. Das Original lautet: »Der Kolonialismus ist keine Denkmaschine, kein vernunftbegabter Körper. Er ist die Gewalt im Naturzustand und kann sich nur einer noch größeren Gewalt beugen.«

Das Zitat stammt von Frantz Fanon, aus seinem berühmtesten Buch »Die Verdammten dieser Erde«. Der Stichwortgeber der antikolonialen Befreiungsbewegungen analysiert darin die koloniale Situation und reflektiert über die Notwendigkeit revolutionärer Gewalt. Dadurch wurde das Buch zu einem zentralen Text für antikoloniale Bewegungen in Afrika, antiimperialistische Aktivist*innen in Europa und für folgende philosophische Schulen, vor allem die postkoloniale und dekoloniale Theorie. Sie alle machten und machen Dekolonisierung zu ihrem zentralen Ziel und Thema. Allerdings besteht große Uneinigkeit darüber, was das eigentlich bedeutet.

Fanons dekolonisiertes Algerien sollte eines sein, in dem auch europäische Minderheiten und die algerischen Jüdinnen und Juden Teil einer befreiten Gesellschaft wären.

Historisch wird Dekolonisierung üblicherweise mit der Periode ab 1945 assoziiert, als die modernen kolonialen Imperien sich aufzulösen begannen. In der Zeitgeschichte ist es inzwischen üblich, die Dekolonisierung neben dem Kalten Krieg als wichtigsten globalen Prozess der Nachkriegszeit zu analysieren. Dabei wird sie meistens als politischer Prozess verstanden: Antikoloniale Massenbewegungen, die nach den beiden Weltkriegen aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen – streikende Arbeiter*innen, bürgerliche politische Clubs, aufständische Bäuer*innen – entstanden waren, organisierten sich in Parteien, die mehr und mehr politische Beteiligung einforderten, mit dem Ziel der nationalen Unabhängigkeit. Dieser Prozess war tatsächlich nur in relativ wenigen Fällen gewaltsam im Sinne eines militärischen Befreiungskampfes. Die meisten Staaten Afrikas erlangten ihre Unabhängigkeit mit politischen Mitteln. Kwame Nkrumah, der erste Staatschef Ghanas, formulierte den oft zitierten Satz: »Trachtet zuerst nach dem politischen Reich, so wird euch alles andere zufallen«, eine Anspielung auf den Bibelvers Matthäus 6:33.

Die historische Forschung spricht aber heute über Dekolonisierung nicht mehr als ein Ereignis oder Bruch, sondern als Prozess. Ein lang andauerndes, mehrere Dynamiken, Ereignisse und unterliegende Faktoren vereinigendes Geschehen, das mit der formalen Erlangung der Unabhängigkeit nicht abgeschlossen war. Auch werden heute wieder stärker frühere Dekolonisierungsprozesse analysiert, vor allem die »atlantischen Revolutionen« in den USA, Lateinamerika und der Karibik im 18. und 19. Jahrhundert.

Unvollendete Revolution

Nkrumah musste bald nach der Unabhängigkeit Ghanas erkennen, dass ihm eben nicht »alles andere« zufiel. In seinem Buch über den »Neokolonialismus« stellte er fest, dass die unabhängigen Staaten zwar formal souverän waren, in Wirklichkeit aber stark eingeschränkt in ihren Handlungsmöglichkeiten. Neben der strukturellen ökonomischen Abhängigkeit ist das bis heute in konkreten politischen Arrangements wie Handelsabkommen, Freihandelszonen oder Währungskontrolle spürbar. Beispielsweise zahlen einige westafrikanische Staaten mit der Währung Franc CFA, die an die  französische Zentralbank gekoppelt ist; informelle Netzwerke wie die berüchtigte Françafrique begrenzen die Souveränität postkolonialer Staaten. Es existieren auch heute noch Kolonien. Neokolonialismus oder neue Formen des Imperialismus werden meistens als neue Probleme verstanden, gehören aber zum Komplex der Dekolonisierung. Kulturell spricht man heute oft davon, dass sich die ehemaligen Metropolen selbst dekolonisieren müssen. Das zeigen Diskussionen wie die um ein Gesetz in Frankreich, dass die »positive Rolle« der Kolonialherrschaft in den Schulbüchern verankern sollte, sowie die Debatten um Restitution, Kolonialdenkmäler oder die Erinnerung an die brutalen Kolonialkriege vom Genozid an den Herero und Nama zum Aufstand der Mau Mau.

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Vertreter*innen der post- und dekolonialen Theorie betonen ebenfalls die Notwendigkeit einer kulturellen Dekolonisierung, auch in den ehemaligen Kolonien. Wie diese genau aussehen soll, bleibt dabei oft unbestimmt. Die postkoloniale Theorie will vor allem die Konstruktion des kulturell »Anderen« in der westlichen (kolonialen) Philosophie und Kultur thematisieren und dabei vor allem die moderne Vermischung postkolonialer Kulturen aufzeigen. Die dekoloniale Theorie geht einen Schritt weiter und verbindet Modernität und »Kolonialität«, das heißt, die Kontinuität und Dominanz kolonialer Wissensordnungen. Dekolonisierung richtet sich in diesem Verständnis explizit gegen eine als westlich verstandene Moderne. Was diese ersetzen soll – lokale Kulturen, vorkoloniale Ideen oder alternative Modernen – bleibt allerdings meistens unklar.

Der nigerianische Philosoph Olúfémi Táíwò kritisiert das scharf. Afrikaner*innen hätten sich in der historischen Dekolonisierung nicht von der »westlichen« Moderne abgewendet, sondern sie für sich eingefordert und in kulturpolitischen Bewegungen wie der »Négritude« auch genuin (pan-)afrikanische kulturelle Modernen entwickelt. Táíwò kritisiert einen allzu breiten Begriff von Dekolonisierung, der alle möglichen Phänomene umfassen kann – vom Abriss kolonialer Statuen bis hin zum Kampf gegen überbordende Bürokratie oder gegen die Neoliberalisierung der Universität. Wenn, so Táíwò, alles, was man kritisiert, ohne Begründung als kolonial verstanden wird, verliert der Begriff der Dekolonisierung nicht nur jegliche Konkretheit; vor allem werden dabei Afrikaner*innen selbst als handelnde und gestaltende historische Subjekte ausgeblendet.

Gewalt und Gegengewalt

Alle diese verschiedenen Aktivist*innen, Autor*innen und Strömungen berufen sich auf Frantz Fanon, den sie unterschiedlich interpretieren und auf aktuelle Konstellationen des Rassismus und Neokolonialismus anwenden. Theoretiker wie Paul Gilroy und Kevin Ochieng Okoth beklagen schon länger, dass Fanons Humanismus und sein Blick auf revolutionäre Praxis von psychoanalytischen Lesarten im Gefolge postkolonialer Theorien verschüttet wurden. Ironischerweise sind es gerade diese Lesarten, die seine Reflexionen über die antikoloniale Gewalt auf ihre psychologisch »reinigende« Wirkung reduzieren. Dieser Blickwinkel führt dazu, dass er zur Rechtfertigung noch der übelsten Grausamkeiten herangezogen werden kann.

Fanon spricht nicht einfach von Gewalt. Es geht ihm um eine sehr konkrete Diskussion der revolutionären Gewalt am Beispiel des Algerienkriegs, an dessen Ende die französische Kolonialmacht abzog. Die antikoloniale Gegengewalt ist notwendig, aber nicht um ihrer selbst willen. Deshalb interessierte Fanon, wie diese Gewalt organisiert sein muss. Der jüdische Intellektuelle und Holocaustüberlebende Jean Améry erkannte das in seiner Fanon-Lektüre: »Repressive Violenz blockiert den Weg zur Selbstwerdung des Menschen; revolutionäre bricht die Blockade, verweist und führt in die mehr als zeitliche, nämlich die historisch-humane Zukunft.« In seinem Kapitel über die Gewalt beschreibt Fanon zuerst einmal die koloniale Gewalt, die die Kolonisierten entmenschlicht. Sie wiederum erkennen, dass sie ihre Humanität nur durch selbstermächtigende Gegengewalt wiederherstellen können.

Aber im darauffolgenden Kapitel spricht Fanon von dem Problem der Spontaneität dieser Gewalt. Die spontane Gegengewalt muss politisch werden, um es den Kolonisierten zu ermöglichen, ein revolutionäres Bewusstsein zu entwickeln. »Man kann nicht einen Krieg durchstehen, eine ungeheure Unterdrückung ertragen, den Verlust der ganzen Familie erleben, um dann Hass oder Rassismus siegen zu lassen.« Dass die revolutionäre Gewalt nötig ist, feiert Fanon nicht. Er stellt es fest und schließt Überlegungen an, wie diese Gegengewalt gesteuert werden muss, um das Ziel zu erreichen: nämlich die Wiederherstellung der Humanität von Kolonisierten und Kolonisierenden.

Kette der Traumata

Fanons radikaler Humanismus wurde, so Gilroy, in der postkolonialen Theorie ausgeblendet und als naiv betrachtet. Er ist aber entscheidender Bestandteil seines Werks. Fanon romantisiert Gewalt nicht. Als Psychiater, der Täter und Opfer von Folter und Gewalt, Siedler*innen und Kolonisierte, behandelte, war er sich der furchtbaren, traumatisierenden Konsequenzen der Gewalt nur allzu bewusst. Nicht von ungefähr besteht das letzte Kapitel von »Die Verdammten dieser Erde« aus psychiatrischen Fallgeschichten. Für Fanon, schreibt Achille Mbembe, ziele die Gewalt vor diesem Hintergrund »auf die Schaffung neuer Lebensweisen.« Weil sie unberechenbar ist, trägt sie die Gefahr in sich, unbeherrschbar zu werden, deshalb muss diese Gewalt gesteuert werden. Fanons dekolonisiertes Algerien sollte eines sein, in dem auch europäische Minderheiten und die algerischen Jüdinnen und Juden Teil einer befreiten Gesellschaft wären.

Auch Autoren wie Adam Shatz oder der Historiker Mark LeVine, die das Vorgehen Israels in der Westbank und Gaza in den kolonialen Kontext mit seinen Politiken der Segregation und Landnahme stellen, argumentieren, Fanons Verständnis antikolonialer Gewalt sei nicht einfach auf das heutige Palästina übertragbar. Weder könne Israel die Hamas mit Bomben loswerden, noch Palästinenser*innen einen »Befreiungskrieg« wie in Algerien gewinnen. Anstatt dass sich Palästinenser*innen durch antikoloniale Gewalt von der »kolonialen Neurose« befreiten, habe der »Zyklus« von Gewalt und Gegengewalt zu einer »Übertragung des Traumas« geführt. Eine Kette, in der von der israelischen Armee gefolterte Fatah-Mitglieder selbst Hamas-Angehörige folterten, die das gleiche in Gaza wiederholten: »Und jetzt sehen wir das mit Menschenmengen, die entführte, geschlagene und ermordete Israelis bejubeln«, so LeVine auf der Website von Al Jazeera. Die Gewalt der Hamas ist nicht die revolutionäre Gewalt der Dekolonisierung: Sie ist die Gewalt des Pogroms.

Robert Heinze

ist Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut Paris und forscht zur Zeitgeschichte Afrikas.

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